Dem Fortschritt hinterher
Ich bin ein typisches Kind des goldenen sozialdemokratischen Zeitalters. In den ländlichen Arbeiterfamilien war meine Generation die erste, die eine Universität von innen sah. Meine Großmutter hatte sich noch als junge Frau als Dienstmädchen verdingt; mein Großvater lieferte Milch aus. Der große Bildungsaufbruch der siebziger Jahre hat meine Generation an die Gymnasien und die Universitäten gespült. Von dort haben wir Arbeiterkinder dann verschiedene Karrierepfade eingeschlagen: als Beamtinnen im höheren Dienst, als Ingenieure oder als Wissenschaftlerinnen. Wir haben die Enge unserer Dörfer und Kleinstädte hinter uns gelassen und versuchen nun, unseren Kindern ebenfalls den Weg in eine sichere Zukunft zu ebnen.
Doch auch meine Generation ist mit Zukunftsängsten aufgewachsen. Zu meiner Studienzeit Ende der achtziger Jahre hießen die Schlagwörter „Waldsterben“, „Nato-Doppelbeschluss“ und „Zweidrittelgesellschaft“. Der Wald war unheilbar krank, und der Rhein stand kurz vor dem Exitus. Europa war nuklear hochgerüstet und Deutschland das Schlachtfeld, auf dem der Atomkrieg ausgetragen werden würde. Dass ein Drittel der Gesellschaft nicht teilhabe an Arbeitsmarkt und sozialer Sicherheit, versicherten uns die Soziologen. Ich fuhr nach Bonn zur großen Friedensdemonstration und trauerte um den Wald.
Schon damals passten die Gesellschaftsdiagnosen und unsere persönlichen Erfahrungen nicht zusammen. Wir eroberten die Welt durch Reisen, Auslandssemester und später mithilfe des Internets. Trotz Zweidrittelgesellschaft und der „geistig-moralischen Wende“ der Regierung Helmut Kohl fanden die meisten von uns einen ganz komfortablen Platz in der Gesellschaft. Letztlich fanden auch die Horrorszenarien der Gegenwartsdiagnosen nicht statt: Der Wald erholte sich, und die Mauer fiel. Atomwaffen wurden verschrottet. Die Zweidrittelgesellschaft geriet in Vergessenheit, bis sie in den Auseinandersetzungen um die Hartz-Gesetze wieder ausgegraben wurde. Der „Generation Easyjet“ meiner Kinder liegt die Welt sprichwörtlich zu Füßen.
Alte Zukunftsängste wurden durch neue ersetzt. Heute sind es Klimawandel, islamistischer Terror, NSA und soziale Ungleichheit. Diese Ängste sind nicht weniger und nicht mehr real als die der achtziger Jahre. Natürlich verweisen Gegenwartsdiagnosen auf wichtige Probleme. Der fundamentale Wandel unserer Gesellschaften findet jedoch anderswo statt.
In Wahrheit kommt der Fortschritt meist unbemerkt daher, während wir damit beschäftigt sind, Bedrohungsszenarien an die Wand zu malen. Der wichtigste Strukturwandel moderner westlicher Gesellschaften besteht in der stetig zunehmenden Ausbreitung säkularer und individualistischer Werte. Die Wertschätzung des Individuums mit all seinen Eigenheiten hat heute fast alle einschränkenden gesellschaftlichen und religiösen Normen zurückgedrängt. Keine ernstzunehmende politische Kraft bezweifelt noch die vollständige Gleichwertigkeit von Männern und Frauen. Offene Homosexualität und die Gleichbehandlung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften sind universelle Normen. Trans- und Intersexualität werden thematisiert. Fast jeder Lebensstil und fast jede religiöse Orientierung werden gesellschaftlich toleriert – und sehr viele werden akzeptiert. Jeder kann sich von Kopf bis Fuß tätowieren lassen und ins Schwimmbad gehen. Jede Form noch so provokativer Kunst kann in westlichen Museen ausgestellt werden.
Die heftigen Angriffe auf diese Freiheiten durch Rechtsextreme und Neonazis, die AfD, selbsternannte Patrioten und islamistischen Terror unterstreichen die fundamentale Dimension der gesellschaftlichen Säkularisierung und Individualisierung. Sie repräsentieren einen Teil der Gesellschaft, der sich mit der Moderne nicht anfreunden kann und der über konservative oder religiös eingefärbte Argumente hofft, das Rad der Geschichte wieder zurückdrehen zu können.
In einer säkularen Welt wird dies nicht gelingen. In westlichen Gesellschaften ist Religion schon lange keine gesellschaftliche Struktur mehr, sondern primär private Lebenshilfe. Wir lassen uns von Kirchen in unserem alltäglichen Handeln nicht beeinflussen. Kein Dekret
des Papstes verhindert Ehebruch. Die Schwäche der Kirchen macht den Protest der extremistischen Kreise umso volatiler und gewalttätiger. Daher tragen die Rückzugsgefechte traditionalistischer Kampfgruppen so hässliche Züge.
Fortschritt in diesem Sinne bedeutet, dass wir die offene Gesellschaft festigen. Das nächste große Ziel ist die reale und nicht nur ideelle Gleichwertigkeit der unterschiedlichen Lebensentwürfe. Orthodoxe Religionsgemeinschaften müssen einen Platz in modernen Gesellschaften haben, nicht aber ihre Normen, die den Einzelnen einschränken und einschüchtern. Zudem sollten in einer säkularen Gesellschaft wie der deutschen jene Lebensentwürfe, die sich häuslicher Arbeit mit Kindern, Pflegebedürftigen und Älteren verschrieben haben, neu bewertet und wertgeschätzt werden. Wir sind zu sehr auf Produktivität fixiert, während unsere Lebensqualität eine zu geringe Rolle spielt. Das ist die nächste große Baustelle.
Für die Politik ist die Bewahrung des gesellschaftlichen Fortschritts ein kontinuierlicher Prozess des Austarierens unterschiedlicher Werte. Mit welchen Personen wir unser Leben verbringen, ob und zu welchem Gott wir beten und welche sexuellen Vorlieben wir haben, wird langfristig politisch keine Rolle spielen. Diese Unterscheidung zu leben und dafür einzustehen, ist der Fortschritt unserer Zeit.