Die europäische Depression der Linken
Man kann die Geschichte der seit fünf Jahren anhaltenden Finanzkrise auch als eine Geschichte des Scheiterns der politischen Linken erzählen. Die Bundestagswahl hat dieses Scheitern vorläufig besiegelt. Denn mit dem Sieg der Bundeskanzlerin wird die Methode Merkel, wird die Konditionalität von monetärer Stützung und fiskalischer Austerität auf absehbare Zeit der Modus bleiben, in dem die europäischen Staaten ihre jeweiligen Folgeprobleme bewältigen müssen. Man muss kein Hellseher sein, um zu erahnen, welche Auswirkungen der Primat intergouvernementaler Krisenbekämpfung auf die Europawahl im kommenden Jahr haben wird.
Bereits jetzt verstummt die Rede von der Krise als Integrationsmotor, die mit quasi historischer Notwendigkeit aus der Bewältigung der Refinanzierungsprobleme einzelner Staaten auf eine Vergemeinschaftung der Fiskal-, Wirtschafts-, ja sogar der Sozialpolitik folge. Im Gegenteil, die Faktizität des nationalstaatlich organisierten und orientierten Verhandlungsregimes entfaltet ihre volle normative Kraft.
Der Kapitalismus ist defekt. Warum gerät da ausgerechnet die Linke in die Krise?
Bereits das oppositionelle Beschweigen der Europapolitik im Wahlkampf deutete darauf hin, dass sich Rote wie Grüne davon keinen nennenswerten Wählerzuspruch erhofften. Und man ahnt bereits, wie in einer Großen Koalition die europapolitische Arbeit verteilt sein wird: In den Grundlinien wird Gleichmarsch gepflegt werden. Und sollte die SPD integrations- und wirtschaftspolitisch vorpreschen, wird das der Kanzlerin die willkommene Gelegenheit bieten, sich als das ausgewogene Mittelmaß zwischen diesem Integrationsbegehren und dem Finanzierungsvorbehalt der deutschen Wählerschaft zu präsentieren. Deren Zuspruch dürfte ihr auch weiterhin gewiss sein. Die Bataillone intellektueller und zivilgesellschaftlicher Befürworter eines europäischen Integrationsprojektes sind mittlerweile auf Kompaniestärke geschrumpft. Die Debattenlage auch innerhalb der Linken ist unübersichtlicher, eine eindeutige Zuordnung von fort- oder rückschrittlich, technokratisch oder demokratisch ist schwieriger geworden.
Diese Defensive der Linken ist erklärungsbedürftig. Denn als sich auf dem Höhepunkt der Finanzkrise die Banken in einem geradezu Forsthoffschen Sinne als staatsbedürftig erwiesen, hegte nicht nur sie die Erwartung, der Marktliberalismus sei endgültig desavouiert und nunmehr kehre der Staat zurück. Zu groß schien die Schmach der Banker, Börsengurus und ihrer Flankenschützer in der Wirtschaftswissenschaft, denen mit den Kursen das Weltbild zusammenbrach.
Der Staat ist zurückgekommen, doch er ist nicht mehr der alte. Er hat in den vergangenen Jahren sein Letztes gegeben, um den Status quo ante finanzwirtschaftlicher Omnipotenz zu restaurieren. In der Konsequenz ist die Politik von der Autonomie, die sie damit insinuierte, weiter entfernt denn je. Die Linke war klug in der Analyse der offenbar gewordenen Schwächen des Neoliberalismus. Sie war wortgewaltig in der Anklage der sozialen Verwerfungen, welche mit dieser Krise und den Verfahren ihrer Bewältigung einhergingen, und kreativ in der Entwicklung möglicher Verfassungsmodelle europäischer Integration, welche die Misere grundlegend überwinden und weiteren vorbeugen sollten. Doch sie hat darüber keine Macht gewonnen. Das Volk, in dessen Namen sie sprach, hat es ihr nicht vergütet. Das ist die Depression, an der sie leidet. Was landläufig Eurokrise genannt wird, ist auch eine Krise der Linken. Sie hat sich nicht nur zum unfreiwilligen Vasallen der „Märkte“ gemacht, ihr droht mit Europa zudem eine ihrer letzten konkreten Utopien verloren zu gehen.
Jede Depression hat einen Auslöser und verweist zugleich auf eine grundlegende Disposition. Der Auslöser ist eine Konstellation wahrgenommener Ausweglosigkeit. Die Ausweglosigkeit der Linken ist in gewisser Weise selbstgewählt, das macht Lösungen umso schwieriger. Auf dem Höhepunkt der Bankenkrise 2009 forderten die Fraktionsvorsitzenden der Grünen, Renate Künast und Jürgen Trittin: „Die Zeit vermeintlicher und vorgeschobener Sachzwänge muss ein für allemal vorbei sein. ‚TINA‘ – There is no Alternative – dieses politische Credo von Margret Thatcher hat im wahrsten Sinne des Wortes abgewirtschaftet.“ Seinerzeit war die SPD noch in der Regierung und ihr Finanzminister Peer Steinbrück übte sich gemeinsam mit Kanzlerin Angela Merkel bei der Etablierung der diversen nationalen Bankenrettungsprogramme in genau dieser Sachzwanglogik. Anscheinend waren die Sachzwänge doch nicht so vorgeschoben, wie Trittin und Künast unterstellten, denn in der folgenden Legislaturperiode gemeinsamer Opposition sind SPD und Grüne bei allen zentralen europapolitischen Entscheidungen Merkels TINA-Politik gefolgt, murrend zwar und Verbesserungen einklagend, das Prinzip aber nie infrage stellend – weder als es anfangs um eine mögliche Beteiligung der privaten Investoren an der Rettung Griechenlands ging, und auch zum Ende nicht, als in der Zypernkrise selbst Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble das die Finanzhilfe begründende systemische Risiko der dortigen Banken in Abrede stellte.
Merkels pfennigfuchsendes Zaudern
Dabei war das Agieren der Regierung Merkel alles andere als eine handwerkliche Meisterleistung, wie die Bundestagsfraktion der Grünen in einem Gutachten selbst festgestellt hat. Von den 90 Milliarden Euro, die allein in die Krisenstaaten Griechenland, Spanien und Zypern flossen, hätte gut ein Drittel eingespart werden können, wenn die Gläubiger konsequenter beteiligt, die Maßnahmen früher ergriffen worden wären und sich die Staaten nach amerikanischem Beispiel nicht direkt, sondern über Anleihen an den maroden Banken beteiligt hätten. Wenn in ein paar Jahren eine Gesamtbilanz der Eurorettung (die eigentlich eine Finanzkapitalrettung war) gezogen wird, dürfte diese Summe noch um einiges größer ausfallen.
Merkels pfennigfuchsendes Zaudern hat nicht nur Geld gekostet, sondern auch zu einer Achsenverschiebung in der Schuldenbekämpfung geführt: Als sich das zwischenstaatliche, eigentlich verbotene Bailout als unzureichend erwies, um die Spekulationen zu drosseln, übernahm die Europäische Zentralbank (EZB) die ihr eigentlich verbotene Rolle eines Finanziers der maroden Banken und Staatshaushalte. Der Zweck heiligte nicht nur das Mittel, die monetäre Mystik vernebelte die Lasten und diejenigen, die sie zu tragen haben werden. Die Schuldenbekämpfung wurde erfolgreich entpolitisiert. Kein politischer Akteur, sondern einzig die Bundesbank warnte vor den Konsequenzen dieses geldpolitischen Changierens zulasten der Kernaufgabe der EZB, der Geldwertstabilität. So verfestigte sich in der Öffentlichkeit das Bild eines umsichtigen Krisenmanagements der deutschen Kanzlerin. Und an diesem Bild, das sie zugleich beklagte, hat die Opposition mitgewirkt.
Wo post festum die national-parlamentarische Zustimmung zur intergouvernementalen Krisenpolitik der Kanzlerin eingefordert war, haben SPD und Grüne sie gegeben. Auch die Rolle der Zentralbank für die Schuldenpolitik wurde von beiden akzeptiert, obwohl die Geldschwemme kaum die proklamierte Wirkung auf die Realwirtschaft zeitigte. Die niedrigen Zinsen haben den deutschen Sparer, also den legendären kleinen Mann der SPD, in diesem Jahr bereits 14 Milliarden Euro gekostet. Es ist absehbar, dass diese Entwicklung ihn über Kurz oder Lang aufbringen und politisieren wird. Doch die politische Antwort der linken Parteien erkennt bislang in dieser kalten Enteignung nur den Kollateralschaden einer auf jeden Fall zu begrüßenden Eurorettung durch die EZB – auch wenn diese sich nur als Notbehelf für die versagenden Geber-Staaten ins Spiel gebracht hat. Diesen Sachzwang der Entwicklung macht die Linke zu ihrem eigenen, denn auch für sie gilt: Scheitert der Euro, so scheitert Europa.
Somit reduziert sich die Unterscheidbarkeit der Opposition von der Regierung auf die öffentlich kaum mehr wahrgenommene Forderung nach einer darüber hinaus gehenden europäischen Krisenbekämpfung, die von einem vergemeinschafteten Schuldendienst in Form von Eurobonds über eine abgestimmte Fiskalpolitik bis hin zu einer Transferunion reichen soll, eingebettet in eine Kompetenzverlagerung auf die Brüsseler Institutionen.
Sofern damit eine ökonomische Entlastung verbunden ist, wissen sich Grüne und SPD mit diesen Forderungen mit den Krisenstaaten einig. Doch liegt darin mehr ein Problem als eine Lösung. Denn mit der Eurokrise hat sich das Verhandlungsregime in Europa grundlegend geändert. Dessen Einwohner treten sich nicht mehr nur in ihrer doppelten Rolle als Bürger ihres Landes und der Europäischen Union gegenüber – so brüchig die europäische Identität auch sein mag –, sondern auch als Marktbürger, Schuldner und Gläubiger. Die Bereitschaft zur Kreditgabe speist sich nicht allein aus der angestrebten Finalität des gemeinsamen europäischen Hauses, sondern auch aus der Fähigkeit der Gegenseite, die Kredite bedienen zu können. Zumal die Gläubigerstaaten bereits erhebliche Steuermittel zur Rettung der eigenen Banken aufgebracht haben und erkleckliche eigene Schuldenberge vor sich herschieben, die sich angesichts ihrer sozio-ökonomischen Verfasstheit in den kommenden Jahren eher vergrößern werden, und die sich nur um den Preis von Einschnitten in die staatliche Daseinsvorsorge und die sozialen Besitzstände der Bürger reduzieren lassen.
Im Euroraum herrscht das Austeritätsregime der Troika
Mit dem Kreditverhältnis ist neben das für ein politisches Gemeinwesen unerlässliche Vertrauen in die Mitbürger das für eine Marktwirtschaft typische Misstrauen in dessen Bonität getreten. Die bisherigen Verhandlungen des Europäischen Rates über die Schuldenkrise sind Manifestationen dieses Misstrauens. Merkels gesammeltes Schweigen ist nicht nur Ausdruck ihres rhetorischen Unvermögens und ihrer Unfähigkeit zu konzeptioneller Politik, sondern eine bei Kreditverhandlungen durchaus angemessene Verhaltensweise. Die Tatsache, dass über den Umweg der Kredite von Staat zu Staat letztlich nur „die Märkte“, also Banken und Fonds, bedient wurden und werden, tut dieser Sichtweise keinen Abbruch. Zwar haben diese das Geld erhalten, doch sind sie damit raus aus dem Geschäft. Die Rückzahlungsverpflichtung liegt beim griechischen, irischen und portugiesischen Steuerzahler.
Damit sind die Fragen der Zahlungs- und Rückzahlungsbedingungen und deren Kontrolle zu einer zentralen Kategorie der zwischenstaatlichen Beziehungen geworden. Das Austeritätsregime hat sich im Euroraum etabliert, mit der Troika als einer Exekutive, an deren Durchgriffsmöglichkeiten in die innerstaatlichen Gefüge die EU-Kommission niemals heranreicht. Auf deren Durchgriffsfähigkeiten dürften die Kreditgeber-Länder allerdings sowieso nicht vertrauen. Denn da sie innerhalb der EU eine Minderheit bilden, widerspräche es der wirtschaftlichen Rationalität, die Steuerung den EU-Organen zu überlassen.
Nun entspricht es dieser Rationalität zwar ebenfalls, dass der Hauptkreditgeber Deutschland als Exportnation in ganz besonderer Weise vom Euroraum profitiert; die parlamentarische Linke wird nicht müde, dieses Argument für eine Europäisierung der Schuldenpolitik ins Feld zu führen. Doch dies ist ein wirtschaftliches Argument dafür, den Euroraum nicht auseinanderfallen zu lassen, jedoch kein zwingendes Argument dafür, die Gläubigerländer durch Schuldenerlass zu stabilisieren.
So dies doch passiert, dürfte es weniger dem Gedanken innereuropäischer Gerechtigkeit als vielmehr der Angst vor sozialen und politischen Verwerfungen in den Schuldnerländern geschuldet sein, die deren Rückzahlungsfähigkeit gefährden könnten. Die Rettungs-Verhandlungen in der EU gleichen einem Pokerspiel, bei dem der einzige „Trumpf“ der Schuldnerländer innere soziale Unruhen sind, die sie dazu nötigen könnten, den Euroraum zu verlassen. Davor schrecken die Geberländer zurück, denn das würde für sie in dem Maße finanziell und politisch immer teurer werden, in dem sie wirtschaftlich und fiskalisch von dem einheitlichen Euroraum profitieren und die ursprünglichen privaten Gläubiger durch eigene Steuermittel ausgelöst haben. Eine solche Entwicklung könnte allerdings den jeweiligen Schuldner-Regierungen auch die Macht kosten. Es ist ein riskantes Spiel.
Andererseits wird es zu keiner Angleichung der jeweiligen nationalen Wirtschaftskraft kommen, deren eklatante Disparität im Laufe der Finanzkrise evident geworden ist. Dazu reichen – den politischen Willen vorausgesetzt – die Mittel der Geberländer nicht aus. Es eröffnet sich also das Szenario eines fortgeschriebenen Status quo disparater Produktivitäts- und Wohlstandsniveaus innerhalb eines Währungsraums, der in seinen sozialen Auswirkungen durch Transferzahlungen wohl abgemildert, aber nie aufgehoben werden kann. Solche Szenarien sind in abgeschwächter Form aus den Nationalstaaten bekannt. Ob Katalonien in Spanien, die Lombardei in Italien oder der Südwesten in Deutschland – die wohlhabenderen Regionen setzen sich ab, sobald sie ihren wirtschaftlichen Status durch Transfers an die ärmeren bedroht sehen. Italien und Deutschland sind Beispiele dafür, dass trotz jahrzehntelanger Transfers eine Angleichung der Lebensverhältnisse nicht gelingt und dass auch das Versprechen eines wirtschaftlichen Aufbaus nur begrenzt eingelöst werden kann. Wenn dies aber innerhalb eines Nationalstaates mit seinen stabilen Solidarbezügen nicht möglich ist, wie soll es dann innerhalb Europas mit seiner nur rudimentär ausgebildeten kollektiven Identität gelingen?
Das europäische Dilemma der politischen Linken
Die Linke ist mit einem Dilemma konfrontiert, das in ihrer europapolitischen Disposition angelegt ist. Sie hat von Anfang an sowohl zur Erweiterung der EU als auch zu deren Vertiefung eine weit reichende Position vertreten. Beidem wurde ein quasi-intrinsischer Wert zugesprochen, der sich normativ und ökonomisch begründete. Normativ galt die Vereinigung Europas als eine Lehre der Vergangenheit des blutigen zwanzigsten Jahrhunderts, als Garant einer langen Friedenphase. Dieses Gründungs-Credo wurde durch die Integration der südeuropäischen Ex-Diktaturen in den achtziger Jahren und durch die Aufnahme der mittel- und osteuropäischen Länder und vor allem der Zerfallsstaaten des ehemaligen Jugoslawiens bestätigt. Implizit wird damit auch die weitere Expansion der EU, vornehmlich die Aufnahme der Türkei begründet.
Ökonomisch wird der Binnenmarkt nicht nur als Prosperitätsmodell, von dem die Einzelstaaten aufgrund umfassender Liberalisierung profitieren, sondern auch als Zuwachs an Bürgerrechten gefeiert, an Konsumenten-, Reise-, Arbeitnehmer- und Niederlassungs-, Studienfreiheit et cetera. Die Größe des Binnenmarktes ermöglicht es der EU zugleich, als „Player“ maßgeblichen Einfluss auf die globale Politik zu nehmen. Dabei entfaltet die ökonomische Integration eine das Politische treibende Dynamik, der Global Player lässt sich nur in dieser Doppelrolle denken.
Lange gab es die Vorstellung, Erweiterung und Vertiefung seien sich ergänzende Prozesse, die in der Finalität des geeinten Europas münden würden. Diese Finalität war und ist die europäische Vision der Linken. Doch dieses europäische Fortschrittsbewusstsein ist mittlerweile brüchig geworden, und mit der zunehmenden zeitlichen Distanz reicht der normative Rekurs auf die friedensstiftenden Gründungsgedanken nicht mehr, um diese Brüche zu kitten. Das ökonomische Argument trägt noch, doch vornehmlich nur, sofern sich darin die nationalen Interessen wiederfinden. Aber auch diese werden differenziert. Wenn der Euro Deutschland nützt, ist damit nicht gesagt, ob damit der deutsche Arbeitnehmer oder die Deutsche Bank gemeint ist.
Ein Europa enormer Divergenzen
Erweiterung und Vertiefung stehen in einem Spannungsverhältnis. Die Erweiterung hat zu den enormen Divergenzen der Produktivität und des Wohlstandes geführt, die mit der Eurokrise offenbar geworden sind. Sie hat Hochsteuerländer wie Dänemark und Schweden mit Niedrigsteuerländern wie Irland und Zypern vereint, sie hat entwickelte Sozialstaaten wie Deutschland mit Armutsländern wie Bulgarien zusammengeführt. Mit jeder Erweiterung mehrten sich die Vorstellungen, mit welchem Ziel und mit welchen Mitteln diese Unterschiede in einem gemeinsamen Regime vereint werden und in welchem Maße die Einzelstaaten auf ihre Souveränität verzichten sollen. Entsprechend fokussiert sich die Vertiefung schon seit Langem auf den kleineren gemeinsamen Nenner: die ökonomischen Interessen der Mitgliedsstaaten, zu denen sich die Integrationsmaßnahmen gesellten, welche die Europäischen Institutionen dem eigenen Einflussbereich aus Machtinteresse zufügen – häufig gestützt auf die Interpretationen des europäischen Primärrechtes durch den Europäischen Gerichtshof.
Erweiterung und Vertiefung waren und sind Präferenzen der wirtschaftlichen und politischen Eliten. Sie wurden lange Zeit von einem permissiven Konsens der europäischen Völker mehr geduldet denn getragen, und bereits die diversen Referenden, die zu den Verträgen von Nizza und Lissabon sowie dem Verfassungsvertrag abgehalten wurden, zeugen davon, dass, wenn es zum Schwur kommt, diese Duldung eher in Ablehnung denn in Zustimmung umschlägt. Dafür dürfte nicht nur der damit verbundene Verlust an nationaler Souveränität ausschlaggebend sein.
Mit der Eurokrise wird die Vertiefung von einer Dynamik vorangetrieben, die weniger auf politischem Willen beruht, sondern vielmehr von den „Märkten“ erzwungen wird. Bestehendes Europarecht wird einfach außer Kraft gesetzt, neue Institutionen wie der Europäische Stabilisierungsmechanismus ESM, die Bankenunion und die Troika entstehen mit weit reichenden Durchgriffsrechten in den vormals souveränen Bereichen der Einzelstaaten. Sowohl in den Nehmer- als auch in den Geberstaaten reduziert sich parlamentarisches Entscheiden auf die Akklamation exekutiver Vorgaben; wesentliche Bereiche exekutiven Handelns, die erheblich auf die Verwendung der Steuermittel zurückwirken, werden der parlamentarischen Kontrolle entzogen, obgleich dies eigentlich legislative Kernkompetenz ist.
Das Spannungsverhältnis von Erweiterung und Vertiefung ging in der Geschichte der Europäischen Gemeinschaft schon immer zu Lasten ihrer demokratischen Verfasstheit. Die linke Vorstellung von der Finalität Europas war gespeist aus dem Willen, dieses Dilemma zu lösen, ohne an einer der drei Seiten Abstriche machen zu müssen. Diese Vorstellung ist mit der Eurokrise an eine (vorläufige?) Grenze gestoßen. Wer die jüngsten Einlassungen von Jürgen Habermas, Claus Offe und Wolfgang Streeck liest, der merkt, dass die frühere Zuversicht zunehmend der Skepsis weicht. Ein demokratisches Europa ist ohne einen Demos, der sich auf Europa bezieht, nicht zu entwickeln.
Europa und der geistige Horizont des Durchschnittsbürgers
Auch wenn die Demokratie durch die Eurokrise in ihrem angestammten nationalen Gehäuse einer erheblichen Belastung ausgesetzt ist, erweist sich der Nationalstaat nach wie vor als der Ort, an dem die Politik der Regierungen an den Wählerwillen zurückgebunden wird. Von daher ist die in linken Kommentierungen anzutreffende Wahrnehmung der Krise als Motor einer Vertiefung der EU eine zwiespältige Betrachtungsweise.
Die Verlagerung der Maßnahmen zur Krisenbekämpfung auf die europäische Ebene, für die sich sowohl SPD als auch Grüne stark machen, hat eine Reihe von funktionalen Argumenten auf ihrer Seite. Eurobonds würden zweifellos die Kreditlasten der Krisenstaaten verringern. Ebenso erscheint es naheliegend, mit der Aufsicht der europäischen Banken eine europäische Institution zu betrauen und die Förderung der brachliegenden Wirtschaft in den Krisenländern europäisch zu organisieren.
Für eine solche Kompetenzverlagerung von der nationalen, genau genommen intergouvernementalen, auf die europäische Ebene wäre allerdings deren demokratische Ausgestaltung unabdingbar. An ausgefeilten Modellen einer europäischen Demokratie und ihrer normativen Einbettung mangelt es nicht, doch die Vernunft ihrer deliberativen Hervorbringung findet keinen Anker im Alltagbewusstsein der europäischen Bürger. Europa ist in der linken Denktradition, in den Argumenten von SPD und Grünen, vornehmlich policy, während sich der Bürger, wenn überhaupt, für politics interessiert und darüber seinen Weg nach Europa findet. Politics heißt (soziale) Interessenspolitik, bedeutet Eigennutz, Abwägung und Aushandlung wechselseitiger Interessen. Europa ernst zu nehmen heißt, es nicht mehr als Außenpolitik, sondern als Innenpolitik zu kommunizieren, bedeutet Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten. Nur so lässt sich, wenn überhaupt, die Etablierung von Parteiformationen auf europäischer Ebene entlang der klassischen Cleavages vorstellen, die unabdingbar sind, um eine europäische Öffentlichkeit herzustellen. Diese entwickelt sich nämlich nicht über die Thematisierung der supranationalen Verfasstheit, sondern in der Empörung über einen nicht funktionierenden griechischen Steuerstaat oder die Effekte irischer Steuersparmodelle oder in dem Mitgefühl mit arbeitslosen spanischen Jugendlichen oder rumänischen Roma.
Während die politische Rechte in abgrenzender Absicht jederzeit bereit ist, die innere Verfasstheit anderer Staaten zu thematisieren, zeigt die politische Linke auf diesem Feld eine erstaunliche Zurückhaltung, zumindest gemessen an ihrer Leitvorstellung eines zusammenwachsenden Europas. Ihre Haltung erinnert an die, welche die SPD in den achtziger Jahren zu den Ostblockstaaten pflegte: um des Friedens willen keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten. Die Geschichte hat sie eines Besseren belehrt. So schwierig es ist, eine europäische Öffentlichkeit herzustellen: Diese wäre die Voraussetzung einer europäischen Demokratie, einer Regierung durch und für ein europäisches Volk. Entgegen einer innerhalb der Linken häufig anzutreffenden Betrachtungsweise ist dieses Volk keine die inneren Widersprüche glattbügelnde transzendentale Größe. Vielmehr ist es das konkret Vorfindliche, das sich in der Auseinandersetzung über seine je unterschiedlichen Interessen und Traditionen konstituieren müsste. Dieser schwierige Prozess müsste zudem dem häufig vernachlässigten Kriterium des italienischen Politologen Giovanni Sartori genügen: „Demokratie ist zwar komplizierter als jede andere politische Form, doch paradoxerweise kann sie nicht fortbestehen, wenn ihre Grundsätze und Mechanismen den geistigen Horizont des Durchschnittsbürgers übersteigen.“ Bislang ist das europäische Institutionengefüge und sind auch seine direktdemokratischen Ergänzungen, sind die vermeintlich so demokratiefreundlichen Varianten der Governance und auch die propagierten Modelle europäischer Finalität weit davon entfernt, dem Rechnung zu tragen.
Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Fairness – das wäre ein Anfang
Um als Demokratie verstanden zu werden, müsste die europäische Demokratie eine sein. Und dies vor allem in dem Maße, wie sie verstärkt die Lebensverhältnisse ihres Souveräns regeln will. Doch bereits das Wahlrecht der EU verstößt in seiner auf Ausgleich zwischen den Nationen bedachten Gewichtung gegen das elementare Prinzip der Stimmengleichheit. Die Besetzung und Kontrolle der Kommission ist, wie auch die legislative Macht des Europäischen Parlaments, weit davon entfernt, demokratischen Kriterien zu genügen. Die nationale Prägung bestimmt zum großen Teil dessen Beratungen und es bedarf wenig Phantasie, um sich bei einer Europäisierung der Krisenbekämpfung auszumalen, entlang welcher nationalen Grenzlinien sich Mehrheiten bilden würden. Da scheint es für den europäischen Bürger greifbarer, wenn die Konflikte auf der intergouvernementalen Ebene ausgetragen werden.
Wenn einerseits die Entscheidungen des intergouvernementalen Regimes nur als mittelbar demokratisch anzusehen sind und es andererseits der föderalen Demokratisierung der EU womöglich an der Existenz, sicher aber am Willen eines europäischen Souveräns mangelt, so sollten sich die demokratischen Anstrengungen vielleicht darauf konzentrieren, die Verfahren der europäischen Willensbildung und Entscheidungsfindung in einer Weise transparent, nachvollziehbar und fair zu gestalten, dass sie legitimierende Kraft entfalten.
Jahrelang hat die politische Linke dem föderalistischen Modell einer europäischen Demokratie angehangen und gemeint, es würde allein schon ob der Vernunft seiner Hervorbringung bestechen. Diese Zukunftsgewissheit hat mit der Schuldenkrise einen Einbruch erlitten. Das Modell ist allerdings nicht an seiner normativen Unzulänglichkeit gescheitert, sondern an seiner mangelnden realpolitischen Akzeptanz bei Regierenden und Regierten. „Es genügt nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen“, schrieb Karl Marx. An diesem mühseligen Geschäft gilt es weiterzuarbeiten.