Der soziale Rechtsstaat und seine Feinde

Der Sozialstaat ist bedroht - durch jene, die ihn abschaffen wollen und durch andere, die sich am Status quo festklammern. Sozialdemokraten müssen verändern, um zu bewahren - und dürfen dabei nicht verwechselbar werden

Der Sozialstaat erscheint heute vielen als Selbstverständlichkeit. Mancher ärgert sich über die mit ihm verbundenen Lasten, aber seine Vorzüge möchte im Bedarfsfall niemand missen. In Wirklichkeit ist der soziale Rechtsstaat durchaus nicht selbstverständlich. Er ist das Ergebnis langer politischer Kämpfe - und er ist in Gefahr. Gerade weil er nicht zerschlagen werden darf, muss er weiterentwickelt werden. Dabei helfen weder das leichtfertige Gerede der Neoliberalen noch das Geschrei der Verteidiger des Status quo. Gefragt sind Sozialdemokraten mit Herz und Verstand.


Nach Artikel 20 Absatz 1 des Grundgesetzes ist die Bundesrepublik "ein demokratischer und sozialer Bundesstaat". Und in Artikel 28 Absatz 1 heißt es: "Die verfassungsmäßige Ordnung der Länder muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen". Artikel 79 stellt den Grundsatz des Artikel 20 Absatz 1 neben Artikel 1 ("Die Würde des Menschen ...") sogar in den Rang einer unabänderlichen Verfassungsnorm. Doch im 53. Jahr nach der Verkündung des Grundgesetzes ist die Bedeutung des Sozialstaatsprinzips umstrittener denn je.


Die Formulierungen "sozialer Bundesstaat" und "sozialer Rechtsstaat" sind im Wesentlichen auf Vorschläge zurückzuführen, die der Sozialdemokrat Carlo Schmid im Parlamentarischen Rat machte. Der Begriff gründet auf Vorstellungen des sozialdemokratischen Staatsrechtlers Hermann Heller aus der Zeit der Weimarer Republik. Von Beginn an verpflichtete sich die Bundesrepublik demnach durch das Grundgesetz darauf, ein sozialer Staat zu sein - ein Sozialstaat eben. Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 hatte einen liberalen Rechtsstaat in Deutschland begründet. Doch Heller wollte bereits in den zwanziger Jahren mehr: "Die soziale Idee ist die folgerichtige Fortführung der politischen zur wirtschaftlichen Demokratie", schrieb er. "Die erste hat die politischen Stände beseitigt, die letztere wendet sich gegen die wirtschaftlichen Klassen." Der soziale Rechtsstaat materialisiert also das von den Liberalen nur postulierte Recht auf Freiheit - als tatsächliche Freiheit aller seiner Bürger vor Angst, vor Abhängigkeit und Unsicherheit. Freiheit ergibt sich aus der Solidarität der Starken mit den Schwachen, Freiheit soll zum unteilbaren und gleichen Recht aller auf Chancen werden.

Kohl diskreditierte das "Modell Deutschland"

Doch nicht nur als normatives Konstrukt ist diese Vorstellung ein Erfolg. Es war der soziale Rechtsstaat in Aktion, der die Bundesrepublik zu einer Erfolgsstory machte, die in den siebziger Jahren als "Modell Deutschland" weltweit bekannt und geachtet wurde. Es war dieser soziale Rechtsstaat, der die Klassengesellschaft überwinden half. Doch bereits in den fünfziger Jahren wurde die Vorstellung vom sozialen Rechtsstaat heftig angefeindet. Ernst Forsthoff etwa behauptete schon 1953, dass die Verschmelzung von Rechtsstaat und Sozialstaat unmöglich sei. Der Rechtsstaat sei immer an den Status quo gebunden, seine Funktion bestehe darin, ein "sichtbares Wertesystem" zu schützen. Man könne nicht gleichzeitig "jedermann in seinen Rechten schützen und zugleich in der Verfassung das Tor für soziale Umwälzungen offenhalten, die immer nur auf Kosten der anderen realisierbar sind".


Forsthoff hat Nachfahren. In den späten achtziger und neunziger Jahren formulierten Union und FDP eine Politik, die den sozialen Rechtstaat zusehends nicht mehr als Bedingung der Bewältigung gesellschaftlicher Probleme darstellte, sondern als das Problem selbst. Am Ende von 16 Jahren Kohl redete niemand mehr vom "Modell Deutschland". Der soziale Rechtsstaat war diskreditiert. Den einen galt er als zu starr und bewegungsunfähig, als unfinanzierbar und verfettet - die anderen beklagten die Grobmaschigkeit seines Netzes und kritisierten, dass er sein Versprechen nicht mehr einlöse.

Wer umbaut, muss das gut begründen

Es waren die Sozialdemokraten, die sich im Wahlkampf 1998 mit den beiden komplementären Begriffen "Innovation" und "Gerechtigkeit" in die positive Tradition des "rheinischen Kapitalismus" stellten, also der Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft als Alternative zum angelsächsischen Gesellschaftsmodell vertraten. Dieser Wahlkampf bedeutete damit einerseits ein Bekenntnis zur Verantwortung des Staates, soziale Sicherheit zu gewährleisten. Andererseits stand in den Jahren nach 1998 nicht der Ausbau sozialer Leistungen, sondern der Umbau des Sozialstaates im Mittelpunkt. Dessen Leistungsfähigkeit muss angesichts veränderter Rahmenbedingungen erhalten bleiben.


Es ist nicht zu leugnen, dass diese Politik in Teilen der sozialdemokratischen Anhängerschaft zu Irritationen geführt hat. Indiz dafür ist, dass die Deutschen der SPD am Beginn des Wahljahres 2002 in Umfragen in deren bisher unbestrittenen Kernkompetenz "Soziale Gerechtigkeit" erschreckend niedrige Werte zuwiesen. Dass die Sicherung der Handlungsfähigkeit des Staates und der Sozialversicherungssysteme die entscheidende Voraussetzung dafür ist, überhaupt eine Politik der sozialen Gerechtigkeit betreiben zu können - das zu vermitteln gelang vielerorts nicht. Deshalb kommt für die SPD viel darauf an, dass sie ihr Projekt, den Sozialstaat durch dessen Umbau zu sichern, trennscharf vom Projekt des sozialen Abbaus abgrenzt, wie es die Neoliberalen propagieren. Der Kanzler und die Parteiführung der SPD müssen die Regierungspraxis stärker in den Kontext sozialdemokratischer Werte und Ziele stellen. Diese Erkenntnis wird in der laufenden Kampagne sichtbar. Nicht von ungefähr verbindet Hans Eichel seine Politik der Haushaltskonsolidierung mit dem Satz: "Nur Reiche können sich einen armen Staat leisten".

Der einfache Weg führt nicht mehr zum Ziel

Auch über die kommende Bundestagswahl hinaus und unabhängig von deren Ausgang muss die SPD beharrlich daran weiterarbeiten, in programmatischer und semantischer Hinsicht Antworten auf diese Frage zu finden. Sie sollte unbedingt der Versuchung widerstehen, den vermeintlich einfachen Weg zu gehen. Sie darf sich eben nicht mehr mit symbolträchtigen Forderungen (Ausbildungsumlage, Vermögenssteuer und dergleichen) begnügen, die zwar einem harten Kern eigener Anhänger das Herz wärmen mögen, ihrer ureigenen Sache dagegen nicht dienlich sind. Anders als in manchen innerparteilichen Debatten der Vergangenheit muss jederzeit klar sein: Allein an ihren Zielen ist messbar, ob eine Politik sozialdemokratischen Grundwerten entspricht. Instrumente und Mittel sind nur dann "sozialdemokratisch", wenn sie tatsächlich dazu beitragen, gesetzte Zwecke zu erreichen. Orientiert an Werten und Zielen, pragmatisch in der Auswahl der Route, durchaus mit heißem Herzen, aber immer mit klarem Kopf muss die Sozialdemokratie ihren Weg in die Zukunft finden.


Gerade angesichts veränderter globaler Bedingungen sollten wir uns auf die spezifischen Stärken des deutschen Wirtschafts- und Sozialmodells besinnen. Es war eine Kombination von politischer Teilnahme und mikroökonomischer Produktivität, von volkswirtschaftlicher Globalsteuerung und sozialer Sicherung, die die Attraktivität des Modell Deutschlands begründete. Der soziale Konsens beruht in der Bundesrepublik Deutschland seit jeher auf der politischen Verknüpfung von Ökonomie und Gesellschaft, von wirtschaftlicher Modernität und sozialer Verantwortung. Dieser Konsens ist ein Standortvorteil, wenn er sich vornehmlich auf Qualifikation, auf wissenschaftliche Innovation und sozialen Frieden gründet.

Sozialdemokratie muss unterscheidbar sein

Helmut Kohl wurde abgewählt, weil er die Flexibilisierung der Gesellschaft forderte, ohne sie in sozialer Verantwortung zu bewerkstelligen; weil er versprach, Menschen in die Erwerbsgesellschaft einzubeziehen, tatsächlich aber Rekordarbeitslosigkeit hinterließ; weil er von der "Familie" redete, ohne für deren Vereinbarkeit mit dem Arbeitsleben und die Überwindung überkommener Geschlechterrollen zu sorgen. Kohl gab den Menschen nicht das Gefühl, dass sich die Globalisierung zu ihrem Wohl nutzen lasse. Die SPD sollte diese Fehler vermeiden. Wenn Demokratie nicht nur Teilhabe, sondern auch die Auswahl zwischen verschiedenen politischen Programmen bedeuten soll, müssen Sozialdemokraten die Unterschiede zur politischen Konkurrenz klar herausarbeiten. Das gilt vor allem bei der Frage der Zukunft des Sozialstaates.


Ein Unterschied zu Neoliberalen und großen Teilen der CDU liegt etwa darin, dass Sozialdemokraten der Privatisierung elementarer Lebensrisiken entgegentreten. Die von der SPD geführte Bundesregierung entlastet zwar in enormem Umfang von Steuern und Abgaben, aber sie verspricht keine Senkung der Staatsquote in einem Ausmaß, das die Entstaatlichung ganzer Lebensbereiche bedeuten würde. So ist die SPD näher an den Sorgen und Hoffnungen der übergroßen Mehrheit - sie muss dafür allerdings immer wieder eine Sprache finden, die ohne weiteres verstanden wird.


Auf ein angemessenes Menschenbild sind Sozialdemokraten auch dort angewiesen, wo es darum geht, die eigene Programmatik weiterzuentwickeln. Dazu gehört die Einsicht in die Zentralität der Erwerbsarbeit. Im Leben der Menschen hat Arbeit einen besonderen Stellenwert. Deshalb darf die Gesellschaft nicht darauf verzichten, Langzeitarbeitslose, Jugendliche ohne Arbeit und Ausbildung, Alleinerziehende oder Eltern mit vielen Kindern in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Wo Teilhabe an der Erwerbsarbeit ermöglicht wird, werden Armut und gesellschaftliche Ausgrenzung am effektivsten vermieden. Und in der Bekämpfung dieser Ausgrenzung wiederum liegt der Schlüssel für gesellschaftlichen Zusammenhalt und sozialen Frieden. Vollbeschäftigung anzustreben ist deshalb nicht nur eine ökonomische, sondern vor allem eine sittliche Aufgabe. Viele Menschen reagieren heute misstrauisch, wenn Parteien Vollbeschäftigung als Ziel benennen - dennoch darf gerade die Sozialdemokratie dieses Ziel nicht aufgeben. Einerseits verletzt eine Politik, die sich dauerhaft mit Massenarbeitslosigkeit abfindet, ihre sittliche Verantwortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern. Andererseits untergräbt Massenarbeitslosigkeit gleichermaßen die politische Akzeptanz des Sozialstaates und dessen ökonomische Basis.

Wer etwas wagen soll, braucht Sicherheit

Unter Gerhard Schröder hat die SPD gelernt, dass sich diese Herkulesaufgabe nicht über Nacht bewältigen lässt: Ein schwieriges weltwirtschaftliches Umfeld hat das Wirtschaftswachstum und damit auch den Rückgang der Arbeitslosigkeit gebremst. Doch angesichts dieser Bedingungen können sich die Erfolge durchaus sehen lassen: Seit 1998 ist die Zahl der Arbeitslosen um 10 Prozent gesunken; die Zahl der Langzeitarbeitslosen sank im gleichen Zeitraum sogar um 18 Prozent. Heute gibt es in Deutschland eine halbe Million Arbeitslose weniger. Wir starten in einen neuen Aufschwung mit geringerer Sockelarbeitslosigkeit als bei früheren Konjunkturzyklen.


Ob die Sozialdemokratie es so will oder nicht: Die Veränderungen der Arbeitsgesellschaft und die fortschreitende weltwirtschaftliche Arbeitsteilung werden die weitere Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse erzwingen. Die Politik kann diese Entwicklung nicht verhindern - aber sie muss sie gestalten. Als Kompass braucht sie auch dabei ein realistisches Bild vom Menschen: Der heute mit der Flexibilisierung verbundene Veränderungsdruck belastet uns alle. Traditionelle soziale Beziehungen - etwa in den Geschlechter- und Arbeitsrollen - lassen nach. Flexibilisierung und Beschleunigung schaffen Unsicherheiten - bei der Wahl des Ausbildungsweges, bei der Wahl des Lebensmittelpunktes, bei der Entscheidung darüber, eine Familie zu gründen oder lieber nicht. Die Politik hat bei alledem einen Schutzauftrag. Sie muss verlässliche Rahmenbedingungen schaffen. Die Menschen können und wollen nur dann flexibel und mobil sein, wenn sie ein gewisses Mindestmaß an Sicherheit besitzen. Wer soll die neuen soziale Freiheiten in der globalisierten Welt als Chance annehmen, wenn er sich ihretwegen vor Dequalifizierung und sozialem Abstieg fürchten muss? Wer sich von sozialer Unsicherheit, vor dem Verlust von Arbeitsplatz und Einkommen bedroht sieht, der muss sich darauf verlassen können, dass im Bedarfsfall funktionsfähige soziale Sicherungssysteme bereit stehen.


Will die Sozialdemokratie dieser Aufgabe gerecht werden, dann muss sie einen Korridor der Verlässlichkeit garantieren, in dem die Menschen neue Wagnisse eingehen können. Ökonomische Flexibilität und Wettbewerbsfähigkeit, soziale Sicherheit und politische Teilhabe müssen zu einer produktiven Synthese geführt werden. Die SPD als linke Volkspartei muss also eine durchaus wertkonservative Aufgabe erfüllen, ohne darüber in Strukturkonservativismus zu verfallen. Sie muss den Grundkonsens der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft verteidigen, die Verantwortung des Starken gegenüber dem Schwachen. Und sie muss für diese Aufgabe Antworten finden, die den veränderten Rahmenbedingungen Rechnung tragen.

Ohne Veränderung keine Bewahrung

Wer den Sozialstaat erhalten will, muss diese Veränderungen berücksichtigen, darf andererseits aber nicht auf falsche Erklärungen zu den richtigen Stichworten hereinfallen. Aufklärung tut not - überall da, wo tatsächlicher sozialer, politischer und ökonomischer Wandel unter irreführenden Überschriften als ideologische Keulen gegen den sozialen Rechtsstaat missbraucht wird.


Stichwort Demografie. Zu den veränderten Bedingungen gehört heute der Altersaufbau der Bevölkerung. Zwischen diesem und der Stabilität sozialer Sicherung gibt es einen engen Zusammenhang. Die deutsche Bevölkerung schrumpft und altert zugleich. Die durchschnittliche Lebenserwartung hat sich in den vergangenen hundert Jahren verdoppelt - und sie steigt weiter. Zugleich ist das Land seit Anfang der siebziger Jahre mit einem drastischen Geburtenrückgang konfrontiert. In acht Jahren wird sich der Geburtenrückgang in einem Rückgang des Potentials an Erwerbstätigen niederschlagen. Schon heute geht der demografische Effekt in die positive Entwicklung am Arbeitsmarkt ein. In wenigen Jahren wird sich der Angebotsüberschuss am Arbeitsmarkt in einen Arbeitskräftemangel verwandeln. Zugleich wird die materielle Belastung der aktiven Generation deutlich steigen. Die Verringerung des Arbeitskräftepotenzials und eine Überalterung der Gesellschaft drücken Wachstum und die Innovationsfähigkeit.

Warum sozialer Friede kein Nachteil ist

Stichwort Globalisierung. Konservative und Neoliberale haben den Begriff "Globalisierung" zu einem Kampfbegriff gegen den sozialen Rechtsstaat gemacht. Sie erwecken den Eindruck, die zunehmende Standortkonkurrenz in Folge der Internationalisierung der Kapital- und Produktmärkte verenge die Spielräume sozialstaatlicher Gestaltung. Dabei diffamieren sie die quantitative Anhebung des Leistungsniveaus ebenso wie den qualitativen Ausbau des Sozialstaats als Sünde wider die Attraktivität des Standorts Deutschland. Sozialdemokraten hingegen sind überzeugt, dass sozialer Friede auch bei zunehmendem internationalen Wettbewerbsdruck kein Nachteil, sondern ein Vorteil ist. Ein Hochtechnologieland wie die Bundesrepublik ist auf das Engagement und Mitdenken der Arbeitnehmer angewiesen. Wer von seinen Arbeitnehmern hohe Produktivität und Qualifikation, Motivation und Identifikation mit ihrem Betrieb erwartet, wird wirksame soziale Absicherung in Zeiten des Umbruchs und der Neuorientierung gewähren müssen. Der deutsche Sozialstaat gerät nicht durch die Globalisierung per se unter Druck, sondern durch zu geringes Wachstum infolge mangelnder Innovationsfähigkeit und ungünstigen Altersaufbau. Deshalb kommt es darauf an, dass wir unsere Wettbewerbsfähigkeit in der globalisierten Wirtschaft erhalten, ohne sozialen Zusammenhalt und inneren Frieden zu gefährden.

Was die Gewerkschaften an der SPD haben

Stichwort Individualisierung. In modernen Gesellschaften nimmt die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen zu. Für die meisten Menschen bedeutet dieser Gewinn an Freiheit, verbesserte Chancen der Selbstverwirklichung. Aber die Zunahme der Optionen ist nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite beobachten wir, wie familiäre, soziale und kulturelle Bindungen erodieren. Die Anforderungen an den Einzelnen wachsen. Sie heißen lebensbegleitendes Lernen, Umlernen, Innovationstempo und Mobilität. Die sozialen Sicherungssysteme müssen mit dieser Entwicklung Schritt halten. Sie dürfen sich weder auf ihrer Einnahmeseite noch im Hinblick auf die Art ihrer Leistungen einseitig am hergebrachten Normalarbeitsverhältnis ausrichten.


Um erfolgreich zu sein, braucht die Sozialdemokratie starke Partner. Gerade mit den Gewerkschaften verbindet die SPD mehr als nur die gemeinsame Geschichte zweier Arme der einen Arbeiterbewegung. Es sind die gemeinsamen Interessen ihrer Anhänger, die eine enge politische Verbindung zur Folge haben. Dabei ist die SPD so wenig parlamentarischer Lautsprecher der Gewerkschaften, wie umgekehrt die Gewerkschaften betriebliche Sekundanten der SPD sind. Das Verhältnis muss solidarisch sein, aber nicht unkritisch. Die ihrerseits nach zeitgemäßen Antworten auf veränderte Bedingungen suchenden Gewerkschaften sollten sich bewusst sein, was sie an der SPD haben.


Wir wissen, dass das Tarifvertragssystem und die Kultur der Mitbestimmung zum deutschen Konsensmodell gehören. Wir müssen seine Elemente weiterentwickeln und behutsam an veränderte Umstände anpassen. Flächentarifverträgen muss die Funktion einer Rahmenvereinbarung zur Sicherung des fairen Wettbewerbs zugewiesen werden. Sie müssen jedoch so flexibel gestaltet sein, dass auf betriebsspezifische Notwendigkeiten reagiert werden kann. Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer wiederum muss Schritt halten mit dem Prozess der Internationalisierung der Wirtschaft. Deshalb haben wir nicht nur die betriebliche Mitbestimmung im nationalen Rahmen, sondern auch die Rechte der Europäischen Betriebsräte gestärkt. Diesen Weg muss die Sozialdemokratie in den nächsten Jahren weiter gehen.

Leistungswille und Solidarität

Das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes überträgt dem Staat soziale Verantwortung und die Pflicht zu sozialer Gerechtigkeit. Der deutsche Sozialstaat bildet den Kern eines europäischen Sozialstaatsmodells, das Leistungswillen und Eigenverantwortung mit Zusammenhalt und Solidarität kombiniert. Deshalb ist es in dem Maße zukunftsträchtig, wie jede Generation von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in ihrer Zeit neu dazu beiträgt, es zu erhalten und weiter zu entwickeln.


Den sozialen Rechtsstaat verantwortungsvoll zu modernisieren bedeutet, die richtige Balance zu finden: Auf der einen Seite steht die staatlich gewährleisteter Absicherung gegen existentielle Lebensrisiken. Auf der anderen Seite gilt es die wachsende Fähigkeit und Bereitschaft der Menschen, die Vorsorge gegen Risiken in die eigenen Hände zu nehmen. Es berührt Menschen in ihrer Würde, ob sie Sozialleistungen aufgrund von Rechtsansprüchen oder als wohltätige Zuwendungen erhalten, ob sie im Arbeitsverhältnis der Willkür des Arbeitgebers unterworfen sind oder, genau wie die Unternehmer, gesetzliche Rechte und Pflichten wahrnehmen. Eine glaubwürdige Sozialdemokratie muss deshalb jedem Versuch von Konservativen und Liberalen entgegentreten, die sozialen Rechte der Schwächeren durch freiwillige karitative Almosen der Starken zu ersetzen. Für Hermann Heller war der Sozialstaat eine Frage der Freiheit. Er wird es auch in Zukunft bleiben.

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