Die große Gereiztheit
In welcher Stimmung ist die Welt? Gute Frage. Es ist nicht einfach, eine Antwort zu formulieren, sofern man nicht der Versuchung erliegen möchte, sich einen Reim auf die Komplexität der globalen Verhältnisse zu machen, indem man sie am Zustand des eigenen Gemüts bemisst. Die psychologisierende Gesellschaftsbetrachtung war schon immer ein ebenso lukrativer wie anrüchiger Zweig des wissenschaftlichen Literaturbetriebs. Und es lässt skeptisch aufhorchen, wenn in jüngster Zeit zwei der kritischen Tradition des Metiers verpflichtete Soziologen wie Heinz Bude und Hartmut Rosa sich des Gefühls der Welt und der Resonanz der Weltbeziehungen annehmen.
Damit befinden sie sich in bester Gesellschaft mit Forschern und Feuilletonisten, die an die Stelle empirisch erhärteter Konzepte wie „Schicht“, „Klasse“, „soziale Mobilität“ und „soziale Gerechtigkeit“ zunehmend weiche Kategorien wie „Wutbürger“, „Angst“, „Beschleunigung“ oder „Resilienz“ setzen. Dies sind die vorläufig letzten literarischen Blüten einer Wissenskultur, die versucht, dem Weltgeist nicht mehr über seine hegelsche Großhirnrinde, sondern über seinen postmodernen Mandelkern nahezukommen. Damit sind die betreffenden Autoren zugleich Diagnostiker wie Symptome ihrer Zeit. Die Resonanz, die diese Art der Gesellschaftsbetrachtung nicht nur bei ihrem Gegenstand, sondern besonders auch in der Politik erfährt, lässt auf ein wachsendes Bedürfnis nach Selbstvergewisserung schließen, das selbst wiederum als Ausdruck der beschriebenen Unsicherheitslagen gedeutet werden kann.
Volatilität herrscht auch am Wählermarkt
Dies trifft in verschärftem Maße die Parteien, deren soziale Verankerung sich aufgrund des Mitglieder- und Wählerschwunds im Laufe der vergangenen Jahrzehnte gelockert hat. Ihr Sensorium für gesellschaftliche Prozesse ist hierdurch fehleranfälliger geworden. Sie sind nicht mehr allein Resonanzkörper der Interessen ihrer jeweiligen Milieus, sondern filtern ihr Standing im gleichen Maße aus der Response, die ihre Politik erfährt. Dabei bedienen sie sich in Ermangelung eigener gesellschaftlicher Sensoren der Medien als Filteranlagen, wohlwissend, dass diese die gewünschten Erkenntnisse aufgrund ihrer eigenen Aufmerksamkeitsökonomie verzerren. Dies macht das Verfahren, das die Verfassung so schön lakonisch als „politische Willensbildung“ beschreibt, schon im politischen Normalbetrieb zu einer äußerst komplexen und fehleranfälligen Angelegenheit. In einer Zeit wie der jetzigen folgt der politische Willensbildungsprozess in erstaunlichem Maße den Mustern, die für die Kursbewegungen an der Börse verantwortlich sind: Nicht mehr die Realitäten zählen, sondern die Erwartungen, Befürchtungen und „Fantasien“. Volatilität herrscht auch am Wählermarkt.
Die Politik befindet sich in einer nervösen Zone. Sie beherrscht im wahrsten Sinne des Wortes ihr eigenes Metier nicht mehr, schwankt zwischen der direktdemokratischen Anpassung an den vermeintlichen Volkswillen, wie partiell er sich auch äußert, und einer technokratisch-instrumentellen Problemlösung nach bewährt-alternativlosem Muster. Zugleich neigt sie zur Selbstreferenzialität und Abkapselung, vermag auch deshalb profilprägende Differenzen kaum mehr deutlich zu machen – weshalb die Akteure erst recht in immer rüderer Weise übereinander herfallen.
In welcher Stimmung ist die Welt? Es grassiert „Die große Gereiztheit“. So betitelte einst Thomas Mann das vorletzte Unterkapitel seines Zauberbergs, in dem er allegorisch den Gemütszustand der Welt vor dem Ersten Weltkrieg erfasste: „Was lag in der Luft? – Zanksucht. Kriselnde Gereiztheit. Namenlose Ungeduld. Eine allgemeine Neigung zu giftigem Wortwechsel, zum Wutausbruch, ja zum Handgemenge. Erbitterter Streit, zügelloses Hin- und Hergeschrei entsprang alle Tage zwischen Einzelnen und ganzen Gruppen, und das Kennzeichnende war, dass die Nichtbeteiligten, statt von dem Zustande der gerade Ergriffenen abgestoßen zu sein oder sich ins Mittel zu legen, vielmehr sympathetischen Anteil daran nahmen und sich dem Taumel innerlich ebenfalls überließen.“
In diese Worte lässt sich, wohin man auch schaut, unschwer auch die aktuelle Grundstimmung kleiden – die des Volkes, vor allem aber die der Politiker. Man muss nur Begriffe wie „Euro“ oder „EZB“, „Griechenland“ oder „Großbritannien“, „Asyl“ oder „AfD“, „Migration“ oder „Nation“ fallen lassen, und schon fängt die allgemeine Atmung verlässlich an zu schnappen. Maß und Mitte war gestern, Polarisierung und Populismus heißen die politischen Tugenden der Stunde. Ihrer befleißigen sich seit Jahren schon die üblichen Verdächtigen: Nach den Wilders, Le Pens, Straches et al. nun auch die Petrys und Gaulands – mit zunehmendem Erfolg. Ihre Machtbasis verbreitert sich beständig, längst sind sie in der Lage, die Routinen des nationalen und erst recht des europäischen Regierens ins Stocken zu bringen. Noch einschneidender ist, dass der Prozess der europäischen Integration – spätestens seit dem Brexit-Referendum – eine Schubumkehr erfahren hat. Die Erbauer des gemeinsamen Hauses Europa teilen kein gemeinsames gesellschaftliches Fundament mehr; ihre Konstruktionsanleitungen sind veraltet, während ihre Gegner fröhlich vereint über den Rückbauplänen hocken. Hatte der Globalisierungssoziologe Ulrich Beck dem Nationalstaat noch die schrottreife Qualität eines Containers attestiert, so wandelt sich dieser neuerdings auf wundersame Weise zum Traumhaus: zur Festung gegen alle Unbill jener Globalisierung, die Beck noch als unabdingbaren Fortschritt feierte. Die Tendenz zum Rückzug in diese Festung ist global unverkennbar. In der gesellschaftlichen Orientierung hat das Draußen und Drinnen das Oben und Unten abgelöst.
Die alten Vorstellungen vom gesellschaftlichen Fortschritt bröckeln
Eine Umwälzung der politischen Landschaft ist zu beobachten, von der keiner genau weiß, welche neuen Konstellationen sie hervorbringen wird. Das Volk will keine Volksparteien mehr, will sich auch nicht mehr „ins Mittel legen“, sondern zeigt sich angezogen von den Polen, seien sie politischer, gesellschaftlicher oder kultureller Art. Die Völker befinden sich im eigentlichen etymologischen Sinn in der Revolte: Sie wollen die Verhältnisse zurückwälzen.
Die politische Linke feierte ihre letzten großen Erfolge, weil sie gleichermaßen Advokatin des gesellschaftlichen und globalen Unten wie Fürsprecherin des Beckschen globalisierungsgetriebenen Fortschritts war (denn sie ging davon aus, das dieser Fortschritt auch die Lage der Benachteiligten nachhaltig verbessern werde). Sie engagierte sich für globale Regulierung und trieb zugleich die Entwicklung Europas zu einer ever closer union als Transmissionsriemen in diesem Prozess und als postnationales Friedensprojekt voran. Diese Linke ist jetzt – gelinde gesagt – irritiert. Ihre Vorstellungen vom gesellschaftlichen Fortschritt bröckeln, just nachdem sie diese Gesellschaft aus dem Container nationalstaatlicher Fürsorge befreit hat; ihr angestammtes Klientel, die Arbeiterschaft, die Ausgestoßenen, aber auch das akademische Bürgertum, geht von der Fahne. Damit hadert sie und sieht – eine ihrer wiederkehrenden Kinderkrankheiten – manipulative Mächte und namentlich die Medien am Werke. Dabei müsste sie nur ihren eingerosteten kritischen Blick ein wenig ölen, um die Gründe der Misere zu erkennen, die auch im eigenen Verschulden und mithin in der eigenen Handlungsmacht liegen.
Nach drei Jahrzehnten globalisierungsgetriebenen Fortschritts fällt die Bilanz zwar insgesamt positiv durchwachsen, aber für die Gesellschaften der Industriestaaten doch ernüchternd aus. Zu den sozialen Gewinnern zählen zum einen die stark sinkende Zahl der absolut Armen und eine wachsende Mittelschicht in den vormals armen Ländern, vor allem in den emerging states, zum anderen das oberste Prozent der globalen Einkommenspyramide, die Profiteure des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus und die Superreichen. Die Verlierer hingegen finden sich im großen Maße in der Unter- und Mittelklasse der entwickelten Industrienationen. Deren Mitglieder konnten in den zurückliegenden dreißig Jahren kaum Einkommenszuwächse verzeichnen. Es ist die traditionelle Klientel der moderat linken und sozialdemokratischen Parteien, das durch diese Entwicklung nachhaltig frustriert wurde. In den Vereinigten Staaten haben große Teile dieser Gruppen soeben Donald Trump gewählt, auch in Europa wenden sie sich vermehrt den Rechtspopulisten zu.
Die Finanzkrise schwächte das Finanzkapital nicht
Die Globalisierung hat ihre Blüte vor allem als finanzwirtschaftliches Projekt erreicht. Die Realwirtschaft hinkt der Finanzwirtschaft hoffnungslos hinterher und wird deren Level womöglich niemals erreichen. Der Kosmopolitismus, der als Komplement gedacht war, ist im Keim verkümmert. Die Governance hat als Ordnungspolitik die Erwartungen enttäuscht. Die Klimapolitik kann noch als Erfolg der Weltgesellschaft als globaler Verantwortungsgemeinschaft verbucht werden, jedoch nur, weil ihre Standards im Laufe der jahrelangen Verhandlungen massiv gesenkt wurden.
Die „eine Welt“ zerfällt in multipolare Macht- und Einflusszonen, der globale Handel und Wandel ist ins Stocken geraten. Die massiven Proteste gegen TTIP und CETA sind auch Ausdruck eines neu erwachten Protektionismus linker Provenienz, der zwar weiß, was er ablehnt, aber nicht benennen kann, wohin er steuert.
Eine solche Bilanz der Globalisierung wäre Grund genug für eine kritische Revision. Ein erster Anlass dafür bot sich mit der Finanzkrise 2008, die auf brutale Weise die gefährlichen Dysfunktionen des globalen Finanzkapitals für den Wohlstand der Welt offenbarte und zugleich die Legitimationsbasis dieses Systems erodieren ließ – spätestens als Banken um Staatshilfe flehten. Selten hat die Linke einen Sieg so gefeiert, den sie nie errungen hat. Geradezu euphorisch war von der notwendigen Rückkehr des Staates die Rede, ebenso von der moralisch gebotenen Durchsetzung einer Unternehmens-Ethik. Beides hat nie stattgefunden.
Wider alles Erwarten schwächte die Finanzkrise das Finanzkapital nicht, weil dieses – auch mit tatkräftiger Unterstützung der parlamentarischen Linken – die Staatshaushalte als neue spekulative Quellen entdeckt hat. Die Politik des Niedrigzinses und des Quantitative Easing der Europäischen Zentralbank (EZB) hat zwar nicht den vorgegebenen geldpolitischen Effekt einer Inflationsrate von zwei Prozent bewirkt, hält aber die Spekulationsblase auf Spannung und dient so den Interessen der Rentiers. Wie sich an den schwindenden Renditen der betrieblichen Altersvorsorge und den Nullzinsen ablesen lässt, sind es jedoch weniger die Rentner und Sparer, die profitieren. Vielmehr findet eine geldpolitische Umverteilung von unten nach oben statt, gegen die sich manche Pläne der Linken zu staatlicher Umverteilung von oben nach unten eher bescheiden ausnehmen – ohne dass dies für sie Anlass wäre, die ordnungspolitische Rolle und Verfasstheit der EZB zu überdenken.
Mit der Finanzkrise ist das Euroregime in eine Schieflage geraten, die nunmehr droht, das gesamte europäische Projekt an den Rand des Abgrunds zu bringen. Die Rettung der Banken über die Staatshaushalte hat dazu geführt, dass letztere nun massiv verschuldet sind. Die Kredithilfen an die kriselnden Staaten Südeuropas waren von den Geberländern mit dem Zwang zu strukturellen Reformen der staatlichen Einnahmen- und Ausgabenpolitik, mit weitreichenden Eingriffen in die jeweilige Wirtschaftsstruktur und die sozialen Sicherungssysteme verbunden worden. In der Konsequenz erodierten in fast allen betroffenen Staaten die Parteiensysteme. Die mit der „Hilfspolitik“ einhergehende eklatante Verletzung der jeweiligen staatlichen Souveränität war und ist ein treibender Faktor der Renationalisierung europäischer Politik. Dem von der Linken wortreich beklagten Nationalismus wohnt auch ein demokratischer Kern inne, und solange die Linke diesen missachtet, wird sie auf die Rechtstendenzen keine adäquaten Antworten finden. Bislang hadert sie damit, dass ihr mit dem europäischen Narrativ eine ihrer letzten Visionen abhandengekommen ist. Gleichzeitig erschöpft sie sich in einer historisierenden und moralisierenden Verdammung der Rechtstendenzen. Vor allem aber bleibt sie ohne Konzept, wenn sie ihren normativen Markenkern, die soziale Gerechtigkeit, im Zeichen der Krisenbekämpfung auf die unterschiedlichen Ordnungsrahmen europäischer Politik spannen soll.
Griechenland ist zum Synonym dieser Fehlentwicklung geworden, die in abgeschwächter Form in fast allen Südstaaten Europas zu beobachten ist. Die rund 300 Milliarden Euro an Hilfsgeldern haben die Lage im Land nicht ansatzweise verbessert. Ein viertes Hilfspaket steht an, wahrscheinlich zur Zeit der Bundestagswahl im Herbst 2017. Doch ist es mehr als fraglich, ob dieses zustande kommen wird: zu gering sind die Erfolge der bisherigen Rettungspakete, und zu groß sind die Bedenken der Geberländer, die damit den Rest ihrer Glaubwürdigkeit verspielen würden.
Profitiert die Deutsche Bank oder der deutsche Arbeitslose?
Bislang wurde hierzulande die Griechenlandhilfe als Akt der europäischen Solidarität verkauft, als notwendiger Schritt auf dem langen Weg zur ever closer union, von dem letztlich der Standort Deutschland profitiere. Doch ob damit die Deutsche Bank oder der deutsche Arbeitslose gemeint war, ist bis heute offen. Mittlerweile fragt man sich auch, ob man der ever closer union nicht einen Bärendienst erwiesen hat, denn die Euro-Rettungspolitik der vergangen sechs bis acht Jahre war der politische Jungbrunnen, aus dem der Rechtspopulismus schöpfen konnte.
Die Erfolglosigkeit der vor allem von Deutschland durchgesetzten Rettungspolitik verweist auf die ökonomische Asymmetrie unter den Eurostaaten. Bei einer einheitlichen Währung bleibt der griechischen (und jeder vergleichbaren) Wirtschaft nur die Möglichkeit, über eine Senkung der Produktionskosten wieder wettbewerbsfähig zu werden. Dies führt aber zu einem Rückgang der Binnennachfrage, womit die Baisse in Gang gesetzt ist, die in Griechenland nun schon seit Jahren zu beobachten ist. Diesen Kreislauf mit einer schuldenfinanzierten Ausgabenpolitik zu durchbrechen birgt die Gefahr erhöhter Kapitallasten und damit einer stärkeren Abhängigkeit vom Kapitalmarkt. Zudem wäre es selbst dann noch zweifelhaft, ob die gewünschten Wachstumseffekte eintreten. Trotz massiver Zuwendungen liegt die Pro-Kopf-Produktivität in den neuen Bundesländern nach wie vor bei gerade einmal 70 Prozent des Westniveaus. Die massiven Transfers, die infolgedessen notwendig sind, werden hierzulande auf der Grundlage eines intakten innerstaatlichen Solidargefüges geleistet. Im Euroraum gibt es dazu kein sozialmoralisches Pendant, Zahlungen sind dort vielmehr eine der Quellen nationalpopulistischer Empörung. Diese dürfte weiter anwachsen, sollte ein Ausweg aus dem Dilemma in einer Ausweitung der Währungs- zu einer Fiskal-, Wirtschafts- und gar Sozialunion gesehen werden. Die Botschaft des Brexit-Votums ist eindeutig.
Mit dem Auslaufen des dritten Rettungspakets wird die Frage nach dem Verbleib Griechenlands im Euroraum wieder anstehen. Angesichts dieser Misere böte eine geordnete Freigabe der Wechselkurse für Griechenland die Chance einer nachhaltigen Erholung der dortigen Wirtschaft, sie birgt allerdings auch unbekannte Risiken, da eine solche Rückabwicklung des Euro-Projekts historisch ohne Beispiel ist: Andere Staaten könnten dem griechischen Beispiel folgen und der Euroraum auf einen Kernbestand von Ländern annähernd gleicher Produktivität zusammenschmelzen, der mit den übrigen Staaten in einem flexiblen Währungsverbund stünde.
Beim Thema Migration segelt die Opposition in Merkels Windschatten
Ein solches Szenario, das von Wolfgang Streeck, Fritz W. Scharpf und einer Reihe weiterer Wissenschaftler verfochten wird, die keinesfalls dem „rechten“ oder „neo-liberalen“ Lager zuzuordnen sind, müsste eine politische Linke zumindest durchdenken, wenn ihre Kritik am Merkelschen Kurs in Europa an Substanz gewinnen soll. In den vergangenen Jahren hat sich die politische Linke weitgehend der normativen Kraft des Faktischen gebeugt und sich in die von der Bundeskanzlerin vorgegebene Alternativlosigkeit ihrer Europolitik gefügt. Wenn die Linke Alternativen benannte, wie etwa einen Schuldenschnitt oder schuldenfinanzierte Konjunkturmaßnahmen und Sozialprogramme, blieb sie bei der Frage der Kosten und deren Finanzierung im Vagen, wohl ahnend, dass dafür beim Souverän kaum Mehrheiten zu gewinnen sind.
Stark war die politische Linke, als es darum ging, Visionen eines geeinten Europas und Konzepte seiner Finalität zu entwerfen. Diese haben sich jedoch als unrealistisch erwiesen. Nun, da ein Modus Operandi gefunden werden muss, der die europäischen Staaten entlang der verschiedenen Interessen unterschiedlich stark aneinanderbindet, da kein Grand Design mehr gefragt ist, sondern vielmehr flexibles piecemeal engineering – nun versagt die Fantasie, nun erlischt die visionäre Leidenschaft. Dabei käme es darauf an, zu Merkels Satz „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“ die Gegenthese zu entwickeln und ins Werk zu setzen.
Auch beim zweiten großen Quell der allgemeinen Gereiztheit, der massiven Migration nach Europa und vor allem Deutschland, segelt die Opposition in Merkels Windschatten und versäumt es, eigene Kontur zu gewinnen. Womöglich aus gutem Grund, denn eine Eigenprofilierung auf Kosten der Kanzlerin dürfte in der Flüchtlingspolitik kaum zur Stärkung des „linken Lagers“ beitragen. Die politische Linke kann bei diesem Thema keine Mehrheiten gewinnen, wohl aber, wie sie bereits erfahren musste, massiv an Stimmen und Zustimmung verlieren. Es kommt auf die Fehler an, die sie vermeidet.
Diese Erfahrung hat auch Merkel gemacht und nach langem Zögern und mehreren Wahlniederlagen gegengesteuert. Augenscheinlich ist auch ihr die Dimension des Problems erst allmählich bewusst geworden, sonst hätte sie wohl kaum auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015 derart kurzatmig Grenzen zu unwirksamen Markierungslinien degradiert und ohne Absprache mit den beteiligten Staaten eigenhändig das Dublin-Regime ausgehebelt. Die Konsequenzen für den ohnehin bröckelnden europäischen Zusammenhalt sind fatal – in der Flüchtlingspolitik findet seitdem, und dies wohl auf absehbare Zeit, eine Zusammenarbeit nur noch in der Abwehr, aber nicht mehr in der Aufnahme von Flüchtlingen statt.
Anfangs war die Flüchtlingskrise geprägt von einer Dominanz des Mit-Gefühls. Es war der moralische Sound einer Ausnahmesituation, den man bis dato von Naturkatastrophen kannte, und von der erst allmählich ins Bewusstsein sickerte, dass sie Normalität sein könnte – und deshalb weit mehr erfordern würde als das gerade so bravourös Geleistete. Dieser Sound wurde von einer einmaligen großen Koalition -vorgegeben, die sich von der Linken bis zur CDU hinter Merkel sammelte. Tatsächlich war diese Politik alternativlos, ankerte sie doch normativ in der Unbedingtheit, mit der einem Asylsuchenden grundgesetzlicher Schutz zu gewähren ist. Allerdings wurde sie umstandslos und unter Zuhilfenahme fragwürdige Prognosen argumentativ zu einer Einwanderungspolitik zum Nutzen und Frommen der deutschen Wirtschaft und der Sozialsysteme geweitet. Die Voraussagen sind mittlerweile einer soliden Ernüchterung gewichen, die positiven wirtschaftlichen Effekte wird man erst in Jahrzenten zu spüren bekommen. Die argumentative Vermengung zweier unterschiedlicher Migrationsweisen, die den Eindruck vermittelte, der Zuzug kenne keine Grenzen, steigerte die Irritation der Bevölkerung, die bereits durch die mangelhafte administrative Bewältigung des Flüchtlingsstroms ausgelöst worden war. Dass manche Politiker wie Katrin Göring-Eckardt sich zudem über die „religiöse Bereicherung“ des Landes freuten, völlig ignorierend, dass religiöse Konflikte gerade Grund vieler Fluchtbewegungen waren, trug auch nicht gerade zur Beruhigung dieser Irritationen bei.
Die Migrationsströme werden anhalten und weiter anwachsen
Alles spricht dafür, dass die Migrationsströme, die Europa derzeit erschüttern, anhalten und wahrscheinlich sogar anwachsen werden. Nicht allein Kriege und Krisen, wie derzeit im Nahen Osten, werden die Treiber dieses Prozesses sein, sondern das erkennbare Wohlstandsgefälle und die Aussicht auf ein Leben mit einer industriestaatlich verfassten Arbeitsperspektive und einer staatlichen sozialen Sicherung, und sei beides auch nur rudimentär gegeben. Nutzer werden nicht die lokalen Armen sein, sondern eine Mittelschicht, die die erheblichen Kosten einer solchen illegalen Migration finanzieren kann.
Der moralische und politische Preis, den Merkel für ihre Wende in der Flüchtlingspolitik zahlte und weiterhin zahlen wird, ist der Zwang zur Kooperation mit einem zum Diktator mutierten Erdogan und die Sicherheitspartnerschaften mit den Staaten nördlich und südlich der Sahara, die alle keine lupenreinen Demokratien sind. Die Opposition von links konnte natürlich der Verlockung nicht widerstehen, die Bundeskanzlerin für ihre Wende massiv zu kritisieren, zu offensichtlich ist der moralische Makel, den diese Verabredungen alle haben. Allerdings hat sie bislang kein eigenes Konzept präsentiert, das eine Begrenzung des Zuzugs gewährleistet, ohne sich die Hände schmutzig zu machen.
Nun ist die politische Linke allerdings durch diese Entwicklung in einer besonderen Weise herausgefordert, fühlt sie sich doch normativ einem Universalismus verpflichtet, aus dem sich ein Gebot zur Aufnahme der Flüchtlinge ableiten lässt. Zugleich muss sie wahrnehmen, dass ein Großteil der eigenen Bevölkerung und auch der eigenen Anhängerschaft dem mit deutlicher Reserve gegenübersteht – und sie folglich in dem Maße, in dem sie ihrem moralischen Impuls nachgibt, mit -Stimmenverlusten zu rechnen hat. Die nationalistische Rechte auf der Gegenseite kann aufgrund der „Flüchtlingskrise“ enorme Zuläufe verzeichnen und im wachsenden Maße die politische Agenda prägen.
Das macht die Gereiztheit der politischen Linken erklärbar und verführt sie dazu, es den Rechtspopulisten gleich zu tun und ebenfalls zu polarisieren. Dies klingt an, wenn „klare Kante“ verlangt wird, wenn namhafte Grünen-Politiker die eigene Partei zu einer „Anti-AfD“ kultivieren und Linkspartei-Politiker die „Fratze“ hinter dem bürgerlichen Antlitz der AfD demaskieren wollen. Die Grundmelodie dieser Haltung ist ein moralisches Verständnis der Gesellschaft, das diese vorrangig als Summe von Minderheiten und ihre Mitglieder als Träger von Ansprüchen und Anrechten fasst und weniger als politische Subjekte, als Staatsbürger, die streitbar um ein allen gemeines Solidargefüge ringen.
Das moralische Gesellschaftsverständnis ist so »richtig« wie politisch blutleer
Das moralische Gesellschaftsverständnis, wie es beispielhaft in der Friedenspreisrede von Carolin Emcke zum Ausdruck kam, ist so „richtig“ wie politisch blutleer. Das Verdikt „rechts“, „rechtspopulistisch“ oder gar „rechtsradikal“ ist zu einem rhetorischen Passepartout verkommen, das mittlerweile auf etablierte Parteien wie die CSU ebenso passt wie auf linke Wissenschaftler wie Wolfgang Streeck und selbst im innerparteilichen Streit bei den Grünen wie auch der Linkspartei gelegentlich zur Anwendung kommt. Dabei bleibt unklar, was aus dieser offensichtlichen Ausdehnung des Verdikts auf immer weitere Politiker- und Bevölkerungskreise folgt. Der Ruf „Nazis raus!“ lässt völlig offen, wohin. Nach Madagaskar?
Es ist wenig sinnvoll, wenn die politische Linke auf den grassierenden Unmut der Zukurzgekommenen (oder auch jener, die sich nur so fühlen und mit den Vorstellungen der AfD sympathisieren) mit einer innergesellschaftlichen Feinderklärung reagiert. Und es ist fatal, wenn sie sich das Muster der Auseinandersetzung auch noch vorgeben lässt: wenn sie sich in dem von der Rechten insinuierten Kulturkampf gegen das Fremde, den Islam und die Muslime in die Position der ebenso kämpferischen Verteidigerin drängen lässt, die für diese Rolle auch eigene Werte relativiert, etwa Sexismus und Frauendiskriminierung nicht mehr als solche benennt, weil dies den Rechten in die Hände spielen könnte oder weil manche Muslime dergleichen als Teil der eigenen religiös geprägten Kultur ansehen. Auch bei Linken besteht die erkennbare Neigung, Religion und Kultur als vorrangige Felder der Integration zu betrachten, obgleich diese stärker durch konfliktträchtige Differenzen und Eigenheiten geprägt sind als etwa die für das Gelingen wesentlicheren Bereiche der Arbeit und Bildung.
Dass Deutschland ein Einwanderungsland sei, wird als Bekenntnis gefeiert, doch als simple Feststellung impliziert es auch, dass das gesellschaftliche Vertrauen als sozialmoralische Ressource der Demokratie zu einem selteneren und kostbareren Gut geworden ist. Was als Multikulturalismus begrüßt wird, geht mit Disparitäten und auch Parallelitäten einher, mit einer gewissen Grundgereiztheit, die sich meist aushalten lässt. Man kann die fünfzehn Prozent der Bevölkerung, die der AfD anhängen, abstoßend finden, genauso wie die Zehntausende von Türken, die dem Diktator Erdogan zujubeln, der willkürlich inhaftieren lässt und Krieg gegen Teile seines Volkes führt. Solange sich beide Gruppen im Rahmen der Verfassung und der Gesetze bewegen, dürfte Achtsamkeit im Umgang für das Zusammenleben gedeihlicher und der Milderung des Extremismus im Land dienlicher sein.
Aller Voraussicht nach wird der Siegeszug des Rechtspopulismus in Deutschland und Europa anhalten. Das Brexit-Referendum hat ihn bestärkt, er findet in den Staaten Mittelosteuropas Stabilitätsanker und wird womöglich seinen nächsten Sieg bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich feiern. Ein weiterer Erfolg bei den Bundestagswahlen im September ist wahrscheinlich. Eine politische Linke, zu deren programmatischen Kern weiterhin die europäische Integration gehört, wird dazu einen Modus Operandi, ja mehr noch, einen Modus Vivendi finden müssen, denn die Nationen werden auf absehbare Zeit die entscheidenden politischen Akteure der europäischen Arena sein. Einer Nord-Süd-Frontstellung in der Europolitik entspricht eine West-Ost-Konfrontation bei der Bewältigung des Flüchtlingsproblems. Bei diesem sind zwar nicht die Aufnahmekapazitäten, wohl aber die Gemeinsamkeiten bereits erschöpft; bei jenem wird das europäische Miteinander im kommenden Jahr angesichts des absehbaren Scheiterns der Griechenlandhilfe einem weiteren Stresstest unterzogen – angesichts der Aussichten in Italien womöglich schon früher.
Jetzt ist die Zeit für eine linke Politik der Skepsis, nicht der Zuversicht
In diesem Modus der Krise leben die europäischen Gesellschaften – in unterschiedlicher Intensität – seit nunmehr sieben, acht Jahren. Auch wenn Deutschland noch auf der Sonnenseite steht, zerrt dies an den Nerven, zumal die Orientierungsfähigkeit der Politik unterdessen merklich abgenommen hat. Und das ist keinesfalls nur, am deutschen Beispiel erwähnt, Merkels Unwillen zu programmatischen Reden geschuldet. Auch die politische Linke, die auf diesem rhetorischen Terrain einmal heimisch war, wirkt entweder aus der Zeit gefallen oder ist wohlweißlich kleinlauter geworden. Sie hat derzeit keine Strategie, und allein mit Pathos lassen sich Eurokrise oder Migrationsströme ohnehin nicht managen, denn entscheidend dafür sind weniger die Qualität der Programmatik, sondern die des politischen Personals, zumal auf diesen Konfliktfeldern die Fronten quer zum gängigen Schema der Parteien verlaufen.
Man kann die daraus resultierende Verunsicherung der Parteien als Beginn einer neuen politischen Kombinatorik ansehen, die nur noch bedingt mit den alten Lagervorstellungen in Einklang zu bringen ist. Deshalb ist es ein Anachronismus, wenn in Deutschland unter der Chiffre „r2g“ über ein rot-rot-grünes „Lager“ räsoniert wird, nachdem auf den zentralen Politikfeldern maßgebliche Teile dieser Konstellation im Einklang mit der CDU und Merkel agiert haben. Eine solche Verbindung, deren Wesensmerkmal staatliche Umverteilung wäre, hätte Schwierigkeiten, über die Erfüllung der abstrakten normativen Vorgabe der Gerechtigkeit hinaus ein politisches Ziel zu benennen, das sie angesichts der eher positiven Haushaltslage unabdingbar macht. Zudem besäße eine solche Kombination keine Antwort auf die Gereiztheit der Gesellschaft, weil sie ihr Gerechtigkeitsversprechen kaum zur eigenen Zufriedenheit einlösen könnte, zumal die Konkurrenz um staatliche Zuwendung (im doppelten Wortsinne) für das untere Drittel der Gesellschaft mittlerweile zugenommen hat.
Statt darauf nach überkommenem Muster mit einer Politik der Zuversicht zu reagieren, wäre angesichts der allseits spürbaren Unsicherheiten auch links der Mitte eine Politik der Skepsis angesagt, deren Hauptaufgabe der britische Philosoph Michael Oakeshott nüchtern darin gesehen hat, „die Härte menschlicher Konflikte zu mildern, indem sie deren Anlässe vermindert. … Für den Skeptiker ist mithin die Aufrechterhaltung der Ordnung das vordringlichste Geschäft der Regierung … Zu den Kosten für Wahrung der Ordnung gehört die auch unter günstigen Umständen starke Konzentration der Macht. Und das geht natürlich zu Lasten angenehmerer menschlicher Aktivitäten.“
In die Sprache der Wahlkampfstrategen übersetzt heißt dies: Warum sollte Merkels Konzept der asymmetrischen Demobilisierung nicht auch in die entgegengesetzte Richtung funktionieren? Warum sollte die Antwort auf Merkels Sozialdemokratisierung nicht in einer ordnungspolitischen Offensive der Linken statt in Verteilungspolitik liegen? Dies erfordert allerdings ein Umdenken – nicht aus wahltaktischen Erwägungen, sondern aus grundsätzlicher Einsicht. Es gilt, angesichts der widrigen Umstände Steuerungsfähigkeit zu beweisen und die Bewältigbarkeit von Europakrise und Migration (auch deren sicherheitspolitischer Aspekte) glaubhaft zu machen. Dazu sind gangbare politische Leitbilder erforderlich, die konkreter sind als die formelkompromisslerischen Orientierungen, in denen sich Parteiprogrammatik häufig genug erschöpft, sowie ein Führungspersonal, das nicht bereits an der eigenen Partei scheitert. In allen diesen für die Stimmung im Land entscheidenden Punkten, deren Management jahrelang Merkels Stärke ausmachte, schwächelt die Bundeskanzlerin inzwischen erkennbar. Sie lebt allerdings bislang gut davon, dass ihre Opponenten noch schwächer sind.
Auf „Die große Gereiztheit“ folgt beim Zauberberg bekanntlich als letztes Kapitel „Der Donnerschlag“. Doch die Geschichte wiederholt sich glücklicherweise noch nicht einmal als Farce. Bislang sind wirkliche Donnerschläge ausgeblieben. Doch ein Grollen ist unüberhörbar. Soll es wieder besänftigt werden, ist eine Änderung der politischen Orientierung und Orchestrierung erforderlich.