Die keynesianische Konstellation
Das Papier zur "Zukunft in Arbeit" von Huber-tus Heil, Nina Hauer, Christian Lange und Christoph Matschie handelt nicht von einer neuen Vision der Arbeitsgesellschaft im Zeitalter der Digitalisierung oder von einer neuen Konzeption des Dritten Weges. Es geht, vergleichsweise pragmatisch, um die Revitalisierung einer Politik für mehr Beschäftigung. Die These lautet, mehr Beschäftigung werde die gesellschaftliche Integrationsfähigkeit verbessern. Im Gegensatz zu den Verfechtern der These vom "Ende der Arbeitsgesellschaft" vertreten die Autoren eine optimistische, gleichsam politische Sichtweise. Sie unterstellen, dass durch eine innovations- und technologieorientierte Modernisierung der deutschen Volkswirtschaft auf der Grundlage einer Politik der Haushaltskonsolidierung die Basis für das Vollbeschäftigungsziel verbessert werden kann. Um dies zu erreichen, werden verschiedene Politikfelder - von der Bildungs-, Sozial-, Finanz-, Wirtschafts-, Steuer- und Technologiepolitik - in eine integrierte Gesamtperspektive gebracht.
Die Autoren sind der Auffassung, dass forcierte Wachstumspolitik der entscheidende Dreh- und Angelpunkt ist, um die Misere auf dem Arbeitsmarkt mit neuen, erfolgversprechenden Initiativen anzugehen. Gleichwohl verfallen sie nicht der Idee, die Lösung dieser Misere primär in einer quantitativ ausgerichteten Kostensenkungspolitik auf der Ebene der Arbeitnehmereinkommen zu suchen. Sie haben zwar auch das besondere Problem gering Qualifizierter, die Kostenbelastung der Unternehmen und das Erreichen eines niedriges Zinssatzes durch die EZB im Auge, jedoch konzentriert sich ihr Ansatz auf die qualitativen Elemente des deutschen Produktionsmodells. Deshalb gilt ihr besonderes Interesse auch der Frage, was die Politik dazu beitragen kann, die Investitionstätigkeit der Unternehmen zu erhöhen, das Qualifikationsniveau der Beschäftigten zu heben und den schnellen Einsatz neuer Technologien zu gewährleisten. Dabei werden ökologische Implikationen und die damit einhergehenden politischen Steuerungsgebote jedoch nicht systematisch mit den angesprochenen Politikfeldern verknüpft.
Zur Debatte steht die Rolle des Staates
Wachstumspolitik wird also nicht als Selbstzweck gesehen, sondern als Bedingung, um die arbeitsmarkt- und integrationspolitischen Wirkungen zu verbessern. In diesem Kontext sprechen sich die Autoren für einen aktivierenden Sozialstaat aus. Dessen Handeln soll sich am Ziel der sozialen Gerechtigkeit orientieren, um die Verwerfungen des Marktes abzufedern. Letztlich geht es bei der Frage des zukünftigen Sozialstaates um zielgenauere Sicherungspolitik, bei der die Rolle des Staates und dessen Verhältnis zu den anderen Akteuren sozialer Sicherung - dem Markt, den Verbänden und den Individuen ("fordern und fördern") - auf der Tagesordnung steht. Will man das Papier nicht bloß als eine weitere unausgegorene Ansammlung von Aktivitäten aus dem neoliberalen Instrumentenkasten abtun (woran hier kein Interesse besteht), dann muss die Frage lauten, wie die vorgetragenen Empfehlungen dazu beitragen können, staatliche Politik auf die Höhe wirtschaftlichgesellschaftlicher Entwicklungstendenzen zu bringen. Im folgenden werde ich einige zentrale Aspekte des Papiers aufgreifen und mit eigenen Überlegungen ergänzen.
Die Frage der Arbeit sei die "Schicksalsfrage der Menschheit", schreibt Daniel Cohen, der französische Wirtschaftstheoretiker und Berater von Lionel Jospin in seinem jüngsten Buch.1 Gerade moderne Gesellschaften, deren Fähigkeit zur Integration jenseits der Arbeit immer weiter abschmilzt, sollten daran interessiert sein, die Arbeit so zu vergesellschaften, dass jeder eine Beteiligungschance hat. Das kategoriale Problem, mit dem diese Gesellschaften seit etwa zwei Jahrzehnten konfrontiert sind, bringt der Leipziger Soziologe Georg Vobruba in seiner These von der doppelten Krise der Lohnarbeit auf den Punkt: "Es gibt zu wenig Arbeitsplätze, gemessen an der Zahl der Leute, die auf abhängige Erwerbsarbeit angewiesen sind; und viele Arbeitsplätze entsprechen nicht humanisierungs-, ökologie-, friedenspolitischen und ähnlichen Kriterien."2 Darin, scheint mir, muss der seriöse Ausgangspunkt der Debatte liegen: Denn wie man zusätzliche Arbeitsplätze schafft, kann für eine moderne, demokratische Gesellschaft nicht die Frage sein, in der sich die politische Perspektive erschöpfen darf. Immer mehr geht es auch um die Frage der Qualität der Arbeit. Insofern kann auch die von den Autoren des Papiers geforderte Wachstumsstrategie davon nicht losgelöst werden.
Im europäischen Vergleich gibt die deutsche Situation Anlass, über weitere Initiativen nachzudenken. Fangen wir mit der Beschäftigungsquote der 15- bis 64- Jährigen an: Mit 65 Prozent ist sie in Deutschland zurzeit deutlich geringer als in beschäftigungspolitisch erfolgreicheren Ländern wie Dänemark (77 Prozent), Niederlande (71 Prozent), Schweden (71 Prozent) und Großbritannien (70 Prozent).3 Beim durchschnittlichen jährlichen Beschäftigungswachstum lag die Bundesrepublik in den Jahren 1995 bis 1999 in Europa an letzter Stelle. Zwar hat sich die Beschäftigungsquote seit der rot-grünen Regierungsübernahme etwas verbessert, dennoch bleibt Deutschland sowohl bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze wie auch mit Blick auf wichtige Problemgruppen hinter den Ergebnissen der meisten anderen EU-Länder zurück. Das betrifft besonders die Langzeitarbeitslosen. Zu dieser Gruppe zählen im europäischen Schnitt 45 Prozent der Arbeitslosen, in Deutschland aber 51 Prozent. Eine vorbildliche Rolle nimmt die Bundesrepublik bei der Ausbildung und Beschäftigung von Jugendlichen ein; das verpflichtet auch weiterhin zu besonderen Leistungen.
Der Verzicht auf Technik kostet Arbeitsplätze
Ich stimme den Autoren des Papiers zu: Beschäftigungspolitik ohne Wachstum ist nicht denkbar. Deshalb benötigen wir eine Technologiepolitik, die besonders kleine und mittlere Unternehmen besser in den Stand versetzt, neue technologische Entwicklungen anzuwenden. Nicht der Einsatz von arbeitssparenden Technologien zerstört Beschäftigung, sondern der Verzicht auf sie oder ihr verspäteter Einsatz. Mit dem Einsatz von neuen Techniken ist immer dann zugleich Arbeitsplatzabbau verbunden, wenn es keine dynamische Politik gibt, die soziale Übergangsstrategien entwickelt, Qualifikation ermöglicht und innovative arbeitsplatzschaffende Anschlussstrategien konzipiert. Jede Wachstumsstrategie hat also auch ökologische, ergonomische, qualifikatorische sowie prozess- und produktbezogene Implikationen, die nicht gering geschätzt werden dürfen. Denn sie sind es, die das deutsche Produktions-Modell und die Exportstärke der deutschen Industrie ausmachen. Zugleich aber wissen wir, dass sich eine Beschäftigungsstrategie in der Wissensgesellschaft nicht in forciertem Technologietransfer erschöpfen kann. Es bedarf ebenso der Förderung von bisher unzureichend erschlossenen Beschäftigungsfeldern wie den personenbezogenen Dienstleistungen. Schließlich geht es auch darum, den Wirtschaftlichen Strukturwandel in gesellschaftlich sinnvollen Felder zu unterstützen, und den Grad der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zu erhöhen.
Weiter sollte die Wachstumspolitik durch eine neue reflexive Arbeitsumverteilungspolitik ergänzt werden. Diese Absicht kann erschließen, wer sich vor Augen hält, dass Vollbeschäftigung in jeder gesellschaftlichen Phase eine andere Bedeutung hat. In seinem Jahresgutachten definierte der Sachverständigenrat 1967/68 das Ziel so: "Unter Vollbeschäftigung oder hohem Beschäftigungsstand - wird in der Zielprojektion eine Arbeitslosenquote von 0,8 Prozent, gemessen als Anteil der Arbeitslosen an den abhängigen Erwerbspersonen, verstanden." Im kurzen goldenen und zugleich konservativen Zeitalter des deutschen Kapitalismus zwischen 1955 und1974 bedeutete das die Beschäftigung des männlichen Ernährers. Diese wurde möglich, weil die meisten Frauen eine Hausfrauenexistenz akzeptierten. Seit dieses Leitbild weggefallen ist hat sich durch den enormen Zustrom weiblicher Erwerbspersonen eine neue soziale Konstellation am Arbeitsmarkt entwickelt.
Arbeitslosigkeit und Fachkräftemangel
Die vergangenen zwei Jahrzehnte auf dem Arbeitsmarkt sind durch drei säkulare Prozesse geprägt: Erstens ist das Arbeitsvolumen infolge von Produktivitätssprüngen stark gesunken. 1960 benötigten in Westdeutschland etwa 26 Millionen Erwerbstätige ein Arbeitsvolumen von rund 56.341 Millionen Stunden um ein Bruttoinlandsprodukt von 1.000 Milliarden Mark (gemessen in Preisen von 1991) herzustellen. 1998 brauchten knapp 28 Millionen Erwerbstätige für ein fast dreimal so großes BIP (2.889 Milliarden Mark) nur noch 43.607 Stunden. Zweitens ist trotz der nahezu exponentiell gestiegenen Produktivität die Zahl der Arbeitsplätze seit den sechziger Jahren deutlich gewachsen. Natürlich nicht in den traditionellen Branchen der verarbeitenden Industrie und beim Staat. Dort gab es zwar einen im internationalen Vergleich etwas geringer ausfallenden Abbau von Arbeitsplätzen. Der wurde jedoch durch den Aufbau von neuen Arbeitsplätzen im Dienstleistungssektor mehr als kompensiert. Und drittens ist seit den siebziger Jahren die Arbeitslosigkeit jenseits der Vollbeschäftigung stark angewachsen - mit einer hohen Sockelarbeitslosigkeit und einem stabil hohen Anteil an Langzeitarbeitslosen. Zugleich wächst seit einigen Jahren das Problem fehlender Fachkräfte, was wiederum negative Auswirkungen für das Beschäftigungswachstum in nachgelagerten Beschäftigtengruppen hat.
Auf die Arbeitsverteilung kommt es an
Um im nachkonservativen Vollbeschäftigungszeitalter arbeitsmarktpolitisch erfolgreich zu sein, ist eine komplexe Strategie notwendig, bei der die Arbeitsverteilung zwischen denen, die erwerbstätig sein wollen und denen, die es sind, eine prominente Rolle spielen sollte. Ohne Arbeitsverteilung hätten wir heute eine um ein vielfaches höhere Arbeitslosigkeit. Alle beschäftigungspolitisch erfolgreichen Länder in Europa können einen nicht unerheblichen Teil ihres Erfolges auf diese Strategie zurückführen. In diesem Sinne ist die Schaffung von mehr Arbeitsplätzen nicht allein Ergebnis ökonomischen Wachstums, sondern auch sozialer Definitionen, Beziehungen und Präferenzen.
Es stehen viele Instrumente zur Verfügung, die eine Wachstumsstrategie keinesfalls konterkarieren, sondern sie flankieren: So gibt es in den beschäftigungspolitisch erfolgreichen Ländern wie den Niederlanden (39 Prozent), Schweden (23 Prozent) und Dänemark (21 Prozent) einen deutlich höheren Anteil von Teilzeitbeschäftigen als in Deutschland (19 Prozent); die Instrumente Job Rotation, Sabbaticals etc. stecken in Deutschland erst in den Anfängen; Arbeitszeitkonten sollten beschäftigungskonform eingesetzt werden; selbst bei der kollektiven Arbeitszeitverkürzung, die in Deutschland - mit Ausnahme Ostdeutschlands, wo entsprechende Anpassungsschritte dringend notwendig sind - bereits auf einem hohen Niveau entwickelt ist, besteht Reformbedarf: Während die durchschnittliche effektive Arbeitszeit in Deutschland bei 41 Stunden liegt, ist sie im europäischen Durchschnitt bei 39 Stunden angekommen. Zudem haben wir nach allen Umfragen ein noch immer nicht ausgeschöpftes Potential von Menschen, die ihre Arbeitszeit gerne reduzieren möchten, dazu aber keine Gelegenheit erhalten.
Auch wenn die gleichmäßige kollektive Arbeitszeitverkürzung für alle tot ist, bedeutet dies keine grundsätzliche Absage an kollektive Arbeitszeitverkürzung. Vielmehr bedeutet es eine enge Verzahnung zwischen kollektiven Rahmendaten und individueller Aneignung, was besonders über Arbeitzeitkonten erfolgt. Die neue reflexive Arbeitszeitpolitik ist stärker an betrieblichen und individuellen Lebenslagen orientiert; zudem ist sie sensibel gegenüber den möglichen Gefahren von Arbeitszeitverkürzung wie etwa der Arbeitsverdichtung. Wichtig ist auch, dass Arbeitszeitverkürzung stärker als in der Vergangenheit dafür eingesetzt werden sollte, individuelle Qualifikationsprozesse zu ermöglichen. Zudem wissen wir, dass eine nachhaltige Ausweitung eines neuen reduzierten und flexibilisierten Arbeitszeitregimes nicht ohne Veränderungen in der Struktur sozialstaatlicher Sicherungssysteme zu erreichen ist. Deshalb besteht auf diesem Gebiet ein erheblicher Reformbedarf in Richtung eines flexiblen und stärker Lebenslagen orientierten sozialen Sicherungssystems.
Warum Konsolidierung jetzt nicht hilft
Seit einigen Jahren leidet die deutsche Konjunktur an einer schwachen binnenwirtschaftlichen Investitionsneigung. Um diese zu verbessern, setzen die Autoren von Zukunft in Arbeit vor allem auf Aufbruchstimmung beim "Unternehmergeist" sowie auf die Fortführung der Haushaltskonsolidierungspolitik. Ungeachtet der Tatsache, dass die Politik der Haushaltskonsolidierung richtig ist und längerfristig eine solide Perspektive bietet, steht jetzt etwas anderes auf der Tagesordnung. Mir ist bewusst, dass die Forderung nach einer stärker keynesianischen Politik aus dem Munde eines Gewerkschafters nicht besonders neu klingt und angesichts der Globalisierungsproblematik mit guten Argumenten vorgebracht werden muss. Die Deutung der politisch-ökonomischen Konstellation in Deutschland in den Jahren 2001/2002 als einer idealtypisch keynesianischen, die den Staat, zumindest mittelfristig zu einem aktiveren Verhalten in der Steuer- und Ausgabenpolitik auffordert, bezieht sich auf folgende Indikatoren: Die ökonomische Delle in Deutschland ist sowohl durch einen Rückgang der weltwirtschaftlichen Konjuktur (vor allem in den Vereinigten Staaten und Japan) zu erklären.
Hinzu kommt eine zu schwache Binnenkonjunktur in Folge des geringen privaten und öffentlichen Konsums und geringer Investitionen. Eine Inflationsgefahr besteht nicht, und es ist von einer weltwirtschaftlichen Erholung ab dem zweiten Halbjahr 2002 auszugehen. Den Argumenten, dass in einer globalisierten Ökonomie nationalstaatliche Initiativen keine Realisierungschance besitzen, ist entgegenzuhalten, dass in den beschäftigungspolitisch erfolgreichen Ländern die Investitionen und staatlichen Ausgaben höher liegen und dass es um zielgerichtete Verhaltensweisen mit strukturpolitischen Ambitionen gehen soll.
Die Inflation ist in Deutschland nach wie vor schwach ausgeprägt (2,7 Prozent im Jahr 2001), und es ist eher ein weiteres Sinken (DIW-Prognose 2002: 1,5 Prozent) als eine Steigerung zu erwarten. Mit einem Anstieg des privaten Verbrauchs von gerade 1,0 Prozent besteht - mit Ausnahme von Italien (0,7 Prozent) - nirgends sonst in Europa derzeit eine so schwache Binnennachfrage. Ähnlich ist die Situation beim öffentlichen Verbrauch, dessen Anstieg 2001 nur bei etwa 0,8 Prozent liegen wird. Am problematischsten ist die Bilanz bei den Bruttoanlageinvestitionen: Bei diesem Indikator steht die Bundesrepublik mit einem Rückgang von 1,4 Prozent im Vergleich zum Jahr 2000 unter allen Ländern der Währungsunion am schlechtesten da. Bedenkt man, dass Deutschland auch mit seiner realen Nettolohnposition unterhalb des OECD-Mittelwertes liegt, dann zeigt sich, dass entscheidende Faktoren zur Stimulierung der Nachfrage im Binnenraum eine negative Schlagseite besitzen. So wundert es auch nicht, dass die Wachstumsraten in der Bundesrepublik seit 1993 unterhalb der durchschnittlichen europäischen Werte liegen. Bislang haben die Bundesregierungen darauf mit einer Verbesserung der Angebotsbedingungen für die Unternehmen reagiert. Damit konnten die Umbauprojekte der Unternehmen so flankiert werden, dass deren internationale Wettbewerbsfähigkeit tatsächlich wieder voll hergestellt ist.
Nunmehr aber ist die Ergänzung der Angebots- durch eine Nachfragepolitik am Platz, welche die akute temporäre Schwäche des privaten und öffentlichen Verbrauchs konterkariert, um die Zeit bis zur absehbaren Erholung der Weltkonjunktur (DIW-Prognose 2002) zu überbrücken. In diesem Sinne erscheint ein Moratorium der Haushaltskonsolidierungspolitik geboten, um vorübergehend kreditfinanzierte Programme zu unterstützen. So wäre eine kalkulierte, temporäre Interventionspolitik zu praktizieren, die auch seitens der europäischen Zentralbank durch die Senkung der realen Leitzinsen unterstützt werden könnte. Mit dieser konzertierten Vorgehensweise wäre die jetzt absehbare ökonomische Delle abzuschwächen und der Anschluss an die prognostizierten Erholungswerte der Weltkonjunktur herzustellen.
Es gibt nicht nur gerechte Ungerechtigkeit
Kurzum: Gefordert ist jetzt der aktive Staat, der, auf einer situationsgerechten Deutung aufbauend und in internationalen Bezügen agierend, einen stimulierenden Beitrag zum Abbau der ökonomischen Delle leistet. Das würde Beschäftigung sichern und Beschäftigungswachstum ermöglichen. Die Politik der ruhigen Hand besteht darin, diese typisch keynesianische Konstellation zu erkennen und zu nutzen.
Die konzeptionelle Grundfigur der neuen sozialdemokratischen Sozialstaatspolitik besteht in der neuen Verhältnisbestimmung zwischen Rechten und Pflichten, zwischen Fordern und Fördern. Mit dieser sozialstaatlichen Neujustierung soll eine Aktivierung der Individuen erreicht werden, um "Kulturen der Armut" zu vermeiden, Verantwortung und Integration zu fördern. Auf jeden Fall unterstützenswert ist die Idee, dass der aktivierende Sozialstaat den bürokratischen Sozialstaat ablösen sollte. Allerdings bringt dieser Prozess Gefahren. Sie liegen darin, dass diese Entwicklung zu mehr und neuen Ungleichheiten führen könnte. Deshalb muss an dieser Flanke außerordentliche Sensibilität entwickelt werden - es gibt nicht nur gerechte Ungerechtigkeiten, sondern auch noch immer zu viele ungerechte Ungerechtigkeiten.
Neben der Aktivierung der Individuen herrscht aber weiterhin ein Reformbedarf sozialstaatlicher Politiken in zwei Richtungen: Einerseits müssen die Folgen atypischer Beschäftigungsverhältnisse durch verbesserte Infrastruktur, individuenorientiertere Sicherungssysteme etc. sozialstaatlich abgepuffert werden. In diesem Sinne ist der Sozialstaat nicht nur kompatibel mit einer flexibilisierten Ökonomie - er bildet geradezu seine Voraussetzung.
Darüber hinaus sollte aber auch gesehen werden, dass eine moderne Gesellschaft ohne die Bürgerrechte - die gegenüber den sozialstaatlichen Sicherungssystemen Anrechte und Optionen konstitutieren - nicht auskommen kann, sofern sie ein Interesse an Dynamik und an Vielfalt hat. Alles in allem: Die von den Autoren geforderte Aktivierungsstrategie verdient Unterstützung, weil sie mehr Integration und Lebensqualität erwarten lässt. Dabei sollte klar sein, dass dies - meint man die Strategie ernst - zumindest vorübergehend mehr Geld kosten wird als bisher.
Ohne Leitbild ist alles fast nichts
Weil weitere Reformen notwendig sind, bedarf es eines Orientierung spendenden Leitbildes, um die einzelnen Elemente aus ihrer rein maßnahmentechnischen Vereinzelung herauszulösen. Aus der Perspektive sozialdemokratischer Reformpolitik kann das Bild der Stakeholder-Gesellschaft eine solches Leitbild sein: Denn dabei geht es darum, alle beteiligten Akteure in einem Zusammenhang zu denken und eine fairen Kompromiss zwischen ihnen zu organisieren. Insofern kommt der Integration durch Erwerbstätigkeit eine herausragende Rolle zu. Die sozialdemokratische Politik darf allerdings nicht nur an der quantitativen Dimension dieses Zieles interessiert sein - sie muss auch die qualitative Gestaltung der Arbeitsverhältnisse zum herausragenden Anliegen ihrer gesellschaftspolitischen Bemühungen machen. Denn in der Wissensgesellschaft ist die Arbeit noch stärker als unter tayloristischen Bedingungen darauf angelegt, einen umfassenden Zugriff auf den Menschen ("Arbeiten ohne Ende") auszuüben, der drastische persönliche und problematische gesellschaftliche Konsequenzen haben kann.
Soziale Demokratie in unserer Zeit
Die fundamentalen Widersprüche der modernen Gesellschaft - der Zugriff der neuen Arbeit auf den ganzen Menschen und das Streben nach mehr Autonomie und Lebensqualität, die Intensivierung der Arbeit und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Individualisierung und das Streben nach lebenslanger sozialer Sicherheit - bedeuten nicht allein individuelle Problemlagen, sondern auch Aufgaben für die Politik. Deshalb ist es die Aufgabe der Sozialdemokratie, die Risiken der neuen Arbeitsgesellschaft zu bearbeiten und ihre Chancen zu nutzen. Für die Sozialdemokratie geht es heute darum, eine reformorientierte und kooperative Integrationspolitik zu organisieren und diese zu ihrem ureigenen Regierungsstil zu entwickeln.
Die Politik der Haushaltskonsolidierung ist langfristig unverzichtbar. Augenblicklich jedoch befinden wir uns in einer typisch keynesianischen Konstellation. Es wäre es jetzt die Aufgabe der gesellschaftlichen und politischen Akteure, entsprechende Prioritäten zu setzen. Die Frage ist, welche Investitionen durch den Staat kurzfristig in Gang gesetzt werden können, um zusätzliches Wachstum zu stimulieren und ökonomische Krisenprozesse abzupuffern. Der Prozess der Entscheidungsfindung ist gleichermaßen Aufgabe der Regierungspolitik und der gesellschaftspolitischen Akteure. Diese Kooperation wäre gelebte Stakeholder-Gesellschaft. Mit ihrer These, dass bessere Beschäftigungspolitik das Ergebnis eines umfassenden gesellschaftlich-ökonomischen Veränderungsprozesses ist, leistet das Papier "Zukunft in Arbeit" einen wichtigen Beitrag zur Debatte über die Aufgaben der Sozialdemokratie in unserer Zeit.
Literatur
1 Daniel Cohen, Unsere Modernen Zeiten. Wie der Mensch die Zukunft überholt, Frankfurt 2001, S. 142.
2 Georg Vobruba, Alternativen zur Vollbeschäftigung, Frankfurt 2000, S. 12.
3 Vgl. Europäische Kommission/ Eurostat. Generaldirektion für Beschäftigung und Soziales, Beschreibung der sozialen Lage in Europa, Luxemburg 2001, S. 81.