Komm wieder, Lebensgefühl!
Leider muss an dieser Stelle die Theorie enden. Zumindest vorerst. Denn „Comeback“ und „Lebensgefühl“ fallen einem bei halbwegs nüchterner Betrachtung des derzeitigen sozialdemokratischen Seelenzustandes nicht unbedingt spontan ein. Becks Worte der Ohnmacht, Clements Förmchenwerfen und Ypsilantis Machtgeschacher – das alles ist nicht wirklich schön anzusehen und folgt stets dem unsolidarischen Motto: Jeder für sich – und keiner für alle!
Mal wieder ist die Globalisierung schuld
Deshalb verharrt die einst stolze Partei, die seit einem Jahrzehnt das Land regiert – und das nicht schlechter als jene, die immer behaupteten, die „Sozen“ könnten es nicht – in einer geradezu tragischen Situation: Während sich traditionelle linke Positionen (mehr staatlicher Einfluss in der Wirtschaft, mehr Umverteilung, mehr soziale Sicherheit) in nahezu allen Teilen der Bevölkerung wachsender Beliebtheit erfreuen, sinkt gleichzeitig der Stern der traditionsreichsten linken Partei in Deutschland immer weiter.
Es hat den Anschein, dass die SPD nicht mehr weiß, welche Rolle sie zwischen den populistischen Umverteilern vom Schlage Lafontaines und der pragmatischen „Sozialdemokratie light“ à la Merkel überhaupt spielen soll. Oder, um es mit den Leitartiklern der Republik zu sagen: Die Partei hat ihren Kompass verloren. Nur wann und wo?
Schuld daran ist, vor allem und mal wieder, die Globalisierung, analysiert Christian Rickens. Da es heute viel schwieriger sei, soziale Gerechtigkeit zu organisieren als zu kuscheligen Zeiten der alten Bundesrepublik, leide die SPD unter dieser Entwicklung ganz besonders. Schließlich wurde sie auf diesem Gebiet ja immer als Kompetenzbastion angesehen. Wer wie kein anderer für soziale Gerechtigkeit steht, aber auf die zentrale linke Frage der Gegenwart, wie sich diese in Zeiten der Globalisierung organisieren lasse, keine Antwort bieten kann, der habe natürlich ein Problem.
Doch die gute Nachricht lautet (und hier beginnt wieder die Theorie): Es scheint ihn zu geben, den gangbaren Weg, an dessen Ende, sozusagen als Belohnung, eine Antwort steht, wie die SPD wieder zu sich selbst finden kann. Das glaubt zumindest Christian Rickens – und nach der Lektüre seines Buches werden ihm viele Recht geben. Sein Lösungsansatz ist verblüffend einfach: Die Partei, die noch immer musikalisch beschwört, mit ihr ziehe die neue Zeit, müsse sich auch politisch auf das besinnen, was sie einst auszeichnete: auf einen gewaltigen Aufbruchsgeist und einen unstillbareren Drang nach Freiheit. Christian Rickens wirbt für eine linke Perspektive, „die politische Freiheit deutlich höher bewertet, als es Linkspartei und dem linken Flüge der SPD derzeit in den Sinn kommt“. Und weiter: „Zugleich will ich diesen neuen linken Liberalismus auf revisionistischem Wege verwirklicht sehen – durch das Werben um Menschen und Mehrheiten.“
Gutsherren und Leibeigene
Von gestern für morgen lernen – wie wenig die derzeitige sozialdemokratische Politik diesem Motto folgt und wie stattdessen seit Jahrzehnten Gängelung und Besitzstandswahrung die Regierungspraxis prägen, verdeutlicht Rickens am Beispiel der Sozialversicherung. Dabei handele es sich um „ein überkommenes System, das nahezu die komplette Finanzierung ... einseitig bei den Beziehern von mittleren und geringen Arbeitseinkommen ablädt und jenen, die nicht clever oder skrupellos genug sind, es auszunutzen. Den Geringqualifizierten nimmt (es) nahezu jeden ökonomischen Anreiz. ... Doch ein Sozialsystem, das von den Menschen verlangt ..., dauerhaft gegen ihre ökonomischen Interessen zu handeln, ist zum Scheitern verurteilt“.
Dass die Reformen der vergangenen Jahre kein großer Wurf waren, hat Rickens zufolge zwei Gründe: „Das bestehende Sozialversicherungssystem bedeutet Macht fürs partei- und verbandspolitische Establishment.“ Und: „Aus dem gesamten Sozialversicherungssystem spricht das Misstrauen gegenüber der Fähigkeit des Menschen, eigenverantwortlich über sein Leben zu befinden – so wie das Misstrauen der Gutsherrn gegenüber seinen Leibeigenen.“
Zwar klingt der Wirtschaftsjournalist bei solchen Sätzen wohl nicht nur in den Ohren von Andrea Nahles und Ottmar Schreiner wie ein rotlackierter FDPler. Doch genau das macht das Buch ja so erfrischend: Schließlich ist der Autor, obwohl seit seiner Jugend politisiert und in der Selbsteinschätzung seit jeher links, nicht parteipolitisch sozialisiert. Aufstiegsfördernde politische Korrektheit ist ihm deshalb ebenso fremd wie die gremientaugliche Einteilung der Welt in Gut und Böse.
Die zahlreichen Vorschläge des Autors, wie eine mehrheitsfähige linke Politik im 21. Jahrhundert aussehen könnte, haben deshalb eher Schrödersche Züge und sind im besten Sinne pragmatisch: Was können wir vom Wünschenswerten realistischerweise umsetzen? Wenn ihm der Leser bei seiner Argumentation folgt, hat dies nicht nur damit zu tun, dass Rickens weiß, wovon er schreibt. Wie in seinem Erstlingswerk, in dem er sich an den „Neuen Spießern“ rieb, pflegt Rickens durchweg einen kurzweiligen und leicht verständlichen Stil.
Abschotten geht nicht mehr
Sein inhaltliches Verdienst sind weniger revolutionäre Reformideen, die auf Besitzstände der Politiker keine Rücksicht nehmen und den Bürgern neues Vertrauen schenken. Alle seine Vorschläge hat man irgendwann schon einmal irgendwie gehört – ob Rickens nun für ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle plädiert, die Segnungen einer stärkeren Steuerfinanzierung des Sozialsystems beschreibt oder mehr qualifizierte Zuwanderer anwerben will. Doch der Autor präsentiert diese Vorschläge außergewöhnlich überzeugend – und zeigt damit, dass Politik auch heute, wo angeblich alles so schwierig geworden ist, zu mehr in der Lage sein müsste, als binnen einer Legislaturperiode ein bisschen herumzuwurschteln.
Neben diesem fundierten Überblick trägt Rickens verschiedene Aspekte des Linksrucks in Deutschland zusammen und bietet eine solide Rückschau der wirtschaftspolitischen Ideengeschichte vom Keynesianismus zum Neoliberalismus. Eigentlich sollte die Parteiführung der SPD das Buch zur Pflichtlektüre für alle Mitglieder und Sympathisanten machen – vor allem für die Sozis, die immer noch glauben, gute linke Politik bedeute, sich am besten gegenüber der bösen globalisierten Welt da draußen abzuschotten, indem man drinnen möglichst so weitermacht wie bisher.