Der lange Marsch
Literarische Porträts von Parlamentariern haben in der Bundesrepublik eine lange Tradition – von Wolfgang Koeppens berühmtem Roman Das Treibhaus (1953) bis zu Roger Willemsens feinsinniger Beschreibung des Bundestages Das hohe Haus (2014). Zwei anders geartete Bücher setzen diese Tradition nun fort. Beide nehmen Abgeordnete des Bundestages verschiedener Parteien mit Migrationshintergrund in den Blick. In der laufenden Legislaturperiode sitzen 37 Abgeordnete mit einer solchen Biografie im Bundestag – so viele wie nie zuvor. Dabei handelt es sich aber nur um 6 Prozent der Mitglieder des Bundestages, obwohl 21 Prozent aller Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund haben.
Der deutsch-türkische Bildungspolitiker Özcan Mutlu von den Grünen gab Ende 2016 den Sammelband Politik ohne Grenzen heraus. Der Bundestagsabgeordnete konnte 22 der 37 Bundestagsabgeordneten mit Migrationshintergrund für autobiografische Beiträge gewinnen. Entstanden ist ein Band mit sehr persönlichen Geschichten. Es geht um ihre Familiengeschichte, Erfahrungen von Ausgrenzung und das Zugehörigkeitsgefühl zu Deutschland. Und die Autorinnen und Autoren schildern, wie sie durch politische Erfolge ermutigt werden, sich dennoch weiter einzumischen.
So individuell die Lebensläufe auch sind – die Selbstbeschreibungen der 22 Abgeordneten weisen in Bezug auf ihre Migrationsidentität und ihre politische Agenda zwei Grundmuster auf. Die Mitglieder der einen Gruppe haben ihr „Anderssein“ biografisch kaum gespürt. So schreibt der SPD-Außenpolitiker Niels Annen, dessen Mutter in Antwerpen geboren wurde: „Meine teilweise ‚ausländische Herkunft‘ war – anders als für meine Schulfreunde mit afghanischen und iranischen Eltern – kein Thema. Im Gegensatz zu ihnen erlebte ich auch nie Diskriminierung.“
Ganz anders erging es jenen, deren Eltern als Arbeiter, als Geflüchtete oder als Muslime nach Deutschland gekommen waren. Die Grünen-Politikerin Ekin Deligöz zog 1979 mit ihrer Mutter nach Neu-Ulm. Ihr Anderssein prägte sie früh: „Unsere Lehrer unterrichteten uns auf Türkisch, nach dem türkischen Lehrplan, in einem eigenen Schulflügel. Selbst die Pausenhöfe der türkischen und der deutschen Schüler waren getrennt. … Ich erinnere mich, wie wir an den dazwischen angebrachten Gittertoren hingen, um einen Blick auf die deutsche Welt zu werfen.“
Der Zweite Weltkrieg als familiäre Zäsur
Auch was die Beweggründe für ihr politisches Engagement angeht, lassen sich die 22 Autoren in zwei Gruppen einteilen: die einen haben eher eine außenpolitische und die anderen eine stärker gesellschaftspolitische Motivation. Vor allem für jene mit „westlichem“ Migrationshintergrund wie SPD-Familienministerin Katarina Barley, deren Vater Brite ist, oder CDU-Politikerin Gitta Connemann, deren Mutter aus den Niederlanden stammt, ist die Einheit Europas ein zentraler Antrieb. Häufig bedeutete der Zweite Weltkrieg für deren Familien eine Zäsur. Für die Abgeordneten dieser Gruppe ist das Thema Integration mit einer positiven Europa-Erfahrung verbunden. Connemann: „Wer das gegenseitige Verständnis für gegeben annimmt, der tritt es mit Füßen. … Persönliche Begegnungen müssen weiterhin stattfinden. Nichts wäre schlimmer für unsere Region als eine erneute Entfremdung der Nachbarn.“
Bildung ist Einstieg und Brücke
Hingegen sind diejenigen Abgeordneten, die mit ihren Familien in den sechziger Jahren als Arbeitsmigranten nach Deutschland kamen, häufig stark gesellschaftspolitisch motiviert. Für sie stehen Themen wie Bildungsgerechtigkeit und Aufstiegschancen im Fokus – nicht zuletzt aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen. Özcan Mutlu etwa hatte Glück, dass er in seiner Schule in Berlin eine engagierte Lehrerin hatte, die an ihn glaubte. Er fordert: „Wer einen sozialen und demokratischen Staat will, wer Teilhabe und Integration will, muss sich für Bildungsgerechtigkeit einsetzen. Bildungserfolg darf keine Frage des Zufalls oder des Geldbeutels sein. Bildung ist der entscheidende Hebel auch gegen Diskriminierung und Intoleranz.“ Seine Forderung findet sich in ähnlicher Form auch in vielen der übrigen Beiträge wieder: Bildung ist Einstieg und Brücke zum Aufstieg.
Diese Glaubwürdigkeit aus dem eigenen Leben heraus wird auch in der noch nicht abgeschlossenen Diskussion über das Einwanderungsland Deutschland und die Zukunft von Staatsbürgerschaft gebraucht werden. Ekin Deligöz schreibt: „Für viele von uns ist es deshalb eine Brücke, die doppelte Staatsbürgerschaft anzustreben. Ängste nehmen, aber sich öffnen für Neues. Die Tatsache, dass viele in der Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft den Antragstellern mangelnde Loyalität unterstellen, ist noch heute ein Ausdruck der Unkenntnis darüber, in welcher Situation viele von uns sich befinden.“
Während die Beiträge in Politik ohne Grenzen zum Vergleichen und Analysieren einladen, ist die monografische Erzählung Mit Karamba in den Bundestag – mein Weg vom Senegal ins deutsche Parlament des Bundestagsabgeordneten Karamba Diaby und der Redakteurin Eva Sudholt von anderer biografischer Tiefe und Komplexität. Diaby ist aufgewachsen als Waisenkind in Afrika, ehemaliger Student in der DDR, Familienvater und Hallenser aus Leidenschaft, Wissenschaftler und Freund des deutschen Kleingartenwesens, Aktivist gegen Rassismus und für Integration, ehemaliger Stadtpolitiker und seit 2013 erfolgreicher SPD-Bundestagsabgeordneter. Mit großer Erzählfreude und einer ganz eigenen Sprache, mit viel Sinn für das Anekdotische und Witzige genauso wie für das systemische Moment und die strukturellen Widerstände entfalten Diaby und Sudholt ein Leben, das Welten verbindet und daraus Kraft und Selbstbewusstsein gewinnt. Erfrischend ist hierbei die Direktheit, mit der sich Karamba Diaby zum Thema Integration äußert: „Ich habe nie behauptet: Wenn es nur bunt genug ist, dann wird alles gut. Nein, Vielfalt ist nicht Friede, Freude, Eierkuchen. Es gibt immer Reibereien. Die Herausforderung besteht darin, damit umzugehen.“ Das Buch ist auch deshalb so gut zu lesen, weil es ohne Missionierungsanspruch und Zeigefinger-Politik auskommt, aber elementare Menschlichkeit ausstrahlt und Lust auf Verantwortung vermittelt.
Wie uns die Migration bereichern kann
Dass der „lange Marsch“ zu Erfolgen führen kann und die Gesellschaft verändern wird, zeigt der wachsende Konsens zwischen den Parteien darüber, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und ein Einwanderungsgesetz braucht. Dabei muss es das Ziel sein, für alle einwandernden Menschen eine reflektierte Auseinandersetzung mit ihrer Migrationsbiografie zu ermöglichen, wie sie von der kleinen und gewiss exzeptionellen Gruppe der Abgeordneten dokumentiert wird. Das würde nicht nur Respekt vor deren Identität und ihrer Entwicklung ausdrücken, sondern auch die Aufnahmegesellschaft in Deutschland bereichern.
Özcan Mutlu (Hrsg.), Politik ohne Grenzen: Migrationsgeschichten aus dem Deutschen Bundestag, Berlin/Kassel: B&S Siebenhaar Verlag 2016, 224 Seiten, 19,80 Euro
Karamba Diaby mit Eva Sudholt, Mit Karamba in den Bundestag: Mein Weg vom Senegal ins deutsche Parlament, Hamburg: Hoffmann und Campe 2016, 224 Seiten, 20 Euro