Das digitale Zeitalter muss gestaltet werden
Wir leben gerade wieder in einer Zeit für Goldgräber, in der neue Begriffe und Gefühlswelten entstehen. Wenn sich Neues ankündigt, so ist meist von Umbrüchen oder gar Revolutionen die Rede – in diesem Fall von der vierten industriellen Revolution. Diese wird bislang vor allem technologisch gedacht: als eine Revolution der cyber-physikalischen Systeme. Unklar ist, welche Auswirkungen dieser Strukturwandel auf die Arbeitswelten der Zukunft und die Lebenschancen der Menschen hat.
Wird es mehr oder weniger Arbeitsplätze geben?
Deutschland zählte bis in die neunziger Jahre zu den kooperativen kapitalistischen Marktwirtschaften mit einem vergleichsweise egalitären Einkommensprofil. Die Logik sozial eingebetteter Märkte machte dies möglich: erstens durch das kooperative Zusammenspiel von Unternehmen, Verbänden und Staat mittels belastbarer vertraglicher Verabredungen, die Planungs- und damit Handlungssicherheit ermöglichten; zweitens durch eine auf den männlichen Alleinernährer konzentrierte Arbeits- und Familienpolitik; und drittens durch eine Lohn- und Industriepolitik, die von den großen industriellen Strukturen geprägt war und die eine Sogwirkung gegenüber den dienst- und binnenmarktbasierten Sektoren ausübte.
Schon in den achtziger Jahren entwickelte sich starker Widerstand gegen diese Regulationsform. Durch Deregulierungs- und Dezentralisierungsprozesse nahmen prekäre und geringfügig bezahlte Arbeitsplätze stark zu. Im Zuge dieser Entwicklung verlor das duale Ausbildungssystem an Wertschätzung, während billige Dienstleistungsbeschäftigung und tertiäre Ausbildungsgänge deutlich aufgewertet wurden.
Auch als Reaktion auf die Probleme des deutschen Modells kam es zum Aufstieg des flexiblen Kapitalismus, der den Vorrang des Marktes vor dem Staat betont und eine Erosion der Sozialpartnerschaft beförderte. Die zunehmende Subjektivierung der Arbeit führte dazu, dass dem Individuum die Verantwortung für seine eigene Lage immer stärker selbst zugeschrieben wird, während Unternehmen und Staat versuchen, sich aus ihrer Verantwortung zurückzuziehen. War der Arbeiter zuvor noch in Strukturen der kollektiven Solidarität eingebunden gewesen, bedingte der Subjektivierungsprozess nun die Zerfaserung von Macht- und Verantwortungsstrukturen. Die wachsende soziale Ungleichheit ist ein Ergebnis dieses Prozesses. Mit dem neuen Gesetz zum Mindestlohn erkennt der Staat zwar wieder mehr Verantwortung für die Lebenschancen der Bürger in veränderten Arbeitswelten an. Die dahinter stehenden Probleme sind damit jedoch keineswegs gelöst.
Wenn man von der Arbeitshypothese ausgeht, dass die digitalisierte Arbeit voranschreitet und für immer mehr Menschen maßgeblich wird, ist es erstaunlich, wie wenig gesicherte Erkenntnisse vorliegen, um die möglichen Auswirkungen auf Zahl und Qualität der Arbeitsplätze bewerten zu können. Hinsichtlich der Zahl der Arbeitsplätze stehen sich unterschiedlichste Prognosen gegenüber. Beispielsweise geht der Münchner Kreis von einem erheblichen Abbau von Arbeitsplätzen aus, während das Fraunhofer Institut ein Wachstum erwartet. Die Zeiten ändern sich also – jedenfalls pfeifen es die Architekten der Arbeit von den Dächern. Doch was genau ändert sich, und werden die Probleme des flexiblen Kapitalismus dadurch verstärkt oder verringert? Bedeutet die Digitalisierung von Wirtschaft und Arbeit mehr Chancen oder mehr Risiken?
Klar ist: Mit vernetzten Wertschöpfungsketten und verkürzten, individualisierten und flexibilisierten Innovations- und Produktzyklen gehen schneller wechselnde Betriebs- und Produktionsprozesse einher, die erhöhte Anforderungen an die Lern- und Veränderungsbereitschaft der Arbeitnehmer stellen. Qualifikation und Weiterbildung werden daher unweigerlich an Bedeutung gewinnen. Dies ist auch dem Umstand geschuldet, dass Berufsbilder sich verändern oder sogar ganz wegfallen. Auch werden die Arbeitsverhältnisse der Zukunft vermutlich weniger hierarchisch und dafür egalitärer und teilautonom geprägt sein als heute. Hinzu kommt, dass in vielen Fällen die Digitalisierung zu mehr mobiler Arbeit führen wird. Dies könnte einerseits zusätzliche Freiheit bedeuten, um private und berufliche Lebenswelten aufeinander abzustimmen; zugleich birgt diese Entwicklung die Gefahr einer permanent verfügbaren und transparenten Arbeitskraft.
Qualifizierungswende und Vereinbarkeitsoffensive
Die digitale Wende in Deutschland muss daher zwingend von einer Aufwertung der Bildungs- und Familienpolitik flankiert werden: Zum einen brauchen wir eine Qualifizierungswende. Investitionen in Bildung dürfen keine rhetorische Forderung bleiben, sondern müssen tatsächlich steigen. Nicht nur die soziale Gerechtigkeit hierzulande hängt davon ab, sondern auch die Zukunft des Qualitätsstandortes Deutschland. Bildung allein garantiert jedoch weder faire Aufstiegsmöglichkeiten noch ein auskömmliches Einkommen. Das müssen wir berücksichtigen.
Zum anderen ist eine neue Offensive vonnöten, was die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben betrifft. Es geht darum, die Work-Life-Balance der Arbeitnehmer zu erhöhen und Frauen besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Kurzum: Mittels Wirtschaftsförderung allein wird die digitale Wende nicht erfolgreich sein.
Bildungs- und Familienpolitik werden für das Gelingen der Digitalisierung in Deutschland entscheidend sein. Allerdings lassen sich Vor- und Nachteile dieses Strukturwandels kaum abschätzen. Ob die Mehrheit als Gewinner aus diesem Prozess hervorgeht oder nur eine Minderheit von den neuen Entwicklungen profitieren wird, hängt von den Rahmenbedingungen ab – also den Ideen, Akteuren und Strukturen des neuen digitalen Kapitalismus. Das negative Szenario lautet: Massenarbeitslosigkeit bei gleichzeitigem Fachkräftemangel und blockierten Aufstiegsmöglichkeiten. Im positiven Fall könnten der Fachkräftemangel und die vierte industrielle Revolution genutzt werden, um die blockierten Strukturen des deutschen Arbeitsmarktes aufzubrechen und bessere Ein- und Aufstiegsmöglichkeiten zu entwickeln.
Fest steht: Das digitale Zeitalter ist gestaltbar. Staat und Sozialpartner sind gefordert, frühzeitig eine Agenda für die Digitalisierung zu verfolgen. Die Arbeit der Gewerkschaften wird dabei für den sozialen Erfolg der Digitalisierung von besonderer Bedeutung sein: Auf der organisationspolitischen Seite geht es darum, dass die industriegewerkschaftliche Erschließungsfähigkeit entlang der Wertschöpfungsketten verbessert wird, um auch in den industrienahen Sektoren eine organisatorische Stärke zu schaffen. Zugleich sollten in den klassischen Dienstleistungssektoren die organisatorischen Strukturen so neu justiert werden, dass eine wirkliche Organisationsmächtigkeit erreicht werden kann. In jedem Fall werden sich die kollektiven Akteure den veränderten Bedingungen im digitalisierten Zeitalter anpassen müssen, um kommunikations-, gestaltungs- und konfliktfähig zu bleiben.
Auf der betrieblichen Ebene muss das Modell der institutionalisierten Mitbestimmung erweitert werden, indem die Ebene der Vertrauensleute, Betriebs- und Aufsichtsräte durch eine stärker individualisierte Form der Beteiligung am Arbeitsplatz ergänzt wird. Die Grundidee dieses Ansatzes ist das Leitbild des Bürgers in der Arbeitswelt.
Letztlich muss es das Ziel sein, die technologisch basierte Idee des digitalen Zeitalters und der vierten industriellen Revolution mit einer Idee des humanen Zeitalters von Arbeit und nachhaltiger Wertschöpfung zu rahmen. Ohne diesen Rahmen, ohne eine arbeitnehmerorientierte Organisationsmacht und Mitbestimmung, werden individuelle Freiheiten in marktwirtschaftlichen Konkurrenzverhältnissen als Anrechte kaum dauerhaft funktionieren können. Das ist auch deshalb notwendig, um der potenziellen Erschöpfung der menschlichen Arbeitskraft Einhalt zu gebieten und damit die wesentliche Quelle der Wertschöpfung in einen motivierenden und nachhaltigen sozialen Zusammenhang zu bringen. So lässt sich die Politik der Lebenschancen auch in der neuen digitalen Arbeitswelt als Projekt denken und praktizieren. Das ist der Sinn progressiver Politik: die Zukunft hier und heute vorbeugend zu gestalten.