Die alten Wörter sind die besten
Man braucht keine hellseherischen Fähigkeiten, um vor-auszusagen, dass das kommende Jahr von der Debatte über Donald Trump und seine Wähler gekennzeichnet sein wird: Ist es tatsächlich möglich, dass er das tut, was er angekündigt hat? Was, wenn er es nicht tut? Wozu sind seine Wähler imstande? Und: Was haben die so genannten Eliten in Washington falsch gemacht oder nicht verstanden? Ein sichtlich gebeutelter CNN-Anchor fragte schon in der Wahlnacht: „What did everyone get wrong?“ Er gab dann selbstironisch die Antwort: „The numbers“.
Auch hierzulande müssen wir darüber reden, wie Medien, Politik, Wähler und Publikum miteinander umgehen. Springer-Vorstand Mathias Döpfner schrieb in einem ziemlich beispiellosen Leitartikel zur US-Wahl: „Auf den Emporen des guten Geschmacks der veröffentlichten Meinung herrschte statt Verständnis und Empathie Publikumsbeschimpfung und Wählerverachtung. Das rächt sich. Das durchschauen die Menschen, und sie mögen es nicht.“ Am nächsten Tag bekannte der US-Korrespondent der Welt, sich in Bezug auf Trump schlichtweg geirrt zu haben: Er hatte die Signale, die auf dessen Wahlsieg hinwiesen, einfach nicht so ernst genommen wie die Hinweise, die in Hillary Clintons Richtung deuteten. Eine derartige Selbstkritik von Journalisten ist ungewöhnlich – und vermutlich wohltuend für das Publikum. Denn die weitgehend unerschütterliche Besserwisserei des Berufsstandes gehört, jedenfalls vermute ich das, zu den Faktoren, die auch bei uns für schlechte politische Laune sorgen.
Gegen den Journalismus des Generalverdachts
Ich möchte ein Beispiel nennen. Neulich war ich zu einer Veranstaltung mit etwa hundert Teilnehmern eingeladen. Sie fand statt in einem Provinznest: drei, vier Kneipen, Mini-Einkaufsstraße, Baumarkt, viel Landschaft und Himmel drum herum. Die Anwesenden taten eine ziemlich anstrengende Arbeit für die Allgemeinheit – THW, Polizei, Feuerwehr, Bundeswehr, so etwas in der Art. Es waren Leute, die in ihrem Berufsalltag immer wieder viel Verantwortung übernehmen müssen. Diese Menschen fühlten sich von den Medien ausgesprochen schlecht behandelt. Manche Berichterstattung behindere schlicht ihre Arbeit, sagten sie. Und so manche Personalisierung schmerze enorm, auch und gerade die Familien, die regelmäßig in Mithaftung genommen würden. Ich hörte niemanden bestreiten, dass einem bei der eigenen Arbeit Fehler passieren. Und niemand sprach den Journalisten die Pflicht ab, kritisch zu berichten. Aber was sie nicht verstehen konnten, war die ahnungslose Gnadenlosigkeit und Prinzipienreiterei vieler Artikel, die ihrer mühsamen Praxis, so sahen sie das, kaum gerecht werde.
Und hier tat sich eine tiefe Verständigungslücke auf, die sich vielleicht an dem Wort „kritisch“ festmachen lässt. Haben manche Journalisten es in einer Weise verinnerlicht, die sie nur noch nach dem Missstand suchen lässt? Die sie mit einem Generalverdacht gegen ihre Berichtsgegenstände ausstattet, so dass sie die Eigenlogik anderer Berufe als des eigenen verkennen?
Die Podiumsdiskussion verlief moderat, man wollte nicht wirklich streiten. Auf dem Rückweg durch verschneite Felder hörte ich den Kollegen aus den Metropolen zu. Es war klar, dass sie ihre Gastgeber nicht wirklich verstanden hatten. Es fiel das Wort weinerlich. Angesichts dieser interkulturellen Kommunikationsschwierigkeiten ist es kein Wunder, dass viele Menschen, die tatsächlich einen Job zu erledigen haben, Berichterstattung fürchten und meiden. Ich glaube, wir brauchen einen grundsätzlichen Haltungswandel im Journalismus: Natürlich sind Aufmerksamkeit und auch Misstrauen angebracht – in den tatsächlichen Ausnahmefällen, die angeprangert werden müssen. Aber Generalverdacht und Schiedsrichterei als Normalmodus der Berichterstattung wird die Entfremdung weiter verschärfen, die wir schon jetzt überall spüren.
Sie SPD hat Probleme, die Wähler sind Schuld
Wir müssen auch noch allgemeiner über Eliten nachdenken. Und zwar möglichst nicht nur in der eingeübten Form der Medienkonjunktur – ein paar Essays, Leitartikel und vier Talkshows, in denen die üblichen Verdächtigen erklären, warum es überhaupt kein Problem gibt, und dass die Bürger, die sich entfremdet fühlen, selbst schuld sind. Diejenigen, die für „Eliten“ gehalten werden, oder sich selbst dafür halten, brauchen wahrscheinlich ebenfalls einen langfristigen Einstellungswandel.
Auch diese These möchte ich anhand eines persönlichen Erlebnisses illustrieren. Vor einiger Zeit saß ich in einem sozialdemokratischen Gremium. Welches, spielt keine Rolle, jedenfalls waren etliche ältere Würdenträger zugegen. Die Redebeiträge waren, wie in solchen Runden üblich, umfassend. Und diskutiert wurde über just das aktuelle Problem: Warum gehen so viele Leute hin und wählen die AfD, statt ihre Stimme der SPD zu geben wie früher? Wie kann es sein, dass diese Menschen einfach nicht mehr erkennen, dass die Sozialdemokraten die rechtmäßigen Anwälte der „kleinen Leute“ (sic) sind?
Ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte, dass ich noch nie so oft wie in diesen zweieinhalb Stunden gehört habe, wie sich Menschen selbst als Angehörige der „Elite“ oder als „Intellektuelle“ bezeichneten. Mir sträubten sich jedes Mal die Nackenhaare. Ich glaube, es ist ein großer Fehler, von sich selbst so zu denken. Denn man behindert sich dadurch im Denken und im Wahrnehmen. Die versammelten Intellektuellen teilten immerhin eine richtige Analyse: Die SPD hat Probleme. Aber sie diskutierten nicht, was die SPD dann vielleicht anders machen könnte. Sondern, warum die Wähler irren.
Wer will schon von »Eliten« belehrt werden?
Ich stelle an mir selbst fest, dass ich von Menschen, die sich selbst für eine Elite halten, auf gar keinen Fall über was auch immer belehrt werden will. Schon gar nicht über etwas, womit ich mich einigermaßen auskenne. Was, wenn es anderen Leuten auch so geht? Was, wenn auf allen Ebenen der Politik zu viele Leute herumlaufen, die sich selbst zur Belehrelite ernannt haben? „Das politische Klein-Klein der parteigeografischen Klientelpolitik treibt die Leute zur Verzweiflung und an die extremen Ränder“, schreibt Mathias Döpfner. „Wenn Politik nur noch das tut, was im Augenblick politisch durchsetzbar scheint, aber zu selten einfach das, was richtig ist, wenn sie zu oft sagt, was politisch korrekt ist, aber zu selten das, was ist, dann verliert sie die Gefolgschaft.“
Gottseidank wird zumindest über die Diskussion, der ich beiwohnte, nichts nach außen dringen, was in Döpfners Sinne für Verdruss sorgen könnte, denn, darin war sich die Runde einig: Wenn bekannt wird, dass nicht alles so gut läuft für die SPD, dann nützt das ja nur dem politischen Gegner.
Ein dritter Gedanke. In seinem unentwegten Kampf für gute Sprache in Journalismus und Politik zitiert Wolf Schneider, der langjährige Leiter der Hamburger Journalistenschule, Winston Churchill: „Die alten Wörter sind die besten, und die kurzen alten Wörter sind die allerbesten.“ Mit einsilbigen Wörtern ließen sich die Urtatsachen unseres Lebens einfangen, schreibt Schneider: Haut und Haar, Haus und Hof, Berg und Tal, Wald und Feld, Bett und Tisch, Hand aufs Herz.
Es wäre, glaube ich, extrem hilfreich, wenn sich die Verfasser von Medientexten und öffentlichen politischen Reden um stärkere und klarere Sätze bemühen könnten – und um weniger Abstraktion, weniger Jargon, weniger Formel. Die Absicherung des politischen Sprechens ist sicher eine Folge des inquisitorischen Gebarens vieler Journalisten, aber sie tötet den Diskurs. Und in die Abstraktion flüchtet sich gern, wer auch nicht ganz genau weiß, wovon er redet.
Mir geht es aber nicht nur um alte Worte, mir geht es auch um die Frage: Gibt es eigentlich alte Gefühle? Gefühle, die in einer schnellen, erfolgsfixierten und lauten Alltagswelt vielleicht nicht mehr richtig klingen können?
Auch dazu ein persönliches Beispiel: Ich komme aus einer Stadt am Meer. 47 Jahre lang habe ich dort gelebt. Und immer, wenn etwas war – wenn eine schwerwiegende Entscheidung zu treffen war, oder im Sommer, oder bei Liebeskummer und dergleichen –, immer dann ging ich ans Wasser. Wenn ich nur ein einziges Bild für den Begriff Heimat verwenden dürfte: Es wäre für mich der Strand, der Wind, die Wolken, der Geruch nach Seetang und Salz. Und das Geschrei der großen Möwen, die einem mit ihren dicken gelben Schnäbeln leicht ein Stück Fleisch aus der Wade hacken könnten.
Manchmal überfällt mich das Heimweh
Es kamen dann Umstände, die mich zwangen, meine Heimat zu verlassen. Ich habe ein neues Zuhause in Berlin; und Berlin hat, verglichen mit meinem alten Standort, erhebliche Vorteile. Aber Berlin ist Zuhause, nicht Heimat. Die Vögel, die ich hier höre, sind Krähen, Tauben, Spatzen. Großstadtvögel.
Es geht mir gut. Aber manchmal, unvorbereitet, überfällt mich das Heimweh. Mir ist nicht ganz klar, warum das passiert. Es vergeht auch wieder. Aber für einen Moment zerreißt es mir das Herz. Heimweh kommt mir vor wie ein altes Gefühl, es passt nicht gut zu Vernunft, Flexibilität, Durchsetzungsvermögen, Schnelligkeit und zu den Anforderungen der Metropole und des modernen Berufslebens. Trotzdem glaube ich, dass viele Menschen Heimweh haben. Und ich frage mich, ob es so etwas gibt wie Heimweh nicht nur nach einem Ort, sondern auch nach einer anderen Zeit. Ich habe diese Frage einmal in einer Kolumne gestellt. Die erstaunlich vielen Leser, die sich daraufhin meldeten, schrieben in großer Übereinstimmung: Ja, es gebe eine Zeit, in der sie lieber leben würden als heute. Und zwar in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Nun kann man das natürlich zunächst einmal als Sehnsucht nach der eigenen Jugend deuten, ich glaube, das würden die Leser auch nicht bestreiten. Aber da ist mehr.
Jeder fünfte Deutsche fühlt sich nach aktuellen soziologischen Studien „fremd im eigenen Land“. Und das habe, schreibt der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa, eben nicht sonderlich viel mit Ausländerfeindlichkeit und Rassismus zu tun: „Fremd im eigenen Land, in der eigenen Stadt fühlen sich nicht selten ältere Mitbürger. Das ist nicht verwunderlich. Moderne Stadtlandschaften ändern rasch ihr Erscheinungsbild und ihren Charakter. Ganze Stadtviertel verschwinden. Das alte Café hat geschlossen, Starbucks ist eingezogen. Das neue Parkleitsystem ist verwirrend. Die Telefonzellen sind nicht mehr da. Die englische Sprache ist allgegenwärtig geworden – wer sie nicht spricht, kann sich vor manchem Schaufenster fremd fühlen. Die Techniken und Praktiken der Bezahlung, der Toilettenbenutzung, der Kundenberatung, des Fahrkartenkaufs und so weiter – sie alle haben oft nur wenige Monate Bestand.“
Die Beschleunigung des sozialen Wandels führe dazu, schreibt Rosa, dass sich nicht nur ältere Menschen schnell anachronistisch und veraltet fühlen in einer neuen Welt: „Wer nach zehn Jahren an einen ehemaligen Lebensort zurückkehrt, der macht schnell die Feststellung, dass das nicht mehr ‚seine Welt‘ ist, die vertraute, angestammte Heimat.“
Niemand kann den sozialen Wandel aufhalten – aber wir müssen ihn nicht auch noch bejubeln, weder als „Revolution in Permanenz“ noch als „kreative Zerstörung“. Und wir alle sollten einander alte Gefühle zugestehen, ohne gleich in Rechtspopulismusabwehrpanik zu verfallen.