Die Energiewende wird europäisch
Wenn in Deutschland über Energiepolitik debattiert wird, ertönt seit Jahren die Forderung, man müsse die Energiewende europäisch denken. Damit erntet man in der Regel zustimmendes Nicken, doch was mit der Forderung konkret gemeint sein könnte, bleibt oft im Dunkeln. Eine strategische Reflexion über die europäische Dimension der Energiewende sucht man hierzulande bislang vergebens.
Sieht man von der erhofften Signalwirkung auf das Ausland ab, waren sowohl der rot-grüne Atomausstiegsbeschluss des Jahres 2000 als auch der breite Post-Fukushima-Ausstiegskonsens 2011 überdeutlich von einer nationalen Perspektive geprägt. Doch mit dem Amtsantritt der Großen Koalition hat sich dies schlagartig verändert. Die Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) vollzieht sich unter dem Damokles-Schwert eines Beihilfeverfahrens, das von der EU-Kommission am Tag nach der Vereidigung des Bundeskabinetts eröffnet wurde. Zudem begannen im Januar die Verhandlungen über die Fortentwicklung der EU-Energie- und Klimaziele nach 2020, von denen für Deutschland sehr vieles abhängt. Die deutsche Energiepolitik beginnt europäisch zu werden – wenn auch nicht ganz freiwillig.
Als Bundesminister für Wirtschaft und Energie steht Sigmar Gabriel nicht nur vor der ohnehin schwierigen Aufgabe, ein nationales Leuchtturmprojekt auf die richtige Spur zu bringen. Er ist auch mit der Herausforderung konfrontiert, die Energiewende europapolitisch so zu flankieren, dass sie nicht durch Entwicklungen auf EU-Ebene konterkariert wird. Da sich aber die europäischen Rahmenbedingungen in eine für Deutschland eher ungünstige Richtung bewegen, muss nicht zuletzt auch eine Kommunikationsstrategie entworfen werden, die notwendige Kompromisse im EU-Rahmen für die deutsche Öffentlichkeit nachvollziehbar macht und somit dem schon jetzt erhobenen Vorwurf eines „Absägens der Energiewende“ wirksam entgegentritt.
Zum Problem wird dabei ein hierzulande seit zwei Jahrzehnten dominierendes Deutungsmuster: Demzufolge nehmen wir im internationalen Vergleich in der Energie- und Klimapolitik eine Vorreiterrolle ein und sind deshalb immer bestrebt, auch andere Staaten zur Übernahme ehrgeiziger Ziele und Maßnahmen zu bewegen. Sollten unsere Partner in der EU (oder auch in der UNO) zögerlich agieren, dann gehen wir unseren Weg trotzdem unbeirrt weiter, denn früher oder später werden uns die anderen ohnehin folgen. Auf diese Weise profitieren wir langfristig auch ökonomisch von unserer Technologieführerschaft und etablieren Deutschland als „grüne Wirtschaftsmacht“.
Ein solches Deutungsmuster ist aber nur dann realistisch, wenn Deutschland seine Vorreiterambitionen tatsächlich eigenständig verwirklichen kann – also nur dann, wenn die Energie- und Klimapolitik einer weitgehend nationalen Gestaltungshoheit unterliegt. Doch genau dies ist immer weniger der Fall. Denn in der energiewirtschaftlichen, aber auch in der politischen und regulatorischen Praxis ist unsere Souveränität eingeschränkt.
Dies lässt sich an einer Reihe von Beispielen verdeutlichen: Da die EU-Kommission über weitreichende Kompetenzen als Wettbewerbsbehörde verfügt, könnte sie über eine veränderte Auslegung des EU-Beihilfenrechts eine tiefgreifende Veränderung der deutschen Erneuerbaren-Förderung durchsetzen. Die Tatsache, dass die Hälfte des deutschen Treibhausgas-Ausstoßes durch den reformbedürftigen EU-Emissionshandel reguliert wird, schränkt die Möglichkeiten der Bundesregierung, bis 2020 das nationale 40-Prozent-Klimaziel zu erreichen, ganz erheblich ein. Berücksichtigt man zudem die wachsende Verflechtung mit den Strom- und Gasmärkten der Nachbarländer, dann wird die europäische Dimension der deutschen Energiewende unverkennbar. Inzwischen nutzen wir, zum Leidwesen unserer östlichen Nachbarn, an windreichen Tagen die polnischen und tschechischen Stromnetze, um Strom von Nord- nach Süddeutschland zu transportieren, weil die innerdeutschen Leitungskapazitäten bei weitem nicht ausreichen.
Die Bremser bestimmen das Tempo
Das alles ist im Einzelnen nicht neu und wird zumindest in Expertenkreisen auch eingehend diskutiert. Doch die eigentlich naheliegende Folgerung aus den vielfältigen energiewirtschaftlichen, regulatorischen und politischen Verflechtungen ist in der deutschen Debatte bisher noch nicht gezogen worden. Sollte sich die europäische Energie- und Klimapolitik in eine aus deutscher Sicht ungünstige Richtung entwickeln, dann werden wir uns nur noch bedingt von der vorherrschenden Tendenz abkoppeln können. Im Klartext: In Zukunft kann Deutschland von den Bremsern in der EU daran gehindert werden, seine angestammte Vorreiterrolle effektiv auszugestalten.
Am sichtbarsten wird dies schon in den nächsten Monaten bei der Reform des deutschen EEG werden. Dass Sigmar Gabriel seine Eckpunkte – für viele Beobachter und Betroffene unerwartet – schon vor der Kabinettsklausur in Meseberg vorgelegt hat, ist nicht allein als strategisch kluge Spieleröffnung zu bewerten. Es ist auch einem enormen Zeitdruck zuzuschreiben, der vom Beihilfeverfahren der Kommission ausgeht. Kommt es bei der besonders umstrittenen Frage der Teilbefreiung energieintensiver Unternehmen von der EEG-Umlage nicht bis zum Sommer zu einer einvernehmlichen Neuregelung, dann droht ab 2015 ein kompletter Wegfall der Befreiungsmöglichkeiten. Dies wäre für viele der betroffenen Unternehmen existenzbedrohend und würde somit auch den Fortbestand des EEG in seinen heutigen Grundzügen gefährden.
Daraus ergibt sich nicht nur ein ehrgeiziger Zeitplan für Kabinettsbeschluss und gesetzgeberische Beratungen im Bundestag. Auch die frühzeitige Einbindung der Bundesländer lässt sich so erklären. Zwar kann der Bundesrat ein „EEG 2.0“ mangels Zustimmungsbedürftigkeit nicht verhindern, aber eben doch deutlich verzögern. Ein Inkrafttreten zum 1. August 2014 ist ohne frühzeitigen Konsens mit den Bundesländern vollkommen unrealistisch. Da die EU-Kommission bei Konflikten über die Binnenmarktkompatibilität von Staatsbeihilfen zunächst jedoch am längeren Hebel sitzt, wird von der europarechtlichen Überwölbung der EEG-Reform zugleich eine hohe Disziplinierungswirkung auf alle Beteiligten in Deutschland ausgehen. Niemand wird bei einem Scheitern den „schwarzen Peter“ in den Händen halten wollen.
Verkompliziert wird die schon aus Kostengründen notwendige EEG-Reform noch durch eine zweite europarechtliche Konfliktlinie. Die Kommission überarbeitet derzeit ihre Leitlinien für Staatsbeihilfen im Umwelt- und Energiebereich und will deren endgültige Fassung ebenfalls im Sommer 2014 beschließen. Die Mitgliedsstaaten sind am formellen Entscheidungsprozess nur insofern beteiligt, als sie im Vorfeld Stellung zu Leitlinienentwürfen nehmen dürfen. Würde der gegenwärtig vorliegende Kommissionsentwurf Realität werden, würden große Teile der derzeitigen EEG-Systematik unter Druck geraten, etwa die festen Einspeisetarife für einzelne Energieträger.
Hier steht die Große Koalition zum einen vor der Frage, wie sie die Kommission im Vorfeld des Leitlinienbeschlusses möglichst effektiv beeinflussen kann. Zum anderen ist offen, welche beihilferechtlichen Veränderungen man im Zuge der EEG-Reform schon antizipieren will und in welchen Bereichen eine Konfliktstrategie sinnvoll sein könnte, bei der man neue Beihilfeverfahren seitens der Kommission in Kauf nimmt oder gar den langwierigen Weg einer Klärung vor dem Europäischen Gerichtshof anstrebt.
Während die Bundesregierung bei der EEG-Reform von einer öffentlich wahrnehmbaren Konfliktlinie „Wir gegen Brüssel“ unter Umständen bei den deutschen Wählern sogar profitieren könnte, ist dies bei den Verhandlungen über die EU-Energie- und Klimaziele für 2030 kaum vorstellbar. Mit ihrem im Januar präsentierten Vorschlag eines Emissionsminderungsziels von 40 Prozent und einem nur noch auf EU-Ebene geltenden Erneuerbaren-Ziel von 27 Prozent steht zwar zunächst noch die Kommission im Mittelpunkt der (überwiegend kritischen) Debatte. Doch am Ende ist es der Europäische Rat, der über neue Oberziele in der EU-Energie- und Klimapolitik entscheiden wird, und zwar im Konsens aller 28 Staats- und Regierungschefs.
Besonders Polen und andere mittelosteuropäische Staaten werden im Rahmen der nun beginnenden Verhandlungen versuchen, die von der Kommission vorgeschlagenen Ziele weiter abzuschwächen. Beim Erneuerbaren-Ziel werden sie darin auch von Großbritannien unterstützt. In weiten Teilen der EU vollzieht sich derzeit ein Paradigmenwechsel, der die ökologische Nachhaltigkeit nicht länger ins Zentrum der Energiepolitik stellt. Dies steht im direkten Widerspruch zu den Zielen und der Philosophie der deutschen Energiewende.
Harsche Kritik an Kompromissen
Es ist deshalb zu erwarten, dass die Verhandlungen zwischen den Mitgliedsstaaten langwierig und konfliktreich verlaufen werden. Dies ermöglicht es der Bundesregierung in einer frühen Phase zwar durchaus, sich als ambitionierter Vorreiter zu präsentieren: Die deutsche Forderung nach mindestens 40 Prozent Emissionsminderung, einem für alle Mitgliedsstaaten bindenden Erneuerbaren-Ziel von 30 Prozent und der Fortschreibung eines Energieeffizienz-Ziels wird von keinem anderen Mitgliedsstaat übertroffen. Konsensfähig ist diese Position aber bei weitem nicht. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird der Europäische Rat lediglich moderate Ziele beschließen, die noch hinter dem Kommissionsvorschlag zurückbleiben. Überdies dürfte unter den 28 Staats- und Regierungschefs kaum ein Konsens darüber herzustellen sein, das bislang für den gesamten Energiesektor (Strom, Wärme, Verkehr) geltende Erneuerbaren-Ausbauziel mit verbindlichen Vorgaben für die Mitgliedsstaaten fortzuführen. Kaum vorstellbar ist auch die Neuauflage eines europäischen Ziels bei der Energieeffizienz.
Die Bundesregierung wird diesem Verhandlungsprozess große Aufmerksamkeit widmen müssen. Zum einen wird das zum Erreichen eines Kompromisses notwendige Abrücken von den ursprünglichen Positionen in der deutschen Öffentlichkeit auf harsche Kritik stoßen. Die neuen EU-Beschlüsse dürften hinter den bisherigen Transformationsszenarien zurückbleiben und auch kein ermutigendes Signal für die UN-Klimaverhandlungen darstellen, die Ende 2015 in einen umfassenden globalen Vertrag münden sollen. Zum anderen aber – wenn auch weitgehend unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit – wären die negativen Folgen eines wenig anspruchsvollen EU-Kompromisses für die Energiewende mehr als beträchtlich. Die Verhandlungen über neue EU-Ziele sind deshalb mindestens ebenso wichtig wie die anstehende Reform des EEG.
Der Worst Case des kompletten Wegfalls eines EU-Erneuerbaren-Ziels würde den Konflikt um die Vereinbarkeit des deutschen Fördersystems mit dem EU-Beihilfenrecht noch verschärfen. Das bislang akzeptierte Argument, beim EEG handele es sich um ein Instrument zur Erreichung eines europäischen Politikziels, würde deutlich geschwächt. Doch nicht nur die deutsche Erneuerbaren-Politik könnte aufgrund schwacher EU-Beschlüsse unter Anpassungsdruck geraten. Sollte die EU ihren Ehrgeiz beim Klimaschutz bremsen und der Preis für Emissionszertifikate dauerhaft niedrig bleiben, werden sich die im Rahmen der Energiewende gesetzten Emissionsminderungsziele nicht mehr einhalten lassen, weil von den niedrigen Preisen besonders Kohlekraftwerke profitieren. Über das seit 2013 vollständig europäisierte Emissionshandelssystem, das keine wirksamen nationalen Eingriffe mehr ermöglicht, schlägt eine schwache EU-Klimapolitik direkt auf das deutsche Emissionsniveau durch.
Die Energiewende hatte de facto schon immer eine europäische Dimension, doch politisch kam dies bislang kaum zum Tragen – auch weil bislang nur wenig Bereitschaft dazu bestand, sich selbst und gegenüber einer breiten Öffentlichkeit einzugestehen, dass die Handlungsautonomie der deutschen Energiepolitik eingeschränkt ist. Unter dem Druck der EU-Kommission und im Zuge der Verhandlungen über EU-Ziele bis 2030 beginnt sich dies nun zu ändern, wenn auch aus einer relativ defensiven Position heraus.
Einige der anstehenden Entscheidungen werden deshalb mit schmerzhaften, aber notwendigen Kompromissen verbunden sein. Mit dem Beifall des Publikums darf man dabei nicht allzu häufig rechnen, ganz im Gegenteil. Diesem Dilemma wird man nur dann entkommen können, wenn es mittelfristig gelingt, eine strategisch durchdachte und proaktive Europapolitik zur Energiewende zu betreiben – nach den Versäumnissen der Vergangenheit durchaus eine Aufgabe für die gesamte Legislaturperiode.