Wenn die Angsthasser kommen
Im Jahr 2017 umfasst die AfD-Bundesbühne 12,6 Prozent der Wählerstimmen, 92 Abgeordnete, die Mitgliedschaft im Bundestagspräsidium und eine Reihe von Ausschussvorsitzenden. Damit einhergehen steuerfinanziert: hohe Wahleinnahmen, Hunderte von Mitarbeitern und reichlich Ressourcen, um die eigenen Anliegen noch besser zu kommunizieren, die Partei zu professionalisieren und gegebenenfalls gegen unliebsame Kritiker zu prozessieren. Nach der rechtskonservativen „Deutschen Partei“, die zwischen 1949 und 1961 nicht nur im Parlament saß, sondern teilweise auch an der Regierung beteiligt war, und ehemaligen Mitgliedern von NSDAP sowie SS, die bis in die neunziger Jahre führende Funktionen im Bundestag innehatten, ist jetzt erstmals ein offensiver Rechtspopulismus in Fraktionsstärke in den Bundestag eingezogen.
Mindestens so bemerkenswert wie diese Zäsur ist jedoch der hilflose Umgang der anderen Parteien mit der AfD. Sie springen nahezu alle über das Stöckchen der rechten Provokationen und praktizieren damit einen mehr oder weniger hilflosen Antipopulismus. Dies führt im Kampf gegen die AfD nicht viel weiter.
Eine Art Anti-68er-Gegenreformation
Mit der AfD liegt ein politisches Angebot vor, das den Zornigen und Unzufriedenen in dieser Republik eine Stimme gibt. Sie selbst, die Zornigen und Unzufriedenen, waren schon da, bevor sich die Partei im Frühjahr 2013 gründete. Einerseits gab und gibt es immer Menschen, die sich nicht verstanden fühlen, fremdenfeindlich, antipluralistisch und deutschtümelnd denken und agieren – andererseits bedarf es spezieller politischer Angebote, die diese Stimmungen aufgreifen. Seit den siebziger Jahren ging man davon aus, dass alle rechten Bewegungen auf dem historisch vorbelasteten deutschen Terrain scheitern würden. Jedenfalls war dies das Schicksal von DVU, NPD, Schill-Partei, Statt-Partei, der Freiheit oder der Republikaner. Warum die Entwicklung der AfD bislang anders verlief und sie mit ihrer aggressiven Rhetorik gegen das politische System in der Parteienlandschaft Fuß fassen konnte, beleuchten mehrere neue Bücher.
Zunächst ist festzustellen: Den einen Grund für den Erfolg der AfD gibt es nicht, sondern derer viele. Unter den Bedingungen von Großer Koalition und Eurokrise bestand im bürgerlichen Lager eine Repräsentationslücke. Manche bezeichnen die AfD gar als ein Zerfallsprodukt konservativ-bürgerlicher Politik, da die Union zu sehr in die linke Mitte gerückt sei. Zur erfolgreichen Parteigründung gehörten aber auch glückliche Zufälle wie der gescheiterte FDP-Mitgliederentscheid gegen den Euro 2012. Das erste Gelegenheitsfenster war die Eurokrise, ehe 2015 die so genannte Flüchtlingskrise hinzukam. Ohne konkrete Akteure, die diese Gelegenheiten nutzten, gäbe es die AfD nicht. Die Partei war von Anfang an keine Ein-Punkt-Bewegung; ihre plurale Aufstellung ermöglichte es ihr, zum Sammelbecken diverser Unzufriedenheiten zu werden, die nicht immer etwas miteinander zu tun haben. Strukturell betrachtet ist die AfD eine Art Anti-68er-Gegenreformation zur Demokratisierung der Demokratie.
Die erste erfolgreiche Internetpartei
Sie ist zudem die erste wirklich erfolgreiche Internetpartei. Die üblichen Medien verlieren für sie an Bedeutung, weil sie Facebook, Twitter und social bots intensiv nutzt und eigene Echokammern bildet, um ihre Fangemeinde ungefiltert anzusprechen. Wie Justus Bender in seinem Buch Was will die AfD? feststellt, ist es „eine große Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die Medien, denen aus der AfD stets der Vorwurf gemacht wurde, ihr zu schaden, vielleicht größeren Anteil an ihrem Erfolg hatten als die Programmarbeit“. Die AfD-Anhänger sprechen von den Lügen- und Lückenmedien, manchmal sogar von einer Mediendiktatur. Sie inszenieren sich als Widerstandskämpfer gegen Political Correctness und reden von einer gleichgeschalteten öffentlichen Meinung.
Weil zwischen der AfD und den liberalen Medien laut Bender eine „unfreiwillige Symbiose“ bestehe, seien letztere zugleich die Geburtshelfer der Internetpartei AfD, die sich ihre eigene Gegenöffentlichkeit geschaffen habe. Dabei sei das Internet nicht nur für die politische Kommunikation der AfD bedeutsam, sondern auch für deren Finanzierung: So sammelte die Partei mittels Crowdfunding Ende 2015 in nur drei Wochen über das Internet 2,1 Millionen Euro an Spenden.
Das Spielfeld der Parteien ist durch die AfD vergrößert worden. Sie hat Wählergruppen erreicht, die andere Parteien vernachlässigt oder gezielt asymmetrisch demobilisiert haben. Zentral sind dabei nicht ihre konkreten Beiträge in einzelnen Politikfeldern, sondern die Fähigkeit, negative Emotionen wie Angst, Zorn und Enttäuschung zu bündeln, wie Melanie Amann in ihrem Buch Angst für Deutschland betont. Die AfD versteht sich als Sprachrohr der Unverstandenen, die nicht nur von Parteien, Verbänden, Eliten und vom Staat – also letztlich vom ganzen politischen System – enttäuscht sind, sondern sich auch noch als Opfer der Political Correctness empfinden. Nach dem Motto „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen“ werden die Hemmschwellen in der öffentlichen Kommunikation Schritt für Schritt gesenkt.
Die Neue Rechte ist stark an Überlegungen der Meta- und Hegemoniepolitik von Antonio Gramsci orientiert. Sie scheint, so Volker Weiß in seinem Buch Die autoritäre Revolte, weniger verbissen als die „alte“ Rechte zu sein und offener für zeitgenössische Debatten. Das verkörpert in der öffentlichen Aktion am stärksten die identitäre Bewegung, zu der die AfD im Juni 2016 zwar einen Unvereinbarkeitsbeschluss traf, die aber in vielfältiger Weise als Inspirator für die AfD wirkt. Die regelmäßig von AfD-Politikern praktizierten Provokationen und Tabubrüche, die „Politik des Spektakels“, stellen eine eingeübte, inszenierte Politik nach Drehbuch dar. Gemeinsam ist den verschiedenen Denkrichtungen der Neuen Rechten, dass sie über die Gedanken der konservativen Revolution, also der „alten“ Rechten, manche Anleihen bei linker Theorie und Praxis sowie einige Versatzstücke aus dem Arsenal des Ethnopluralismus kaum hinauskommen.
Die große Angst vor dem Heimatverlust
Ein großes Thema der AfD ist die vorgebliche Suche nach der nationalen Souveränität und deutschen Identität. Umgekehrt betrachtet geht es um die Angst vor Heimatverlust, aus der sich auch die Globalisierungskritik speist. Volker Weiß vertritt die Auffassung, dass „die Feindschaft gegen den humanistischen Universalismus mittlerweile zum Dreh- und Angelpunkt der globalen ‚Konservativen Revolution‘ auf ihrer Suche nach der Identität des Eigenen geworden“ ist. Die Idee und Praxis des Universalismus würden als identitätszerstörend begriffen. Der wichtigste Gegner der neuen Rechten sei deshalb nicht der Islam im Allgemeinen, sondern der muslimische Flüchtling, also der Islam in Europa. Das neue rechte Denken kreise um die Frage, wie die deutsche Kultur gerettet werden könne. In Gefahr geraten sei diese jedoch nicht nur durch den Islam, sondern vor allem infolge der deutschen Niederlage gegen die Vereinigten Staaten im Zweiten Weltkrieg. Deshalb unterscheide die Neue Rechte zwischen wirklicher (der Islam) und absoluter Feindschaft (die USA).
Dieses Denken ist zwar nicht in der gesamten AfD anzutreffen, darin sind sich die drei Autoren einig, es spielt in der Partei aber eine wichtige Rolle. Während Weiß den Einfluss rechter Ideologen relativ stark betont, messen Amann und Bender diesen eine geringere Bedeutung zu. Sie lenken den Blick stärker auf die Mitglieder und die Wählerschaft der AfD und ordnen sie als „Bauchpartei“ ein, nach dem Motto: „Die einfache, intuitive Lösung soll verteidigt werden“, wie Justus Bender schreibt. Melanie Amann sieht die AfD gar als eine echte Volkspartei: „Gerade weil sie sich aus den genannten Gefühlen speist, aus Angst und Enttäuschung, Patriotismus und Freiheitsdrang, überwindet die Partei alle sozialen Gruppen und politischen Lager. … Was ihre Anhänger unabhängig von Geschlecht, Alter, Herkunft oder Vermögen eint, ist die Ablehnung bestimmter Zustände, die in der Partei ein Gefühl von Unbehagen und Angst auslösen.“ Für Amann ist die „Angst in ihrer ungesunden, pathologischen Form … die stärkste Wurzel der AfD“.
Partei der gescheiterten Selbständigen
Hinter den großen Narrativen der AfD stehen einzelne Schwerpunktthemen, die die AfD bearbeitet, an erster Stelle die Flüchtlingsfrage und „integrationsunwillige Muslime“. Wie die Studie Parlamentarische Praxis der AfD in deutschen Landesparlamenten, die ich im Sommer 2017 zusammen mit Bernhard Weßels, Alex Berzel und Christian Neusser durchgeführt habe, zeigt, dominiert das Flüchtlingsthema nicht nur vorder-, sondern auch hintergründig. So führte die AfD die meisten sozialen und ökonomischen Probleme primär auf die Flüchtlingsfrage zurück.
Was die innere Entwicklung der AfD angeht, wurde die Partei 2013 von Euroskeptikern und Neoliberalen gegründet, die bis dahin keine professionelle Politik betrieben hatten. Für Amann ist die AfD deshalb (noch) keine Funktionärs-, sondern eine Bürgerpartei. Seitdem hat sich langsam eine Gruppe von Berufspolitikern formiert, die – dafür sprechen die unerbittlichen innerparteilichen Kämpfe – sich nicht als Gleichgesinnte, sondern als natürliche Gegner zu Zweckbündnissen zusammengerauft haben.
Der erwähnten Studie zufolge wird die AfD nicht wie andere Parteien von Angehörigen des öffentlichen Dienstes dominiert, sondern von mehr oder weniger gescheiterten Selbstständigen. Zudem kommen viele AfD-Mitglieder aus Sicherheitsberufen, besonders von der Bundeswehr. Auch aus den Burschenschaften rekrutieren sich Mitglieder, beispielsweise der NRW-Landesvorsitzende Marcus Pretzell. Ebenfalls häufig vertreten sind Journalisten und Rechtsanwälte. Der größte Erfolg der AfD besteht vermutlich darin, dass diese fragile Koalition aus unterschiedlichen Gruppen und Ideologien bis zur Bundestagswahl zusammengehalten werden konnte. Justus Bender vermerkt hierzu süffisant: „Immer dann, wenn für mehrere Monate keine Wahlkämpfe anstanden, begannen in der AfD Prozesse der Selbstzerstörung.“
In unserer Untersuchung zu den AfD-Landtagsfraktionen konnten wir zwischen einer parlaments- und einer bewegungsorientierten Richtung unterscheiden: Erstere zeichnet sich dadurch aus, dass sie mittelfristig den Platz rechts der Union mit Koalitionsperspektive besetzen will. Der bewegungsorientierte Flügel hingegen sieht in einer Regierungsbeteiligung keine sinnvolle Perspektive; ihm geht es um die kulturelle Hegemonie und die Artikulation der eigenen Positionen, ohne Kompromisse eingehen zu müssen. Dieser Flügel dominiert in der neuen AfD-Bundestagsfraktion.
Waren die frühen Grünen so ähnlich?
Manche vergleichen die Konflikte innerhalb der AfD mit den frühen Jahren der Grünen. Dieser Vergleich ist mindestens in zweierlei Hinsicht falsch. Erstens waren die Mitglieder der Grünen meist jung und hatten ihre ganze Karriere noch vor sich. Zweitens orientierte sich der Elan der Grünen – trotz zuweilen apokalyptischer Angstbilder – an einer positiven Zukunft für alle. Die Mitglieder der AfD sind vergleichsweise alt, das ideenpolitische Potenzial, mit dem die „Alternative“ auf die Widersprüche der Moderne reagiert, ist nicht neu und ihre Zukunftsperspektiven ausgrenzend negativ. Allerdings gilt für die frühen Grünen wie für die AfD, dass sie eine überbordende Kritik am Establishment üben und eine emotionale, ressentimentgeladene Sprache pflegen.
Es ist wichtig, die AfD als ein gesamt-gesellschaftliches Phänomen zu verstehen, das nicht eindimensional auf ihre irrlichternden rechtsradikalen und rechtsextremistischen Positionen verkürzt werden kann. Die Wählerinnen und Wähler der AfD protestieren mit ihrer Stimme, sie haben, wie Justus Bender es formuliert, eine „Bestrafungslust“. Doch es geht nicht nur um konkreten Protest. Diese Wähler wollen mehr und anderes. Trotz einer nach wie vor neoliberalen Programmatik wurde die AfD von 21 Prozent der Arbeitslosen und 20 Prozent der Arbeiter gewählt. Damit ist sie in diesen Gruppen mittlerweile auf Augenhöhe mit der SPD und der Union. In Sachsen, wo sie die stärkste Partei vor der CDU wurde, sowie überhaupt in Ostdeutschland, hat die AfD die Linkspartei als Sprachrohr der Zornigen abgelöst.
Die Aktivitäten der AfD werden meist mit einer Verrohung, Emotionalisierung und Polarisierung des politischen Wettbewerbs in Verbindung gebracht. Das stimmt. Ihre Mobilisierung gegen das politische System und gegen Flüchtlinge steigerte auch das politische Interesse und erhöhte die Wahlbeteiligung, was selbst den Wahlverlierern durch eine Gegenmobilisierung einen Stimmenzuwachs verschaffte. Die AfD ist nach Amann ein „Resonanzraum für Gefühle und eine Projektionsfläche für Hoffnungen“. Ihre Kraft liege in der Leidenschaft, als „Abstauberpartei“ zu wirken, „die auch davon lebt, dass Medien ihre Tabubrüche herausposaunen und ihre politischen Gegner aufgeregt um sie herumspringen wie der Elefant im Angesicht der Maus“. Es besteht die Gefahr, dass die AfD die rohen Kräfte, die in ihr walten, nicht zivilisieren kann und dass die Partei von ihnen zerrissen wird. Denkbar ist auch, dass ihre Gegner sie künstlich am Leben erhalten, indem sie auf ihre Politik und Provokationen unangemessen reagieren. Was angemessen wäre, steht in keinem Lehrbuch, es muss in der Situation politisch verstanden und gelebt werden.
Wer nacheifert, wird selbst zur AfD
Ein hilfloser Antipopulismus kann eine wirkungsvolle Unterstützung für die AfD sein. Dazu gehört die Sprachlosigkeit gegenüber einem fundamentalistischen Islam, einer Zunahme an Kriminalität, Verlustgefühlen von Heimat und natürlich angesichts sozialer Ungerechtigkeit. Deshalb ist der Conclusio von Melanie Amann zuzustimmen: „Mit der AfD erfolgreich umzugehen bedeutet, das neue Spielfeld als aktuell gegeben zu betrachten, die Strategien der Parteien zu verstehen und sie zu kontern – ohne selbst die Regeln zu brechen.“ Den Streit mit der rechtspopulistischen AfD zu suchen und ihn auch auszuhalten, ist Amann zufolge ein mühsamer Weg, den von populistischen Zumutungen bislang verschonte Politikergenerationen erst erlernen müssen. Dazu gehöre hartnäckiges Nachfragen – nüchtern, nicht aggressiv und ergebnisoffen im Rahmen der demokratischen Grundordnung. Dabei sollte die Kritik weniger gegen Personen, sondern mehr gegen das politische Konzept der Rechtspopulisten gerichtet sein.
Der Umgang mit der AfD wird nicht erfolgreich sein, wenn man ihre Positionen ignoriert. Diesen Weg hat Angela Merkel versucht. Ebenfalls scheitern wird, wer die Forderungen der AfD kopiert. Die Niederlage dieses Kurses hat Horst Seehofer gerade vor laufenden Kameras erlebt. Dennoch will er weiter mit dem Kopf gegen die Wand rennen, wie auch die ihm nacheifernde ostdeutsche CDU. Kopieren ist nicht nur eine hilflose Strategie, es adelt die AfD auch noch. „Wenn man den AfD-Jargon übernimmt, ist man in gewisser Weise selbst die AfD“, so Amann.
Die Ratlosigkeit der Etablierten führt Justus Bender darauf zurück, dass sie die Regeln dieses politischen Diskurses nicht verstanden hätten: „Es geht in diesem Spiel nicht darum, dass die bessere Politik gewinnt. Es geht darum, dass in diesem Spiel einer immer verlieren muss, und das sind die Etablierten, die Eliten, die Medien, alle, die als Gegner empfunden werden. Es geht um eine Form der politischen Rache. Die Nervosität und Sorge, mit der auf den Aufstieg der AfD reagiert wird, ist keine Nebenwirkung dieser Entwicklung, es ist in vielen Fällen der hauptsächliche Zweck der gesamten Unternehmung. Je tiefer die Sorgenfalten, je lauter die Warnungen vor der AfD, umso näher das Ziel. Diese Erkenntnis ist die wichtigste im Umgang mit der AfD.“
Melanie Amann, Angst für Deutschland: Die Wahrheit über die AfD: wo sie herkommt, wer sie führt, wohin sie steuert, München: Droemer 2017, 320 Seiten, 16,99 Euro
Justus Bender, Was will die AfD?: Eine Partei verändert Deutschland, München: Pantheon 2017, 208 Seiten, 14,99 Euro
Volker Weiß, Die autoritäre Revolte: Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Stuttgart: Klett-Cotta 2017, 304 Seiten, 20 Euro