Die Erneuerung muss radikal-pragmatisch sein



1 Die Krise der sozialdemokratischen, der in der Tradition der Arbeiterbewegung stehenden linken Parteien generell, ist existenziell. Sie ist grundlegend, weil die Welt, die die Sozialdemokratie hervorgebracht und die von der Sozialdemokratie gestaltet wurde, so nicht mehr existiert. Die Erfahrungen und Erwartungen derer, die sozialdemokratisch denken, wählen und fühlen, sind in der neuen globalisierten Welt nicht mehr verfügbar beziehungsweise durch neue Gefährdungen überdeckt.

Das wichtigste Instrument klassischer sozialdemokratischer Gestaltung von Fortschritt und sozialem Ausgleich – der Nationalstaat – ist obsolet. Er taugt noch zur Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen; er hätte aber transformiert werden müssen zu einem Übergangsinstrument zwecks ökonomischer, vor allem aber auch sozialer und kultureller Gestaltung einer neuen Welt der Globalisierung. Das allerdings haben die sozialdemokratisch geführten Regierungen in Europa verpasst, als sie um die Jahrtausendwende die Chance dazu hatten.

Obsolet ist auch die Grundidee, die die Arbeiterbewegung stets getragen hatte: die Vorstellung vom unmittelbaren Zusammenhang zwischen ökonomischem und technologischem Fortschritt auf der einen und sozialem Aufstieg auf der anderen Seite. Unter den Bedingungen der Globalisierung fällt beides derzeit räumlich auseinander. Das produziert einen neuen sozialen Typus: den des „Globalisierungsverlierers“. Als Nokia vor zwei Jahren den Beschäftigten des verlagerten Bochumer Werkes Stellen in Rumänien anbot, war klar, dass diese von dort aus ihre Familien in Deutschland nicht würden ernähren können. Ein Rumäne in Deutschland hätte dies umgekehrt gekonnt – dafür aber keine sozialdemokratische Regierung gebraucht.

2 Nötig ist ein programmatischer Neustart, ein zwar auf dem Wertekanon der sozialen Demokratie, des demokratischen Sozialismus beruhendes, aber von ideologischen, institutionellen und regulatorischen Gewissheiten freies, gleichermaßen pragmatisches wie radikales Herangehen an die drängenden gesellschaftlichen Großprobleme. Nicht das Aufspannen immer teurerer Rettungsschirme ist die strukturelle Antwort auf die Finanzkrise, sondern die Begrenzung der willkürlichen Geldschöpfung wie der staatlichen Superverschuldung, die Stärkung der Zentralbanken, die Einschränkung der Spekulation und ihr Ausschluss für Bereiche wie Lebensmittel oder Wasser, die Untermauerung des Euro durch eine demokratische Wirtschafts- und Sozialunion. Wir brauchen eine politisch austarierte Balance von Globalisierung und Regionalisierung – und auch dafür ökologische Preise. Gewinner in der Globalisierung wird, wer technologischen Aufbruch schafft, und nicht, wer sich in den Verfall von Sozialstandards rettet.

Der Paradigmenwechsel von der nachsorgenden Sozialpolitik zur vorsorgenden Gesellschaftspolitik muss praktisch vollzogen werden. Nur so wird der aktive Neubeginn von Menschen und Regionen als Überwindung von Entwicklungsbrüchen möglich. Demokratie darf nicht beklagt, sondern muss ausgeweitet werden – auch auf die Wirtschaft und die Finanzwelt.

3 Die Menschen, die gesellschaftlichen Fortschritt wollen, für die bürgerliche Freiheits- und soziale Menschenrechte gleichermaßen wichtig sind, werden Sympathisanten bleiben – allen Irritationen, Abwegen und Verführungs- wie Vereinseitigungsversuchen zum Trotz. Eine Bestandsgarantie für einzelne Parteien ist das nicht. Das Spektrum der Möglichkeiten reicht vom faktischen Zerfall des alten Partito Socialista Italiano (PSI) und der Sozialdemokratisierung der Ex-Kommunisten wie in Italien über die Schrumpfung zur „kleinen Volkspartei“ wie derzeit in Deutschland bis hin zu neuer Hegemoniefähigkeit.

Welche der Varianten eintritt, hängt nicht allein von der radikal-pragmatischen Erneuerung an sich ab, sondern sehr stark von der Wechselwirkung mit externen Faktoren: von der wirtschaftlichen Entwicklung, der Euro-Krise, der Stabilität oder Instabilität der EU, der Kraft oder Impotenz des bürgerlich-liberalen Lagers, der Integrationsfähigkeit grüner Parteien, dem Selbstbehauptungsvermögen und gegebenenfalls der Läuterung (links-)populistischer Bewegungen. Für die SPD erscheint in diesem Koordinatensystem eine Stabilisierung auf dem derzeitigen bescheidenen Niveau und ein allmählicher politischer Bedeutungszuwachs an der Seite der Grünen am wahrscheinlichsten – allerdings gebremst und auf prekärer Grundlage, solange die programmatische Erneuerung noch stockt.

Die politische Kraft der Sozialdemokratie insgesamt hängt in Deutschland aber mit von der Linkspartei ab – einem Symptom der Spaltung nach der Schröder-Ära. Deren weitere Degeneration würde die politische Marginalisierung linker Demokraten forcieren und auf Dauer stellen. «

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