Die Katastrophe der Erziehung

Susanne Gaschke verteidigt die Kinder gegen die Toleranz der Infantilen

"Beeil dich, Lisa!", schrie Britta. "Sonst kommen wir zu spät!" Da wandte ich mich nach Pontus um und schrie: "Beeil dich, Pontus, sonst kommen wir zu spät!" Noch nie habe ich Kinder so staunen sehen wie Lasse und Bosse und Ole und Britta und Inga, als sie Pontus sahen. "Wo ... wo will der denn hin?", fragte Lasse. "In die Schule", sagte ich. "Dann hört wohl endlich das Gerede auf, dass nur Hunde einem überallhin folgen." Ich kann versichern, sie sahen erstaunt aus. "Lisa, bist du sicher, dass du heute ganz gesund bist?", sagte Lasse. "Wissen Papa und Mama davon?", fragte Bosse. Als Bosse fragte, ob Papa und Mama davon wüssten, wurde ich ein wenig ängstlich. Denn daran hatte ich nicht gedacht. Aber Inga schlug die Hände zusammen und lachte und sagte, ob Lämmer nicht genau so gut in die Schule gehen könnten wie Hunde."

So steht es bei Astrid Lindgren. Irgendwo zwischen der Dorfschule von Storbü und dem Schafstall von Bullerbü muss die ideale Kindheit liegen - die mit den echten Lämmern wie dem kleinen Pontus. Heute gibt es diese Kindheit nicht mehr, und früher gab es sie natürlich auch nicht, aber als Maßstab soll sie gelten: dafür, wie Kinder aufwachsen und wie Erwachsene sie erziehen sollen. In Bullerbü sind die Sphären der Erwachsenen und der Kinder klar getrennt. Es gibt dauerhafte Familienstrukturen, einen Jahresablauf, gegliedert durch Jahreszeiten und Feste, keine materielle Not, aber auch keinen Überfluss. Entscheidend ist: In Bullerbü gibt es feste Regeln und Strukturen. Etwas, was den Kindern unserer Selbstverwirklichungsgesellschaft mehr fehlt als das Lämmchen Pontus und ein See zum Krebsefangen.

Der Mangel an Verboten und Regeln ist der Kern der "Erziehungskatastrophe", die Susanne Gaschke in deutschen Familien und Schulen beobachtet, verursacht durch die "Spätschäden von Achtundsechzig": Die Eltern haben die Ideen der Selbstverwirklichung, der dauernden Ich-Findung, der ewigen Jugend und der Toleranz so gründlich verinnerlicht, dass sie ihren Kindern keine erziehenden Eltern mehr sein wollen, sondern Kumpel. Doch dem liege ein falsches Bild von Kindsein zugrunde: "Der (bequeme) Glaube, das Kind wisse schon selbst am besten, was gut für es sei, scheint das hartnäckigste Sediment der antiautoritären Ideologie zu sein, die dreißig Jahre lang durch alle gesellschaftlichen Schichten, durch alle Formationen des Bildungswesens gesickert ist."

Ein Kleinkind weiß aber nicht von selbst, warum es einem anderen nicht die Schaufel auf den Kopf hauen soll. Ein Kind erzieht sich nicht von selbst, und wer sich das einredet (wie etwa die Erzieherin in der Kindertagesstätte, die aufeinander einschlagende Dreijährige gewähren lässt), macht es sich zu einfach. Aber die Eltern haben sich längst daran gewöhnt, die Erziehung ihrer Kinder nicht mehr für ihre ureigene Aufgabe zu halten, sie delegieren ihre Pflichten an den Staat. Oder an das Fernsehen. Sie lehren nicht, wie aus Argumenten Überzeugungen werden, sondern dass man andere Meinungen immerzu akzeptieren müsse: "Irgendjemand hat diesen Jugendlichen so gründlich beigebracht, ‚tolerant‘ zu sein, dass sie auch gegen offensichtlichen Unsinn nichts in der Hand haben.", schreibt Susanne Gaschke.

Viele Eltern verschleiern ihre Gleichgültigkeit als pädagogisches Konzept. Es ist einfach, sich auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit zu berufen, das ist das Leitbild unserer Gesellschaft. Gerade hier macht die Autorin den Fehler aus: "Es ist der fundamentale Irrtum der antiautoritären Pädagogik, das Erziehungsziel, den freien, verantwortungsvollen Menschen, mit dem Weg zu diesem Ziel verwechselt zu haben." Kinder sind überfordert von einer Welt, die ihnen keine Grenzen setzt. Sie reagieren mit Verunsicherung, seelischer Verwahrlosung, mit Aggression, mit übersteigerten Konsumvorstellungen, Vandalismus oder Selbststigmatisierung.

Kinder sollen glücklich sein und lernen

Um den Zusammenhang von Selbstverständnis der Eltern und den Erziehungsfolgen für die Kinder zu beleuchten, holt Susanne Gaschke weit aus: Es gehe um die "Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der Zivilisation" und um die Verhinderung des Rückfalls in die Barbarei. Dazu müsste man vielleicht nicht gleich Auschwitz bemühen, wie die Au-torin es mit einem Adorno-Zitat tut: Als die Deutschen Auschwitz errichteten, wurde auf Benimmregeln bei Tisch mehr Wert gelegt als heute - geholfen hat das nicht.

Aber wie auch immer, wichtig sind in der Tat die Kinder, die erzogen werden sollen: Die sollen glücklich sein und lernen, wie man in einer gefährdeten Wohlstandsgesellschaft klarkommen kann. "Um in der Kultur zu leben, muss jeder Mensch Regeln, Anstand und ethische Normen lernen. Dabei brauchen Heranwachsende Hilfe", schreibt Susanne Gaschke - ein Lateinlehrer der späten fünfziger Jahre hätte es nicht schöner formulieren können. Doch die Redakteurin der Zeit hat bei ihren ausgiebigen Recherchen in Schulen und Kindertagesstätten so viel von jenem Gemisch aus Gleichgültigkeit und antiautoritäter Erziehung erlebt, dass sie glaubt, man müsse selbst das ganz Banale wieder erklären. Im abgelaufenen Jahrhundert sind die Erziehungsideologien von einem Extrem zum anderen umgeschlagen, vom Rohrstock zum Laisser-faire. Was die Autorin fordert, liegt irgendwo in der Mitte und sollte in einem Land ohne materielle Not im Grunde selbstverständlich sein: eine Erziehung, die Kindern ein bisschen Idylle schafft und viel Normalität, geleistet von erwachsenen Eltern, die Zeit für ihre Kinder haben.

Die berufstätige Mutter ist der Maßstab

Das klingt unspektakulär, ist aber schwer zu machen. Es bedeutet schlicht und einfach, dass Kinder und ein Acht-Stunden-Job nicht vereinbar sind. "Das Wesen von Beruf und Familie ist es, dass sie in einem antagonistischen Verhältnis stehen. Beide Sphären erheben einen möglichst vollständigen Anspruch auf denjenigen, der sie vereinbaren soll." Das ist leider richtig, da helfen auch bessere oder billigere Kindertagesstätten und Ganztagsschulen nur wenig. Susanne Gaschke schreibt etwas vorsichtig: "Der fortschrittliche Teil unserer Gesellschaft hat die berufstätige Mutter zum Maßstab gemacht und damit etwas für die Gleichstellung von Frauen und Männern getan. Wir lügen uns aber in die Tasche, wenn wir die Kosten verschweigen."

Stammten diese Zeilen von einem CDU-Politiker und nicht von einer berufstätigen Mutter, würde man als nächstes ein deutliches Plädoyer für die Mutter am Herd erwarten. Meint man es aber ernst mit der Gleichstellung der Geschlechter und der Forderung, dass Kinder beide Elternteile zur Erziehung brauchen, müsste man als familienpolitische Forderung halbe Stellen für alle Eltern verlangen. Nur das wäre wirklich konsequent, ist aber kaum realisierbar. So stellt die Autorin den Mangel an Erwachsenen-Hilfe für die Kinder fest und weiß, wei sollte sie, keine Lösung.

Doch auch wenn das große Problem von Arbeit und Kinderbetreuung nicht wegzureden ist, hat Susanne Gaschke einige Vorschläge parat: Die Kindheit sollte als "separater Lebens- und Erfahrungsraum" gegen die Effizienz des Erwachsenenalltags und die Angriffe des Konsumzwangs verteidigt werden. Beides ist nicht leicht: Die Eltern - und damit die Großeltern - werden immer älter, die traditionelle Zusammenarbeit der Generationen funktioniert nur noch selten. Großstadtkinder können zum Spielen nicht einfach vor die Tür gehen wie Inga und Lisa aus Bullerbü. Deshalb muss die Freizeit organisiert werden. "Es ist inzwischen ein Gemeinplatz, dass es zweier Vorzimmer bedarf, um manche Neunjährige zwischen Kieferorthopäden, Reitstunden, Kinderchor, Ballett und Computerkurs terminlich zu koordinieren."

Und weil es das echte Bullerbü nirgends gibt, bemühen sich die Eltern um eine Ersatzwelt: "Am Wochenende fährt man nicht mit dem Fahrrad, nicht in den Wald oder ans Meer, sondern mit dem Auto, und in den Freizeitpark. Dort probiert man die Looping-Bahn aus, (...) kauft Eis und Hamburger und eine batteriebetriebene blinkende Plastikhalskette und erlebt einen tollen Tag für die ganze Familie." Die Kinderaufbewahrung wird professionalisiert, die Kinderwelt nach Bedürfnissen der Erwachsenen inszeniert - in einer "Käseglockenatmosphäre".

Kästner bleibt besser als Explosionsfernsehen

Doch in der Schule treffen die Kinder auf eine harte Wirklichkeit, die sie oft überfordert. Um mit ihren Klassenkameraden mithalten zu können, müssen sie einem teuren dress code folgen. Und die angesagtesten Fernsehsendungen kennen. Die Autorin hält ein Plädoyer für das Buch und gegen das Fernsehen als Mittel der Erziehung und erklärt, warum Erich Kästner- und Astrid Lindgren-Bücher besser sind als endlose Explosionsserien im Fernsehen. Wer je selbst gelesen hat, hat das zwar immer schon gewusst - und kritische Medienwissenschaftler (wie der Dortmunder Claus Eurich) haben schon vor der Einführung des Privatfernsehens davor gewarnt. Aber an der Attraktivität des Ballerfernsehens für die meisten Kinder ändert das natürlich nichts.

Susanne Gaschkes Mängelliste der öffentlichen Er-ziehung ist ebenso lang wie die der privaten Versäumnisse: Die Schulen schaffen es oft nicht, Basiswissen zu vermitteln (auch aus Abneigung gegen das sture Pauken von reinen Fakten), verstricken sich aber in überflüssige Projekte wie Englisch für Grundschüler und huldigen dem Technikkult. Computerkenntnisse zu vermitteln halten Bildungspoltiker für unerlässlich für den "Standort Deutschland". Doch darum geht es gerade nicht in der Schule, warnt die Autorin: "Es geht einem verantwortungsbewußten Erzieher immer um den Menschen, der eine Persönlichkeit werden soll - nicht um die Massenproduktion von künftigen Unternehmensberatern." Das ist aus den modernisierungsbeflissenen Lehrplanänderungen ("Alle Schulen ans Netz!") nicht immer ersichtlich.

Die Eltern sind selbst nicht erwachsen

Die Mängelliste hätte durch ein eigenes Kapitel über die nachlassende Sportlichkeit der Kinder ergänzt werden können. Überall klagen Sportlehrer über zunehmende Koordinationsschwächen und nachlassende Beweglichkeit und fragen sich, wie sie Kindern die Schrittfolge unter dem Basketballkorb beibringen sollen, wenn die Schwierigkeiten haben, überhaupt einen Ball zu fangen.

Die "Erziehungskatastrophe" ist nicht allein ein Buch über die Erziehung, sondern vor allem eine Kritik am herrschenden Habitus der ewig Jugendlichen, die längst alt genug wären, Kinder zu bekommen, doch so wirken, als seien sie selbst nicht erwachsen: "weder sehr selbstdistanziert noch sehr zielstrebig, weder fähig zum Bedürfnisaufschub noch in der Lage, Verantwortung für andere zu übernehmen". Wer selbst Kinder hat, kann sich gut vorstellen, wie die Abneigung der Autorin gegen diese Haltung ihrer Altersgenossen und -genossinnen gewachsen ist, als sie mit Mitte 20 Mutter wurde.

Man mag kritisieren, dass Susanne Gaschke ihre Kulturkritik vor allem mit den bekannten Kronzeugen Adorno, Huxley und Neil Postman betreibt. Und man darf ihre Habituskritik für übertrieben halten. Doch deckt die sich eben auffällig mit den begeisterten Selbstbeschreibungen eben dieser infantilitisierten Verantwortungsverweiger: etwa in der Tugend der Orientierungslosigkeit der Ulrich-Beck-Epigonen Christoph Clermont und Johannes Goebel oder in Tristesse royale von Joachim Bessing, Christian Kracht und anderen, die beanspruchen "ein Sittengemälde unserer Generation" zu malen. Dort geht es etwa darum, wie die Enden von Toilettenpapier in Luxushotels gefaltet sein sollten. Die aktuelle Debatte um Gentechnik zeigt, dass es andere Dinge sind, auf die Erziehung im 21. Jahrhundert vorbereiten muss. Dinge, die man in Bullerbü lernt oder in irgendeiner anderen Welt, in der lebende Lämmer wichtiger sind als Teletubbies.

Susanne Gaschke: Die Erziehungskatastrophe. Kinder brauchen starke Eltern. Stuttgart und München: DVA 2001, 304 Seiten, 39,80 Mark

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