Die Glaubenssätze der neuen Spießer
Quote machen mit dem Niedergang
Das zumindest suggerieren in ihren Bestsellern Autoren wie der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher (Minimum), der ZDF-Journalist Peter Hahne (Schluss mit lustig), die ehemalige Tagesschau-Sprecherin Eva Herman (Das Eva-Prinzip) oder der Verfassungsrichter Udo di Fabio (Die Kultur der Freiheit). Dass sie mit ihren Thesen lange Zeit über das Meinungsmonopol verfügten, hat einen einfachen Grund: Es hat ihnen niemand offen widersprochen. Irgendwie schien ihre Argumentation ja auch schlüssig. Und wie sich zeigte, war mit Niedergangsszenarien nicht nur sonntags nach dem Tatort Quote zu machen.
Jetzt endlich hat sich jemand gefunden, der gegen den Strom der Früher-war-alles-besser-Advokaten schwimmt: Christian Rickens, Redakteur, Mittdreißiger und – zu seinem Erstaunen – vor einiger Zeit im Bekanntenkreis plötzlich von bekennenden CDU-Wählern umringt. Der Journalist hat mit den Aussagen der Rollback-Verfechter vom Schlage eines Frank Schirrmacher einfach das gemacht, was ein Journalist nach Möglichkeit immer tun sollte: Er hat sie überprüft. Herausgekommen ist sein Buch über die „neuen Spießer“.
Dabei kommt Rickens zu einem überraschenden Ergebnis: Mit Belegen für ihre Thesen nehmen es die Neobürgerlichen nicht so genau. Ob drohendes Aussterben der Deutschen, fortschreitender Werteverfall infolge der Achtundsechziger-Bewegung, mangelnder Arbeitswille der Arbeitslosen, Niedergang der Familie oder unterdrückter Patriotismus – keine Aussage hält Rickens zufolge einer Überprüfung stand.
Wo jede Veränderung als Verfall gilt
Beispiel „Werteverfall“: Rickens verweist auf Studien des Soziologen Helmut Klages, der sich wie kein Zweiter mit diesem Thema beschäftigt hat. Der Professor kommt zu dem Ergebnis, dass es in den vergangenen Jahrzehnten zwar einen Wertewandel hin zu mehr Individualismus, mehr Toleranz und weniger Obrigkeitshörigkeit gegeben habe. Von einem Werteverfall hingegen könne keine Rede sein.
Ein differenziertes Ergebnis auch beim Thema demografische Entwicklung: Rickens zeigt, dass die deutsche Geburtenrate seit über 30 Jahren relativ konstant und im internationalen Vergleich keineswegs einzigartig niedrig ist, sondern sich im Durchschnitt industrialisierter Länder bewegt. Im Übrigen habe sich die durchschnittliche Anzahl der Kinder pro Frau zwischen 1890 und 1920 von fünf auf 2,5 halbiert – eine weitaus dramatischere Entwicklung als die für die nächsten Jahrzehnte prognostizierte.
Rickens leugnet die Herausforderungen etwa einer alternden Gesellschaft keineswegs. Aber er fordert eine Debatte ein, die sich an den Fakten orientiert. Das würde vielen Debatten die Hysterie entziehen. Doch Rickens leistet nicht nur einen Beitrag zur Versachlichung mancher Diskussionen. Er zeigt auch, dass einige von ihnen jeder Grundlage entbehren. So kennzeichnet er die Hermansche Interpretation der Rolle der Frau („Es darf ihr Glück nicht allein darin bestehen, Geld zu verdienen und sich in der männlichen Berufswelt zu behaupten“) als reinen Glaubenssatz ohne jegliche faktische Grundlage.
Ganz wichtig: Wie deutsch war Hitler?
Zu welchen skurrilen Auswüchsen der strikte Glaube führen kann, zeigt Rickens exemplarisch an der unter Konservativen beliebten Diskussion, ob Hitler überhaupt ein Deutscher gewesen sei. Verfassungsrichter Udo di Fabio verneint dies, „nicht etwa weil er österreichischer Herkunft war, sondern weil er kein Jota vom Anstand des preußischen Staatsdieners, weder Heimatgefühl noch Lebensfreude des bayerischen Katholizismus besaß, keinerlei Neigung für Fleiß und harte Arbeit, keinen Sinn für deutsche Lebensart, bürgerliche Vorlieben und christliche Traditionen“. Angesichts dermaßen verquaster Begründungen sorgt sich der Leser nicht nur um die Rechtsprechung in Deutschland, sondern solidarisiert sich mit dem Autor, der fast verzweifelt fragt: „Wo soll man bei so viel Unfug bloß mit dem Argumentieren anfangen?“
Das ist ein weiterer Vorzug des Buches: Rickens setzt sich nicht nur im Hinblick auf Faktentreue von Schirrmacher & Co. ab, sondern auch in seinem Schreibstil: Das Buch ist in klarer, direkter und unterhaltsamer Sprache verfasst. An vielen Stellen muss der Leser schmunzeln – etwa wenn Rickens zu Peter Hahnes Maxime „Wenn alles gleich gültig ist, ist auch schnell alles gleichgültig“ zugibt, dazu falle ihm auch nicht mehr ein als die Forderung nach hundert sofort zu vollstreckenden Stockschlägen für schlechte Wortspiele.
Rickens’ Fazit: Anders als die neobürgerlichen Horrorszenarien vermuten ließen, funktioniere die Gesellschaft trotz aller Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte erstaunlich gut. Dass es in jüngerer Zeit nicht gelungen sei, zentrale Probleme wie die Arbeitslosigkeit zu lösen, liege deshalb nicht an der Gesellschaft, sondern sei im politischen System begründet. Von der Notwendigkeit grundlegender Reformen etwa der sozialen Sicherungssysteme überzeugt, lautet sein Credo deshalb: „Wer Deutschland erneuern will, muss das politische System reformieren, nicht die Menschen umerziehen.“
Dass am Ende dann doch, wie so häufig, „die“ Politik schuld sein soll, erscheint als Fazit indes oberflächlich. Nur ein bisschen das System verändern, dann klappt’s auch mit den Reformen – diese vermeintlich einfache Logik genügt nicht. Zumindest nicht am Ende eines Buches, das zuvor sehr überzeugend die gängigen „Wahrheiten“ durch differenzierte Betrachtung widerlegt hat.
Christian Rickens, Die neuen Spießer: Von der fatalen Sehnsucht nach einer überholten Gesellschaft, Berlin: Ullstein
Verlag 2006, 288 Seiten, 14 Euro