Die Energiewende braucht ein Energieministerium
Die schlimme Katastrophe in Japan hat in Deutschland zu einem Umdenken in der Atompolitik geführt. Der Ausstiegsplan sieht vor, dass alle Kernkraftwerke in Deutschland bis zum Jahr 2022 abgeschaltet werden sollen. Im Rahmen eines Moratoriums wurden bereits im Frühjahr 2011 acht Atomkraftwerke unmittelbar und irreversibel vom Netz genommen. Aber bei Licht betrachtet ist dieser Atomausstieg nicht grundlegend neu. Schon zuvor hatte man beschlossen, den Anteil von Atomstrom immer weiter zu reduzieren und die Atomenergie bis zum Jahr 2020 ganz auslaufen zu lassen.
Doch es geht bei der Energiewende nicht nur um den Ausstieg aus der Kernenergie, sondern auch um den Ausstieg aus der Kohle. Bis 2022 müsste eigentlich rund die Hälfte der deutschen Kohlekraftwerke altersbedingt vom Netz. Das Zeitfenster wäre also günstig, den Anteil von Kohle an der Stromerzeugung, der gegenwärtig bei 42 Prozent liegt, zu halbieren. Doch in den kommenden Jahren droht das Gegenteil: Der Kohleanteil am Strom-Mix könnte auf über 50 Prozent klettern.
Dabei muss der weitere Zubau von Kohlekraftwerken unbedingt verhindert werden. Derzeit sind mehr als 20 neue Kohlekraftwerke in Planung oder schon im Bau; sie erreichen eine Gesamtleistung von über 10 Gigawatt. Damit könnte man rein rechnerisch die Atommeiler ersetzen, die sich derzeit noch im Einsatz befinden. Doch Kohlekraftwerke passen nicht in das Konzept der nachhaltigen Energiewende: Sie produzieren deutlich mehr klimagefährdende Treibhausgase als andere Energieträger, zum Beispiel doppelt so viel wie Gas. Für die Übergangszeit wären Gaskraftwerke deutlich besser geeignet. Sie sind nicht nur emissionsärmer, sondern auch besser kombinierbar mit den fluktuierenden erneuerbaren Energien, weil man Gasanlagen flexibel hoch- und runterfahren kann. Gas ist für die Stromerzeugung, besonders in Kombination mit Kraft-Wärme-Kopplung, die effizienteste und zudem eine klimaschonende Form der Energieerzeugung. Darüber hinaus ist Gas als Alternative zum Öl interessant, wenn es um Mobilität geht: Erdgasfahrzeuge werden geringer besteuert, sie wären also wirtschaftlich durchaus attraktiv.
Das Ziel der Bundesregierung, in den kommenden vier Jahrzehnten den Anteil der erneuerbaren Energien von heute 17 Prozent auf 80 Prozent zu erhöhen, ist grundsätzlich realistisch. Aber: Erneuerbare Energien weisen hohe Volatilitäten auf. In Zeiten eines hohen Angebots erneuerbarer Energien reichen die Stromnetze häufig nicht aus, um den überschüssigen Strom ins Inland oder Ausland weiterzuleiten. Auch der Ausbau von Stromleitungen ist elementar – innerhalb Deutschlands und der gesamten EU –, ebenso der Ausbau dezentraler und intelligenter Verteilnetze. Denn die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien wird immer dezentraler. Das macht intelligente Stromnetze nötig, die Angebot und Nachfrage besser als bisher in Einklang bringen. Durch die Finanzkrise erhöhen sich die Risikoaufschläge der Finanzinstitute. Die öffentliche Hand hat bereits umfangreiche Mittel zur Bankenrettung bereitgestellt und könnte nun darauf dringen, dass diese Gelder zweckgerichtet zur Finanzierung der Energiewende eingesetzt werden.
Darüber hinaus müssen mehr Speichermöglichkeiten geschaffen werden. Pumpspeicherkraftwerke sind derzeit die, wenn auch nur teilweise, einzig wirtschaftliche Form der Stromspeicherung. Da die Optionen für Pumpspeicherkraftwerke in Deutschland begrenzt sind, sind wir auf andere europäische Länder angewiesen, etwa in der Alpenregion oder in Skandinavien. Um auch diese Potenziale nutzen zu können, benötigen wir dringend mehr Stromleitungen. Zusätzlich sind derzeit völlig neue Formen der Stromspeicherung in der Forschungsphase. Beispielsweise können Batterien von Elektrofahrzeugen als Speicher genutzt werden, wenn die Autos technisch in der Lage sind, gespeicherten Strom ins Netz einzuspeisen („Vehicle to grid“). Dazu wäre ein Umbau der Infrastruktur notwendig. Auch neue Kraftstoffe taugen für die Energiespeicherung. In Spitzenzeiten des Angebots erneuerbarer Energien könnte Wasserstoff oder Methan produziert werden, etwa zum Einsatz auf dem Gebiet der Mobilität.
Wer weniger verbraucht, ist weniger abhängig
Damit die Anreize für den Bau und den Einsatz von Gaskraftwerken steigen, sollte das Marktdesign angepasst werden. Eine kluge Regulierung kann helfen, die Kapazitäten zu fördern, die für ein nachhaltiges Energiesystem notwendig sind. Zum anderen sollte eine erfolgreiche Anpassung der Nachfrage auf Volatilitäten ermöglicht werden. Um die Investitionen zu beschleunigen, sollten die Rahmenbedingungen besonders bei der Vergütung der Infrastruktur sowie der Stromspeicher und Reservekapazitäten so angepasst werden, dass Versorgungssicherheit und der dynamische Ausbau rasch zu schaffen sind. Geeignete finanzielle Anreize für Stromnetze und Speicher, aber auch für notwendige Stromkapazitäten zum Ausgleich von Angebot und Nachfrage gehören genauso dazu wie die rasche Intensivierung aller Energiesparaktivitäten. Daher müssen nicht nur möglichst rasch die finanziellen Mittel zur Unterstützung der energetischen Gebäudesanierung aufgestockt, sondern auch jegliche Sparpotenziale ausgeschöpft werden, vor allem auf dem Gebiet der Mobilität.
Genauso wichtig wie das Angebot ist jedoch die Nachfrage. Je weniger Energie wir verbrauchen, desto weniger abhängig machen wir uns von den immer knapper und teurer werdenden fossilen Energien – und desto mehr Kosten können wir sparen. Neben dem Mobilitätssektor liegen die größten Einsparpotenziale vor allem bei den Immobilien, genauer: in der Gebäudehülle. Knapp ein Fünftel des Energiebedarfs von Immobilien könnte allein durch den Einsatz effizienter Dämm- und Klimatechnik eingespart werden. Die Bundesregierung hat völlig zu Recht entschieden, dass die Energie-Einsparpotenziale im Gebäudebereich genutzt werden müssen. Dazu bedarf es jedoch ausreichender finanzieller Mittel. Die schwarz-gelbe Koalition will die Gelder aufstocken. Allerdings werden auch die anvisierten 1,5 Milliarden Euro kaum ausreichen, um die Sanierungsquote zu erreichen –abgesehen davon, dass die Länder das Vorhaben blockieren.
Eine weitere wichtige Dimension der Energiewende ist die gesellschaftliche: Die Akzeptanz der Bevölkerung wird davon abhängen, wie gut man den Menschen erklärt, um was es genau geht, welche Schritte notwendig sind und wie hoch die Belastungen und Entlastungen (Stichwort Gebäudesanierung) ausfallen werden. Daher ist es notwendig, nicht nur auf Bundes- und Landesebene, sondern vor allem auch auf kommunaler Ebene für ausreichend Transparenz, Informationen und Partizipationsmöglichkeiten zu sorgen.
Nichts darf dem Zufall überlassen werden
Somit bedeutet die Energiewende eine komplette Neuausrichtung der Energieversorgung. Sie bedarf umfassender Planung, Überwachung und Verwirklichung. Nichts darf dem Zufall oder der Freiwilligkeit überlassen werden, Fehler sind nicht erlaubt.
Eine kluge Energiewende kann zum Konjunkturmotor werden. Enorme Investitionen stehen an, die wiederum Wertschöpfung und Arbeitsplätze schaffen können – Investitionen in erneuerbare Energien, in neue Kraftwerke, in Energieeffizienz und nachhaltige Gebäude und in Mobilität. Die deutsche Wirtschaft kann dabei wie keine andere von dem Boom profitieren, etwa durch den Bau von Anlagen, Infrastruktur oder auch Kraftwerken. Hundertausende neue Arbeitsplätze können entstehen.
Folglich ist die Energiewende eine gigantische wirtschaftliche, gesellschaftliche, aber vor allem politische Herausforderung. Erforderlich ist ein Wandel auf allen Ebenen. Unternehmenslenker, die ihre Firma grundsätzlich neu ausrichten wollen, kennen diesen unerlässlichen Prozess. Er umfasst eine komplette Neusortierung und Umorientierung aller Kernbereiche. Nachdem die Ziele der Energiewende klar formuliert sind, muss jetzt deren rasche Verwirklichung folgen. Die Energiewende ist unglaublich komplex und hat zur Folge, dass in vielen Einzelbereichen lose Enden zusammengehalten, zusammengeführt und geschlossen werden müssen. Dafür bedarf es eines umfassenden Überblicks sowie schneller Anpassungen und beherzter Änderungen.
Das alles geht nur mit einem Ministerium, das die Interessen zusammenführt, den „Masterplan“ ausarbeitet und federführend verantwortlich ist. Derzeit werden jedoch zu viele Einzelinteressen in zu vielen Ministerien vertreten und die notwendigen Schritte durch zu viele Einzelinteressen zerrieben. Neben den bekannten Querelen zwischen Wirtschafts- und Umweltministerium hat auch das Bau- und Verkehrsministerium Aufgaben bei der Energiewende, was die Dämmung von Gebäuden oder Konzepte der nachhaltigen Mobilität betrifft. Alternative Energien und alternative Kraftstoffe sind zunehmend auch für das Landwirtschaftsministerium wichtig, da Landwirte mit dem Einsatz von Bioenergie immer mehr zu Energiewirten werden. Zudem mischt das Finanzministerium mit, da verschiedentlich durch staatliche Finanzinstrumente – wie den Einnahmen aus dem Emissionsrechtehandel, der Ökosteuer oder der Subventionierung der deutschen Kohle – finanzielle Interessen betroffen sind. Das Außenministerium ist gefragt, weil Versorgungssicherheit nur mithilfe außenpolitischer Diskussionen sichergestellt werden kann. Damit ist auch das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit beauftragt. Für das Verteidigungsministerium ist Ressourcenknappheit ein wichtiges Thema. Und zu guter Letzt hat das Bildungsministerium die Aufgabe, die Forschung und Entwicklung innovativer Energien zu fördern. Insgesamt sind mindestens neun verschiedene Bundes- sowie diverse Landesministerien mit dem Thema nachhaltige Energieversorgung beschäftigt.
Deshalb brauchen wir einen Masterplan und vor allem eine Institution mit dem klaren Auftrag, die komplexe Energiewende verantwortlich in die Tat umzusetzen. Bisher streitet man sich in parteipolitischen Grabenkämpfen über Einzelthemen. Das bringt die Energiewende nicht voran. Dass es unterschiedliche Interessen gibt, ist klar. Aber der Streit darf nicht zulasten der Energiewende gehen.
Die Energiewende hat gerade erst begonnen. Sie ist ein Marathonlauf von über 42 Kilometern – und nur die ersten Meter sind bereits geschafft. Der Läufer schlägt die richtige Richtung ein, aber am Ziel ist er noch lange nicht. Und er darf nicht vom Weg abkommen oder zu früh außer Atem geraten. Wir haben vier Jahrzehnte des energiepolitischen Umbruchs vor uns, für die heute die Weichen gestellt werden müssen. Deutschland ist Vorbild für die Welt, im positiven wie im negativen Sinne. Gelingt die Energiewende, werden viele applaudieren und unserem Beispiel folgen. Misslingt sie, wäre dies ein Desaster – für Deutschland und die Welt. Wir müssen also jetzt handeln, statt noch lange in zu vielen Ministerien um die Ausgestaltung zu streiten und uns sinnlos zu verzetteln. Ohne eine verantwortliche Institution wird die Energiewende nicht zu schaffen sein. Deutschland braucht ein Energieministerium.