Die Grenzen der Flüchtlingspolitik
Am späten Abend des 10. Dezember 2015 landete ein Militärtransporter auf dem Flughafen von Ottawa. Ihm entstiegen 163 Flüchtlinge aus Syrien – das erste Kontingent von rund 25 000 Flüchtlingen, die ihnen nach Kanada folgen sollten. Nach ihrer Ankunft wurden sie von Kanadas Premierminister Justin Trudeau mit den Worten willkommen geheißen, sie würden den Flughafen mit einer dauerhaften Aufenthaltserlaubnis, einer Sozialversicherungsnummer und einer Gesundheitskarte verlassen – und mit der Aussicht, kanadische Staatsbürger zu werden. Er fuhr fort: „Es geht um harte Arbeit, mit der wir in den kommenden Wochen und Monaten sicherstellen müssen, dass jeder dieser Neuankömmlinge hier ein neues Leben aufbauen kann. Und dass jeder von ihnen voll und ganz am weiteren Wachstum dieses wunderbaren Landes mitwirken kann.“
Die Flüchtlinge waren zuvor einer intensiven Überprüfung unterzogen worden, Gesundheits- und Sicherheitscheck inklusive. Zu diesem Zweck hatte die kanadische Regierung mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) und privaten Sponsoren zusammengearbeitet. Am Ende wurden nur Familien, Frauen und Kinder ins Land gelassen, jedoch keine allein reisenden jungen Männer. Die Ankunft nachfolgender Gruppen wurde verzögert, um den aufnehmenden Städten und Gemeinden genügend Zeit zur Vorbereitung zu lassen.
Fast alle staatlichen Organe haben in der Krise versagt
Es mag hilfreich sein, sich das kanadische Beispiel vor Augen zu führen, um die ganze Misere der deutschen und vor allem der europäischen Flüchtlingspolitik auszuloten – und sich einen Eindruck davon zu verschaffen, was das aufmunternde „Wir schaffen das“ hätte bedeuten können. Beiden Ländern mangelte es nicht an Willkommenskultur. Diesseits und jenseits des Atlantiks wurden die Flüchtlinge von freundlichen Einheimischen in Empfang genommen, die ihnen in Kanada sogar als Paten bei der Integration zur Seite stehen. Jedoch kann man ebenso davon ausgehen, dass in beiden Ländern ein nicht geringer Teil der Bevölkerung den Neuankömmlingen weniger zugeneigt ist, schließlich ist die Angst vor Fremden kein deutsches Spezifikum. Dass sich diese Angst hierzulande zu einer manifesten Bedrohung aufwachsen konnte und zunehmend Widerhall und gar Präsenz in den Parlamenten findet, und dass die anschwellenden Nachrichten von fremdenfeindlichen Übergriffen und übergriffigen Fremden die ganze Nation in eine fiebrige Erschöpfung versetzt haben, die dem Eingeständnis gleichkommt, dass es nicht zu schaffen ist – all dies hat viel mit dem Versagen fast aller beteiligten staatlichen Organe zu tun. Und es liegt an einer Flüchtlingspolitik, in der sich sowohl im Inneren als auch im Verhältnis zu den europäischen Nachbarn angemaßte Omnipotenz und faktische Steuerungsunfähigkeit auf unglückselige Weise wechselseitig verstärken. Die Konsequenz ist ein Zustand, der nur noch als festgefahren bezeichnet werden kann.
Ob das Abkommen mit der Türkei einen Ausweg aus dieser Situation bietet, wird sich in den kommenden Monaten zeigen. Denn ein von allen Schengen-Staaten akzeptierter Verteilungsmodus für die Flüchtlinge, die Europa im Gegenzug aufnehmen möchte, wurde nicht gefunden. Zudem sind erhebliche Zweifel angebracht, ob diese Maßnahmen überhaupt dazu geeignet sind, die „illegalen“ Fluchtbewegungen zu reduzieren, oder ob die Flüchtenden nicht einfach eine andere Route nach Europa wählen. Der moralische und politische Preis, der für diese Regelung zu bezahlen ist, steht allerdings jetzt schon fest: Die UNHCR-Standards der Asylanerkennung wurden – gelinde formuliert – erheblich überspannt und das autokratische Regime Erdog˘ ans überdies hoffähig gemacht. Wie dieser seine neue Position zu nutzen gedenkt, darauf lieferte die „Causa Böhmermann“ einen Vorgeschmack.
Als letzter Schrei nationaler Selbsterkenntnis wurde hierzulande über Wochen und Monate hinweg verkündet, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei, doch ist das Land von den Eigenheiten eines solchen noch ein ganzes Stück entfernt. Ein Einwanderungsland zeichnet sich nicht durch eine hohe Immigration aus, sondern dadurch, dass Staat und Gesellschaft darauf eingestellt sind, diesen Prozess anzunehmen, ihn zu lenken und zu bewältigen. Dies setzt zunächst voraus, dass beide in der Lage sind, sich über die normativen Orientierungen der Integration und den Bedingungen ihrer Verwirklichung im Rahmen demokratischer Auseinandersetzung zu verständigen. Beides ist bislang kaum gelungen. Es dominiert eine Kultur des gewollten Missverstehens, ein Unvermögen, die eigene Position im Lichte widersprechender Argumente zu prüfen. Jedes Reden über die Sache ist durchsetzt mit dem Streit um deren angemessene Wahrnehmung, mit einem fortgesetzten Hadern um die Normen und Regeln, nach denen zu verfahren sei. Selbstverständliches findet kein Verständnis mehr, Unsägliches wird sagbar.
Wo (nicht nur) Rechte angesichts der Flüchtlinge wässrig von Strom und Flut faseln, bevorzugen Linke Bilder des Feuers. Kaum eine Rede Horst Seehofers oder selbst Sigmar Gabriels, die nicht brandstiftend ist. Sogar ehemalige Verfassungsrichter werden vom Verfassungsminister in diese Delinquentengruppe eingeordnet. Die Flüchtlingskrise hat sich längst zu einer Krise des Selbstverständnisses der Republik ausgeweitet. Fragen der nationalen, sozialen und kulturellen Grenzziehung werden zu Markierungslinien, entlang derer sich die Gesellschaft neu orientiert und die Parteienlandschaft neu ordnet. Dieser Wandel vollzieht sich in Deutschland derzeit rasant, kann jedoch in fast allen EU-Staaten bereits seit Jahren beobachtet werden. Migrationsgesellschaften sind offene Gesellschaften; die Kehrseite ist, dass Vertrauen und innere Kohäsion abnehmen. Die Außengrenzen, die national nicht mehr zu verteidigen sind, werden im Inneren sozial und kulturell gezogen. In der politischen Konsequenz führt dies, wie bei den Landtagswahlen im März zu beobachten war, zu einem Aufwachsen rechtspopulistischer Formationen, die zu einer Beschränkung möglicher Regierungskoalitionen und entsprechenden Legitimations- und Akzeptanzverlusten repräsentativer Politik führen.
Wie weit reicht die moralische und rechtliche Pflicht zur Aufnahme?
Eine progressive Politik, die sich diesem Veränderungsprozess weder taktisch anpassen noch in einen moralischen Agonismus verfallen will, muss sich zuallererst dem Dilemma stellen, das bereits in dem Normengefüge angelegt ist, in welches Flucht und Migration eingebettet sind. Denn über die Frage, wie weit die moralische und rechtliche Verpflichtung eines Staates zur Aufnahme reicht, besteht keineswegs Einhelligkeit. Weitgehend unstrittig ist eine Schutzpflicht angesichts einer Verfolgung, wie sie im Asylparagraphen des Grundgesetzes und in der Genfer Flüchtlingskonvention klassifiziert ist. Diese Pflicht kann allerdings auch von „sicheren Drittstaaten“ erfüllt werden und besteht nur, solange die Fluchtgründe bestehen. Allerdings leitet sich daraus noch keine moralische Pflicht zur Integration ab, selbst wenn dafür viele politische Gründe sprechen.
Andererseits wird bereits seit längerem beklagt, dass die Eingrenzung der Fluchtgründe auf die individualisierbaren Tatbestände der politischen, rassischen und religiösen Verfolgung den gleichermaßen existenziellen Migrationszwängen, die sich aus ökonomischen und klimatischen Veränderungen ergeben, nicht gerecht werde. Zusätzliche moralische Plausibilität erlangt diese Sichtweise durch das Argument, dass die Aufnahmeländer diese Veränderungen größtenteils mitverschuldet haben. Diese Weiterung des Problems führt zu der grundlegenden Frage, ob ein Immigrationsbegehren überhaupt mit moralischen Gründen verwehrt werden kann. Bereits Immanuel Kant gestand allen Menschen „ein Recht auf Wirtbarkeit“ mit der höchst aktuell klingenden Begründung zu, „vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der als Kugelfläche sie sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch neben einander dulden müssen, ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der Andere.“ Allerdings unterschied Kant dieses weltbürgerliche Aufenthaltsrecht noch von einem gesondert zu gewährenden Recht auf Ansiedlung.
Bleibeperspektive für alle?
In der Kantschen Denktradition steht die einflussreiche „Theorie der Gerechtigkeit“ von John Rawls, deren Grundsätze auch für die Beurteilung von Migrationsprozessen nutzbar gemacht wurden. Bekanntlich lässt Rawls die Prinzipien einer gerechten Gesellschaft hinter einem „Schleier des Nichtwissens“ entwerfen, der ihren Mitgliedern den Blick auf ihren gesellschaftlichen Status verwehrt. Rawls zufolge würden in einer solchen Situation alle Beteiligten für die gleiche Freiheit aller plädieren und Ungleichheiten nur unter der Bedingung zulassen, wenn sie den am schlechtesten Gestellten dienen. Auf die Frage der Migration angewandt (die Rawls selbst nicht beantwortet hat), befürworten eine Reihe von Autorinnen und Autoren auf plausible Weise offene Grenzen, da diese das größte Maß an Freiheit für alle gewährleisten und die Migranten als die am schlechtesten gestellte Personengruppe eindeutig besserstellen würden. Selbst aus utilitaristischer Warte betrachtet, müsste der Nachteil der Einheimischen gegen den Vorteil der Migranten gewichtet werden. Das Ergebnis würde wohl ebenfalls zugunsten Letzterer ausfallen. Es gibt noch eine Reihe weiterer philosophischer Erwägungen, die einer freien Migration das Wort reden. So ließe sich kaum ein allseits verbürgtes Recht auf Bewegungsfreiheit, ergo das Recht auf Auswanderung, begründen, wenn diesem nicht eines auf Einwanderung gegenüberstünde.
Diese gerechtigkeitstheoretische Fundierung einer Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik, die sich in der politischen Vorstellung konkretisiert, dass einem jeden eine Bleibeperspektive zu eröffnen ist, fand in Deutschland im vergangenen Jahr einen ungeahnten gesellschaftlichen Resonanzboden. Ungeahnt, misst man ihn an der politischen Verarbeitung vergleichbarer Notlagen in der Vergangenheit (etwa den Vertreibungen in Folge des Jugoslawienkonfliktes) und verglichen mit den Reaktionen anderer EU-Länder, mit denen sich Deutschland immerhin in einer Wertegemeinschaft befindet. Die Bereitschaft weiter Bevölkerungsteile zum Mit-Leiden war die sozial-moralische Ressource, aus der sich eine beispiellose Willkommenskultur speiste.
Diese veranlasste schließlich auch die Bundeskanzlerin im vergangenen September zum Umschwung – nachdem wenige Wochen zuvor noch die abweisende Nüchternheit der Verwaltungsroutine aus ihr gesprochen hatte, als sie einem palästinensischen Flüchtlingsmädchen erklärte, Deutschland könne nicht alle Flüchtlinge aufnehmen. Die kurze Spanne vom „Wenn wir jetzt sagen, ihr könnt alle kommen, das können wir nicht schaffen“ zum „Wir schaffen das“, mit dem sie Flüchtlinge zu Tränen der Freude rührte, markiert den Wandel von der Verantwortungs- zur Gesinnungsethikerin Angela Merkel. Die Bundeskanzlerin hat die Flüchtlingspolitik solchermaßen zu einer Frage der persönlichen Haltung gemacht. Die Linke in Regierung und Opposition – erstaunt und erfreut, in der Kanzlerin eine Schwester im Geiste entdeckt zu haben – wurde nicht müde, sie darin zu bestärken. Doch dieses Mit-Leiden unterliegt einer folgenschweren Begrenzung, auf die bereits Hannah Arendt hingewiesen hat: „Es kann nicht weiter reichen als bis zu den konkreten augenfälligen Leiden des Einzelnen, ohne aufzuhören, wirklich mitzuleiden. Seine Stärke wurzelt in der Leidenschaftlichkeit, sofern diese erst einmal auf der Leidensfähigkeit des Menschen beruht, und die Leidenschaft im Unterschied zur Vernunft begreift und ergreift nur das Vereinzelte und Partikulare, hat aber keinen Begriff vom Allgemeinen und keine Fähigkeit zu generalisieren.“
Vom Willkommenskonsens zur Begrenzungsstrategie
Dieser Mangel, der gleichsam in dem parteiübergreifenden Willkommenskonsens angelegt war, wurde in den darauffolgenden Wochen immer offensichtlicher. Nicht die rechten Randalierer auf der Straße, sondern die Praktiker der Migrationspolitik in den Kommunen und Kreisen, im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und in der Bundespolizei brachten einen Begriff des Allgemeinen wieder zur Geltung. Mittlerweile sind die sachlichen, personellen und finanziellen Anforderungen, die mit der Bewältigung der Aufnahme Hunderttausender verbunden sind, zu einem Maß aufgewachsen, dass sich entscheidende Parameter verschoben haben. Die Frage lautet nun nicht mehr, wie wir das schaffen, sondern inwieweit die Begrenzung des Zuzugs eine notwendige Bedingung dieses Schaffens ist. Es war Bundespräsident Joachim Gauck, der diesen Umschwung der politischen Stimmung markierte, als er sagte: „Eine Begrenzungsstrategie kann moralisch und politisch sogar geboten sein, um die Handlungsfähigkeit des Staates zu erhalten. Sie kann auch geboten sein, um die Unterstützung der Mehrheitsgesellschaft für eine menschenfreundliche Aufnahme der Flüchtlinge zu sichern.“ Diese Begrenzungsstrategie wurde mit dem Türkei-Deal der Bundeskanzlerin vorläufig gefunden. Der zurückhaltende Protest der Oppositionsparteien deutet darauf hin, dass auch diese eher erleichtert sind, dass der Flüchtlingsstrom zumindest temporär nachlässt.
Allerdings atmet die Strategie den unguten Geist einer moralfreien Interessenpolitik, die sich auf keine moralischen Werte berufen kann. Auch Gauck hat nicht dargelegt, wodurch er die Handlungsfähigkeit des Staates gefährdet sieht. Eine mögliche Begründung hat der frühere Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio mit seinem Gutachten für die Bayerische Staatsregierung gegeben. Darin hebt er vor allem auf die Pflicht des Staates zur Sicherung seiner Grenzen ab. Auch wenn Di Fabios Ausführungen durchaus schlüssig sind, so bleiben sie doch seltsam blass angesichts der moralischen Wucht, mit der die Pflicht zur Aufnahme Notleidender ihnen gegenübertritt. Die staatsrechtlichen Betrachtungen erwecken den Anschein moralischer Nachrangigkeit angesichts des universalistischen Individualismus, mit dem das Schicksal der Flüchtlinge gewogen und für schwerer befunden wird. Dies ist in dem Spannungsverhältnis beider durchaus angelegt. Der moralische Individualismus, der die Rawlschen Gerechtigkeitstheoretiker zugunsten von Migranten sprechen lässt, kennt buchstäblich keine Grenzen. Die Gemeinschaft, die hinter dem Schleier der Unwissenheit über ihre gerechte Ordnung räsoniert und den Migranten in diese einbezieht, ist eine fiktive Versammlung, für deren Mitgliedschaft Rawls kein Kriterium benennen konnte. Es ist letztlich die Versammlung aller Weltenbürger, denen Grenzen schon allein deshalb fremd sind, weil sie keinen Erwägungen der Gerechtigkeit unterliegen. Grenzen sind ein historisch gewachsenes factum brutum, willkürlich und wirkmächtig. Als notwendiger Teil des Nationalstaates sind sie allerdings auch eine wesentliche Voraussetzung demokratischer Ordnung, die bislang der entscheidende Garant von Menschenrechten ist und auch absehbar sein wird. Ein moralischer Individualismus, der diese Bedingung der eigenen Verwirklichung aus dem Blick verliert, bleibt blutleer. Das meinte der liberale Philosoph Michael Walzer, als er jüngst der Denktradition Rawls vorhielt, „sie lasse Politik außer Acht.“ Damit betonte er, „dass sie niemals bei den Bedingungen ihrer eigenen Verwirklichung ankommt. Für eine Theorie vom Rawlsschen Typ müsste die Verwirklichung in irgendeiner Form von liberaler Demokratie mit starkem konstitutionellen Rechtsschutz bestehen. Doch wie funktionieren diese Politikformen eigentlich? Wie bringen sie ihre Bürger dazu, sie zu bewahren? Welche Art von sozialer Vorstellungswelt setzen sie voraus? Wie sind solche Vorstellungswelten historisch entstanden?“ Wer eine humane Flüchtlingspolitik durchsetzen will, sollte auf diese Fragen Antworten haben, denn sie sind die Kernfragen politischer Integration. Es reicht nicht – wie es die Linkspartei und Teile der Grünen wie auch der SPD tun –, die Notlage und das Begehren um Aufnahme zum absoluten Maßstab politischen Handelns zu nehmen. Die Würde und Autonomie des Flüchtlings, die die Schutzpflicht begründet, korrespondiert mit der gleichen Autonomie der Mitglieder des demokratischen Gemeinwesens, das diesen Schutz gewährleisten soll – so wie diese wiederum ihre Autonomie nur in der Würde spiegeln können, die sie dem Flüchtling zugestehen. Die Qualität eines demokratischen Gemeinwesens bemisst sich eben auch daran, dass es normativ „richtig“ handelt. Es gibt dafür allerdings keine Garantie, denn die Autonomie des Staatsbürgers umfasst auch „the right to do wrong“.
Der Erfolg der AfD markiert einen grundlegenden Stimmungswandel
Damit ist der normative Kern skizziert, um den die Auseinandersetzung über die vermeintliche Obergrenze kreist. Diese ist keine nach Köpfen bezifferbare Größe, wie es diverse Vorstöße der CSU insinuieren. Der normative Kern des Grundsatzes des „ultra posse nemo obligatur“, demzufolge keiner über seine (Leistungs-)Fähigkeit hinaus belastet werden dürfe, kann sich in der Flüchtlingsfrage legitimerweise nur auf die Wirkungen beziehen, die diese auf die gewachsenen Strukturen demokratischer Selbsteinwirkung der Gesellschaft entfaltet. Befördert sie eine undemokratische Entwicklung? Schon die Frage legt nahe, dass die Antwort politisch streitig sein muss, zumal sowohl die Flüchtlinge selbst als auch die sie Abwehrenden in ihrem Handeln diese beeinflussen können. Die Angriffe von Rechtsradikalen und Rechtspopulisten auf Flüchtlinge und deren Unterkünfte sind gleichermaßen die Mittel, die öffentliche Meinung zu beeinflussen und die demokratischen Strukturen zu unterminieren. Sofern sie strafrechtlich relevant sind, sind sie entsprechend abzuwehren. Allerdings reicht der Verweis auf den rechten Geist nicht mehr aus, seitdem die AfD eine beachtliche parlamentarische Präsenz erreicht hat, die sich aus dem Wählerreservoir aller andern Parteien speist. Der Erfolg der AfD markiert einen grundlegenden Stimmungswandel innerhalb der Wählerschaft, dem auch die Parteien der Linken nolens volens Rechnung tragen müssen. Intellektuell müßig sind daher die internen Schuldzuschreibungen der Parteien des parlamentarischen Spektrums, die Begrüßung der Migration oder die Forderung nach einer Begrenzung habe den Rechtspopulismus befördert. Entscheidender in solchen Fragen ist die Geschlossenheit und die Handlungsfähigkeit der politischen Klasse.
Für die demokratische Selbststeuerung der Gesellschaft hat der Nationalstaat offensichtlich wichtige Voraussetzungen geschaffen, besonders durch seine erfolgreiche Entwicklung zum Rechts- und Sozialstaat. Die gleiche Anerkennung als Bürger (mit gleichen Rechten in Ehe und Familie) sowie im Wesentlichen über den Arbeitsprozess vermittelte Leistungs- und Solidarbeziehungen und eine offene demokratische Willensbildung bilden die entscheidenden Parameter, an denen sich eine gelingende Integration zu erweisen hat. Dabei handelt es sich um die unhintergehbaren Anforderungen an Migranten, die sich integrieren wollen.
Es entsprang wohl der gesinnungsethischen Verve, mit der die Flüchtlingspolitik anfänglich betrieben wurde, dass zunächst viel von kultureller und religiöser Bereicherung die Rede war, und weniger von der Ambivalenz dieses „Reichtums“, obgleich er Quell einer kriegerischen Differenz ist, der die Migranten entfliehen wollten. Die Einhegung dieser Ambivalenz kann nicht in einer Einbettung in eine „abendländische“ christliche Kultur, in einer Verständigung über religiöse Toleranz und einer Umformung des Islam nach Maßgabe der hiesigen staatlich geförderten christlichen Religionsgemeinschaften bestehen. Diese religiöse und kulturelle Bereicherung verlangt nach einer größeren staatlichen Neutralität gegenüber religiösen Belangen. So wäre es der interkulturellen Verständigung dienlicher, wenn an den Schulen statt separater Religionsunterweisungen ein für alle verbindlicher Ethikunterricht gegeben würde, wie es bislang nur in Berlin der Fall ist.
Wer eine europäische Lösung will, muss mit Kompromissen leben
Migration ist ein europäisches Problem, deshalb irritiert die „Alternativlosigkeit“ mit der die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin auch von jenen verfochten wurde, die noch vor nicht allzu langer Zeit diese „Alternativlosigkeit“ als Ausweis Merkelschen Neoliberalismus gegeißelt haben. Die Bedenkenlosigkeit verblüfft, mit der gerade Linke als überzeugte Europäer nun in der Flüchtlingsfrage einen nationalen Alleingang favorisieren. Ebenso irritiert die nationale Überheblichkeit, mit der die eigene Flüchtlingspolitik zum allgemeingültigen Modell erklärt wird und der erfahrungsgesättigten Reserve alter Einwanderungsgesellschaften wie Großbritannien oder Frankreich Mores gelehrt wird. So verständlich die normativen Beweggründe sind, so wird man nolens volens mit Kompromissen leben müssen, wenn man eine europäische Lösung anstrebt.
Wohl um die Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung zu befördern, wurden hierzulande die Grenzen zwischen Asyl und Einwanderung verwischt und die gerade der Not entronnenen Flüchtlinge unter der Hand zu Protagonisten eines volkswirtschaftlichen Win-win-Modells erklärt. Ihnen wird – etwa vom renommierten DIW – attestiert, kurzfristig nachfrageseitig die Konjunktur durch die Ausgaben für Unterkunft, Essen, den Bau von Unterkünften und so weiter zu beleben und mittelfristig angebotsseitig das demografische Problem durch die Teilhabe am Arbeitsprozess zu lösen. Dabei reicht schon ein kurzer Blick auf die unterstellten Nachfrageimpulse, um festzustellen, dass diese auch durch staatliche Investitionsprogramme in Infrastruktur oder die Energiewende – mit wahrscheinlich höheren und nachhaltigeren Effekten – ausgelöst werden können, mithin also kein Spezifikum der Einwanderung sind. Und auf der Angebotsseite sorgen die präziser werdenden Zahlen zur Grundqualifikation der Flüchtlinge für Ernüchterung, zumal diese mit dem Umbruch der industriellen Struktur in Deutschland korrelieren müsste, da im Zuge von „Industrie 4.0“ klassische Arbeitsverhältnisse tendenziell abgebaut und neue Anforderungen an die Qualifikation der Beschäftigten gestellt werden. Nicht von ungefähr hatte der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration im Frühjahr 2015 vor einer solchen Verwischung eindringlich gewarnt. „Das Asylverfahren für Flüchtlinge und die Verfahren zur Steuerung der Arbeitsmigration müssen klar getrennt bleiben“, sagte damals die Vorsitzende des Rates, Christine Langenfeld. „Sonst würde früher oder später das ganze vorhandene Steuerungsverfahren für die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Staaten wert- und wirkungslos.“ Und, so ließe sich ergänzen, die Flüchtlinge würden mit Erwartungen überfrachtet, die sie nicht erfüllen können. Leider blieb die Warnung weitgehend ungehört. Dabei dürfte sich die Akzeptanz der Flüchtlingspolitik weder durch ihre vermeintliche Alternativlosigkeit erzwingen, noch durch geschönte Erfolgsrechnungen befördern lassen.
Einer der Gründe, warum die liberalen einwanderungspolitischen Vorstellungen Michael Walzers in Kanada mehrheitsfähig wurden, liegt wohl an dem Stellenwert, den er dem Willen der Bevölkerung beimisst: „Wir, die wir bereits Mitglieder sind, nehmen die Auswahl vor, und zwar gemäß unserem Verständnis davon, was Mitgliedschaft in unserer Gemeinschaft bedeutet und welche Art von Gemeinschaft wir zu haben wünschen. Mitgliedschaft als soziales Gut wird begründet durch unser Verständnis von Zugehörigkeit, ihr Wert bemisst sich an unserer Arbeit und unserer Kommunikation; und so sind wir es (wer sollte es sonst sein?), denen die Verantwortung für die Vergabe und Verteilung zufällt.“ Wie derzeit zu beobachten, ist eine solche Selbstverständigung in Europa kaum zu erreichen. Sie wäre allerdings unabdingbar, sollen die zentrifugalen Kräfte nicht weiter zunehmen. Auch Deutschland ist von einer solchen Selbstverständigung noch ein Stück weit entfernt. Sie wäre aber notwendig, wenn Deutschland ein Einwanderungsland sein will.