Für aufgeklärten Fortschritt - gegen pessimistische Niedergangsszenarien
Umfragen belegen, dass eine überwältigende Mehrheit der Deutschen mit der eigenen sozialen und ökonomischen Situation so zufrieden ist wie seit 1990 nicht mehr. Deutschland ist ein reiches Land und im internationalen Wettbewerb so stark wie selten zuvor. Die Debatten über die Zukunft des Landes zeichnen allerdings ein anderes Bild. Der Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt wird dort ebenso negiert wie der zwischen technologischem und sozialem Fortschritt.
Die pessimistische Stimmungslage scheint daher paradox. Aber sie ist nicht nur gefühlt, sondern hat durchaus harte Fakten auf ihrer Seite. So arbeitet ein Viertel der Beschäftigten im Niedriglohnsektor, und eine Mehrheit der Erwerbstätigen konnte in den vergangenen 15 Jahren kaum oder gar keine Reallohnsteigerung erzielen. Zugleich liegt die Zahl der Armutsgefährdeten in Deutschland weiterhin stabil bei 15 Prozent. Und dies alles bei einer gut laufenden Wirtschaft. Die wachsenden pessimistischen Stimmungslagen lassen sich jedoch nicht allein durch die real existierende Verteilungsungerechtigkeit erklären. Auch die Wahrnehmung des politischen Systems spielt eine zentrale Rolle.
Den politischen Parteien wird heute fast weniger Vertrauen entgegengebracht als zu Zeiten der Weimarer Republik. Dass sich größere Teile der Bevölkerung von den Prozeduren des politischen Systems abkoppeln, erstaunt daher wenig. Dass einfache Erwartungen an komplexe Verfahren enttäuscht werden können und die Kommunikation zwischen divergenten Welten anspruchsvoll ist, stellt die Basis moderner Politik dar. Der Weg zum Vertrauensentzug ist allerdings nicht weit, wenn es an Berührungspunkten, Vorbildern und Eingriffsmöglichkeiten fehlt, ohne die sich keine gemeinsam für wünschenswert erachtete Zukunftsvision entfalten kann, für die es sich aus der Perspektive der Bürger lohnt sich anzustrengen und für die sie bereit sind, gewisse Frustrationen zu akzeptieren. Wenn dann noch größere Herausforderungen auf die politische Tagesordnung geraten, wie etwa die Euro- oder die Flüchtlingskrise, wird die nörgelnde und abwertende Haltung gegenüber dem politischen System zusätzlich beflügelt. Aus dieser Sicht erscheint Deutschland als ein sozial und kulturell gespaltenes Land, in dem Populisten, Pessimisten und Nörgler gegenwärtig in der Offensive sind, weil „die da oben“ sie verraten haben und „die da draußen“ hier nicht hergehören. Die Stimme einer aufgeklärten und grundsätzlich optimistischen Zukunftshaltung hingegen, die allein geeignet wäre, dieses Land nach vorn zu bringen, kommt in dieser Situation zunehmend verdruckst und defensiv daher.
Als Reaktion auf die grundlegend pessimistische Gestimmtheit im Land hat Hilmar Höhn in der Berliner Republik ein Manifest für eine demokratische und sozial starke Gesellschaft verfasst – ein Plädoyer für eine neue fortschrittliche Plattform. Sein Beitrag ist mehr als eine Absage an linke und rechte Niedergangszenarien, denn er stellt die gegenwärtigen Chancen in den Mittelpunkt, einer aufgeklärten und demokratischen Orientierung die Mehrheit zu verschaffen. Wie kann der technische Fortschritt, den Digitalisierung und Energiewende ermöglichen, wieder zur unverbrüchlichen Basis für eine positive Zukunftsorientierung der Mehrheit werden? Aus Höhns Perspektive ist technischer Fortschritt – politisch klug reguliert – die Bedingung dafür, dass Ungleichheit abgebaut wird und eine demokratisch wie sozial „starke Gesellschaft“ heranwachsen kann.
Die Chancen, die Digitalisierung, Energiewende und Fachkräftemangel bieten, rückt Höhn daher ins Zentrum seiner gesellschaftspolitischen Offensive für einen neuen Fortschritt. Dies sind die Bereiche, in denen wir jetzt die Weichen für die Lebensbedingungen der kommenden Jahre stellen. Höhns Position ist politisch aufgeklärt: Er weiß, dass es sich dabei nicht einfach um die Themen für den nächsten Wahlkampf handelt, sondern um gesellschaftsfähige und starke Positionen, die überhaupt erst die Voraussetzung für erfolgreiche Wahlkämpfe bilden. Zudem ist Höhn daran gelegen, die Debatte aus ihrer expertokratischen Verengung zu befreien, um sie als Fundament einer offenen Gesellschaft diskussionsfähiger zu machen.
Das alle drei Zukunftsfelder verbindende Element ist für Höhn die Zeitpolitik. Zu Recht begreift er die Frage nach dem Verhältnis von Arbeitszeit und selbstbestimmter Lebenszeit als einen Schlüssel für eine emanzipatorische Gesellschaftspolitik – und als Ausdruck einer Gesellschaft, die ihre Produktivitätspotenziale nutzt, um die individuellen Wahlfreiheiten aller Menschen zu fördern.
Aber woher nimmt Höhn eigentlich seinen Optimismus? Ganz einfach: Er bezieht sich auf die Lebenspraxis der Mehrheit der Gesellschaft, die an einem selbstbestimmten Leben sowie einer gut funktionierenden Infrastruktur interessiert ist. Höhn bezeichnet sie als die „Arbeitnehmermitte“. Diese ist für ihn das „politische Subjekt, das für den Wandel kämpft“. Doch wer ist diese „Arbeitnehmermitte“ genau und wie kann sie von einem Subjekt „an sich“ zu einem Subjekt „für sich“ werden? Ist diese Gruppe nicht zu amorph, zu heterogen und zu gespalten, um tatsächlich den Status eines Subjekts erlangen zu können?
Das Problem lässt sich auflösen, sofern man die Heterogenität der Arbeitnehmermitte als Ausgangspunkt akzeptiert und – wie Höhn selbst – von einem Bündnis ausgeht. Dann stellt sich allerdings als nächstes die Frage nach einem verbindenden Narrativ, also einem kognitiven wie auch stimmungsgeladenen Banner, unter dem sich ein solches Fortschrittsbündnis formieren und entwickeln kann. Bündnis und Narrativ lassen sich nicht trennen, sondern sind existenziell aufeinander bezogen. Deshalb wäre eine konfliktgeladene Kontroverse um dieses Narrativ der Beginn eines Prozesses für einen neuen Fortschritt, der die „vage Zwischenzeit“ überwinden könnte.
Höhns Zugang zu einem „neuen Fortschritt“ ist normativ auf die starke demokratische und soziale Gesellschaft bezogen. Um diese zu verwirklichen, darf man jene Konflikte nicht scheuen, die gegenwärtig die Dynamik des politischen Wettbewerbs bestimmen: der Konflikt zwischen libertärer und autoritärer Politik wie auch der Konflikt zwischen Öffnung und Schließung der Gesellschaft. Dazu gehört gewiss nicht nur die Zuwanderungspolitik – aber diese eben auch. Ein breites Bündnis für den Fortschritt bedarf normativer Klarheit auf diesem Gebiet und zugleich praktischer Kompromissfähigkeit, um eine Politik der Nichtüberforderung zu ermöglichen. Dies ist wichtig, um den unterschiedlichen Kulturen und Geschwindigkeiten eines pluralen Bündnisses gerecht zu werden.
Der Historiker Charles S. Maier hat bereits Anfang der neunziger Jahre die Konflikte zwischen lokalistischen und globalistischen Denk- und Lebensweisen als zentrale Herausforderung für das progressive Zukunftsprojekt herausgestellt. Ohne eine „Sowohl-als-auch-Struktur“ wird sich keine breite Zukunftsallianz bilden lassen. Diese Überlegungen sind wichtig für die Perspektiven einer ideenpolitisch starken „Arbeitnehmermitte“, die wiederum Kooperationspartner im aufgeklärten Bürgertum finden muss.
Damit stellt sich die Frage nach den treibenden Kräften und den konfliktorientierten Themen eines solchen Bündnisses. Denn ohne Konflikte ist ein neuer Fortschritt nicht zu haben. Dies gilt besonders für die hier unterstellten Träger dieses Bündnisses: die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften. Könnte es sein, dass diese mutmaßlich ausschlaggebenden Fortschrittsträger ihre Strategien zur inhaltlichen Profilierung der „Arbeitnehmermitte“ neu justieren und durchaus konfliktorientierter vortragen müssen?
Auffallend ist, dass die Politikfelder der Höhnschen Fortschrittsagenda einstweilen noch nicht das Potenzial besitzen, zum zentralen Gegenstand von Landtags- oder Bundestagswahlkämpfen zu werden. Im politischen Wettbewerb werden Themen wie Sicherheit, Gleichheit, solidarische und offene Gesellschaft sowie gesellschaftliche und wirtschaftliche Innovationen auf eher allgemeiner Ebene verhandelt. Die Zukunftsdiskurse auf den Gebieten Digitalisierung, Energiewende und Fachkräfte sollten allerdings nicht nur exemplarisch herangezogen werden, denn sie bilden den Rahmen für neue Antworten auf gegenwärtige Herausforderungen.
Höhns emphatisches Fortschrittsmanifest ruft deutlich in Erinnerung, dass wir intensiver über die „Arbeitnehmermitte“ diskutieren müssen: Wer gehört dazu? Wie lässt sie sich erweitern? Und wie kann ihre politische Handlungsfähigkeit im Sinne eines aufgeklärten, solidarischen Fortschritts besser profiliert werden? Gelingt es der Sozialdemokratie, gute Antworten auf diese Fragen zu finden, muss uns um ihre Zukunft nicht bange sein. Denn die starke und solidarische Gesellschaft braucht als verlässliches Sprachrohr die Sozialdemokratie – eine Sozialdemokratie allerdings, die nicht in der Defensive verharrt, sondern diese Fragen offensiv aufgreift.