Der Traum vom Fliegen
Wer demnächst am neuen Flughafen Berlin Brandenburg Willy Brandt in ein Flugzeug steigt, sollte beim Bewundern der neuen Abfertigungshallen einen Moment innehalten. Für die Installation der Klimatechnik wurden Arbeiter eingesetzt, die systematisch um ihren Lohn geprellt wurden. Es ist seit Jahren ein offenes Geheimnis: Auf Berliner Großbaustellen wird ein Geschäftsmodell betrieben, das auf einem komplexen System von Generalunternehmern, Subunternehmern und (schein-) selbständigen Gewerbetreibenden aus Osteuropa beruht. Im Fall des Flughafens waren es ungarische Arbeiter, denen ein Subunternehmer den Lohn vorenthielt. Oft stehen auch Arbeiter aus Rumänien und Bulgarien am Ende der Kette, die von Schleppern angeworben und nach Berlin gebracht werden. Dort teilen sie sich mit 20 Personen ein überteuertes Zimmer in einem ehemaligen Hotel und schuften als so genannte Soloselbständige.
Aufgrund der eingeschränkten Arbeitnehmerfreizügigkeit können sie nicht legal einer Beschäftigung nachgehen. Stattdessen wird ihnen nahegelegt, ein Gewerbe anzumelden. Das häufige Szenario: Subunternehmer vermitteln die Selbständigen an deutsche Bauunternehmen, wo sie ohne Verträge und Versicherungen arbeiten – bis sich der Subunternehmer, der unterdessen das Honorar einsammelt, aus dem Staub macht. Ohne Geld und ohne Verträge verlieren die Bulgaren und Rumänen ihre Unterkunft und sitzen auf der Straße. Selbst wenn sie den Weg zum „Berliner Beratungsbüro für entsandte Beschäftigte“ in der Schöneberger DGB-Geschäftsstelle finden, sind die Aussichten gering, ihren Lohn zu erhalten. Denn sie müssen ihre Ansprüche zunächst beim abgetauchten Subunternehmer geltend machen, bevor sie sich an den Generalunternehmer wenden können.
Seit dem Beitritt Rumäniens zur EU hat sich die Zahl der angemeldeten Gewerbe in Deutschland auf knapp 10.000 verzehnfacht. Einmal abgesehen von dem menschlichen Leid auf Berliner Baustellen – wie kann sich im hoch regulierten Deutschland, auf einer Baustelle im Auftrag zweier sozialdemokratisch regierter Bundesländer ein solches Beschäftigungssystem ausbreiten? Ein Grund sind Unkenntnis, mangelnde Sprachkenntnisse und einfach Verzweiflung auf Seiten der Arbeiter. Aber was ist mit dem Auftraggeber und seinem Generalunternehmer? Beide unterschreiben eine Tariftreueerklärung, derzufolge alle auf der Baustelle beschäftigten Arbeitnehmer gemäß den Bedingungen des Tarifvertrags entlohnt werden. In Wirklichkeit spiegeln die Arbeitsverträge die tatsächlich geleistete Arbeitszeit nicht wider. Auf den Baustellen werden die Verträge der Subsubsubunternehmer nicht kontrolliert und die Bauarbeiter nicht über die Bedingungen aufgeklärt.
Auftraggeber und Generalunternehmer haben kaum Interesse an der Durchsetzung von ordentlichen Verträgen. Die Kosten von Bauvorhaben werden grundsätzlich zu niedrig angesetzt und sinken mit jedem Gewerk, das günstiger zustandekommt als geplant. Die Differenz zwischen den Kosten des ausgeschriebenen Projekts, auf der Basis von Tariflöhnen kalkuliert, und den tatsächlich ausgezahlten Löhnen, kommt den Unternehmen zugute.
Noch ist das Phänomen auf Arbeitsmigranten aus Rumänien und Bulgarien, auf den Bausektor und den Pflegebereich begrenzt. Aber könnten sich diese halblegalen Beschäftigungsverhältnisse nicht auch in anderen Sektoren durchsetzen? Auf dem deutschen Arbeitsmarkt finden wir heute eine Vielzahl ungesicherter Beschäftigungsverhältnisse – von mehrfachen Minijobs bis zur Kleinstselbständigkeit während des Bezugs von Arbeitslosengeld II. Das deutsche Beschäftigungswunder und die massive Lohnzurückhaltung speist sich in hohem Maße daraus, dass solche Beschäftigungsformen in Politik und Gesellschaft zunehmend akzeptiert werden.
Was tun? Im Bausektor sollte man die Generalunternehmerhaftung ernster nehmen und Verstöße mit höheren Strafen ahnden. Zudem müsste die Haftung auf alle Bereiche ausgeweitet werden. Derzeit können Subunternehmen den Mindestlohn dadurch umgehen, dass sie über Konstruktionen wie „Facility Management“ auch in anderen Branchen tätig sind, obwohl der Hauptverantwortliche eigentlich dem Baugewerbe angehört. Politisch sollte die Debatte über Mindestanforderungen an Beschäftigungsverhältnisse und Gewerbeanmeldungen stärker vorangetrieben werden. Wir können es uns leisten.