Die letzte Schlacht um die Frontstadt
Hier liegt ein erster Hinweis darauf, dass von einem "Neuanfang" bestenfalls sehr bedingt geredet werden kann. Denn selbst wenn man über diesen Senat und die neuen Verhältnisse einstweilen noch wenig sagen sagen kann - eines jedenfalls ist gewiss: Ein Produzent von guter Laune wird er nicht. Und es ist kaum vorstellbar, dass es nach den Neuwahlen, die der Stadt vermutlich eine rot-rot-grüne Koalition bescheren werden, eine vorbildlich arbeitende Koalition geben könnte.
Das alte West-Berlin wurde seit 1950 meist in Großen Koalitionen oder von sozial-liberalen oder christlich-liberalen Senaten regiert. Fast immer saß die SPD im Schöneberger Rathaus mit am Senatstisch. Ganze zehn Jahre hat sie einer Regierung einmal nicht angehört, was ihre aktuelle Medieninszenierung, wonach die CDU die Alleinschuld am Berliner Filz trage, nicht unbedingt glaubwürdig macht. Nur zwischen 1953 und 1955 (Bürgermeister Walter Schreiber) sowie zwischen 1981 und 1989, unter den Bürgermeistern Weizsäcker und Diepgen (sein erster und sein zweiter Senat) war die SPD fern der Macht. Diepgens große Koalitionen seit dem Mauerfall brachten, rückblickend betrachtet, schleppend die notwendigen Reformen voran und erreichten dies sogar im Einvernehmen mit der in Subventionszeiten träge gewordenen Alt-Berliner Gesellschaft.
Diepgen setzte fort, was Honecker begonnen hatte - auf Demokratisch
Aber diese CDU-SPD-Bündnisse hatten einen Makel: Hartnäckig heftete ihnen der Ruf der Korruption an, und sie repräsentierten stets nur Berlins alten Westen, das Charlottenburger Kudammbürgertum. Der neue Osten, die ergrauten SED-Funktionäre, die kleinbürgerlichen Mitläufer und die ehemals Bürgerbewegten, fanden sich in den Stadtregierungen des Nachwende-Jahrzehnts nicht wieder. Es wurde zwar Politik für den Osten gemacht - aber eben nicht mit ostdeutschen Akteuren. Diepgens Diktum von der "Modernisierung mit sozialem Gesicht" - sozusagen die demokratische Version von Honeckers "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" - verhalf der Union auch im Ostteil zu einem gewissen Erfolg und transformierte Berlin zur Hauptstadt. Man könnte sogar sagen, die diepgensche Vermengung von "Wirtschafts- und Sozialpolitik" habe zu einer erstaunlichen Einheit von "Politik und Gesellschaft" in dieser verarmten, sozial heterogenen und aggressiven Stadt geführt. Dabei sollte man immer die starke Kürzung der Subventionen berücksichtigen, die Berlin bewältigen musste: 1991 kam die Hälfte des Landeshaushaltes aus dem Bundesetat - heute erhält die Stadt nur noch ein Viertel ihres Etats aus dem Länderfinanzausgleich.
Drei linke Parteien im Kampf gegen die eigene Klientel - das soll die Zukunft sein?
So komfortabel wie unter Diepgen wird das Verhältnis zwischen Stadtpolitik und Stadtgesellschaft in Zukunft nicht mehr sein. Wenn nun postkommunistische Politiker der PDS Senatoren werden, dann ist Ost-Berlin zwar besser repräsentiert, es entstehen zugleich aber Verhältnisse in denen drei linke Parteien wesentlich radikaler gegen die eigene Klientel Politik machen müssen, als Diepgen sich das je hätte vorstellen können. Vormarktwirtschaftlich könnte man den ökonomischen Zustand Berlins heute nennen. Wenn sich daran etwas ändern soll, müssten ausgerechnet die Funktionäre der PDS Vorreiter einer Modernisierungspolitik sein, die zum Ziel haben müsste, Berlins Verwaltung zu verschlanken und betriebsbedingte Kündigungen auszusprechen. Überhaupt müssten sie noch marktwirtschaftlicher handeln, als es die ihnen verhasste sozialdemokratische Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing je getan hat.
Die PDS müsste Dinge mit verantworten, vor denen Eberhard Diepgen aus Sorge um den sozialen Frieden sein Leben lang zurückschreckte. Das ist, sehr zurückhaltend formuliert, eine große Herausforderung für eine Partei, die darum ringt, die kapitalistische Eigentumsordnung als Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft zu akzeptieren. In ihren eigenen Reihen, wo in jedem Ortsverband die Finsternis des totalitären Denkens herrscht, hat eine Spar- und Konsolidierungspolitik kaum Unterstützer, in der deutschen Gesellschaft insgesamt besitzt die SED-Nachfolgepartei nur geringe Glaubwürdigkeitsreserven. Ein neuer Senat müsste aber gerade den Vertrauensverlust der Hauptstadt in der Republik reparieren und so die Grundlage für ein neues Selbstverständnis legen.
An diesen Defiziten kann auch Gregor Gysi nichts ändern. Er zu allerletzt. Seine Beschwörung des Mythos der zwanziger Jahre, seinen platitüdenhaften Wunsch nach einem "investitionsfreundlichen Klima" hört man nun schon ein Jahrzehnt lang aus dem Mund christdemokratischer und sozialdemokratischer Regierungspolitiker - mit Gysis grauer Truppe haben solche Lippenbekenntnisse ohnehin nichts zu tun. Seine Aussagen sind charmant, aber unpolitisch. Genau deshalb finden sie im linksliberalen Milieu der Hauptstadt Resonanz, wo es zum guten Ton gehört, auf Kommunalpolitiker zu schimpfen. Ohne Umschweife gibt die PDS zu, kein Programm für die Stadt zu haben. Und so drängt sich dann schon die Frage auf: Was eigentlich will die SPD mit der PDS in der Hauptstadt? Für welche Politik steht Wowereits neuer Senat?
Diepgens Koalitionen legten "Mehltau über die Stadt", so hieß die Lebenslüge, mit der sich die Grünen, die PDS und Teile der SPD zu Zeiten der großen Koalition Mut machten. Angesichts der eigenen Orientierungslosigkeit und Ohnmacht legitimierte man allein mit dieser Behauptung gleichsam ex negativo das eigene Dasein. Nicht zuletzt deshalb übernehmen jetzt zwei Regierungsparteien Verantwortung, deren innerer Zustand - gemessen an Inhalten und Personal - ziemlich trostlos ist. Von den drei Senatorenposten, welche die Grünen für den Übergangssenat beanspruchten, vermochte die Partei nur einen einzigen aus dem eigenen Landesverband zu besetzen.
Berlins Grüne - so trostlos wiedie Wiederkehr von Supertramp
Für die Grünen ist der Sprung in die Regierung offenbar nicht mehr als die selbstgefällige Erfüllung lang gehegter Machtwünsche; Wolfgang Wielands Lebenstraum, Justizsenator zu werden, hat sich endlich erfüllt. Wo Krisenbewältigung gefragt wäre, erschöpft sich grüne Politik in eitler Befriedigung alter Selbstverwirklichungsträume und in voluntaristischen Volten für Minderheiten. Programmatisch knüpft man dort an, wo man im Januar 1991 aufgehört hat: Gegen die begründeten Bedenken der Bundespartei machten die Grünen Sybill Klotz und nicht Çem Özdemir oder Andrea Fischer zur Spitzenkandidatin. Das ist so, als würde ein Musikkonzern heute versuchen, noch einmal mit, sagen wir, Supertramp ganz groß in die Charts zu kommen. Schlimmer, es ist noch nicht mal ein Revival der siebziger Jahre. Und als ob die zwei konkurrierenden Linksparteien SPD und PDS nicht existierten, hat die Spitzenkandidatin Klotz eilig angekündigt, das "Thema soziale Gerechtigkeit" in den Mittelpunkt des Wahlkampfes zu stellen. Immerhin wäre es ja durchaus vorstellbar gewesen, sich in der neuen Koalition als regulative Kraft mit anti-etatistischem Ansatz zu verstehen und die wenigen Traditionsreste der Bürgerbewegung kritisch gegen die PDS zu wenden. Doch die Berliner Grünen haben den Machtgewinn vor die Strategie gestellt - von neuem Nachdenken ganz zu schweigen.
So herrscht auch keine Klarheit über das Verhältnis zur PDS. Ganz offensichtlich überwog bei den Grünen und der SPD das taktische und machtpolitische Kalkül, so dass man sich erst gar keine weiteren Fragen nach Sinn und Zweck der rot-rot-grünen Zukunft stellte und das Kooperationsangebot der PDS bedingungslos akzeptierte. Innerhalb der westdeutschen Linken war Sensibilität im Umgang mit den staatssozialistischen Diktaturen immer ein rares Gut. Das erklärt die Sprachlosigkeit gegenüber der PDS. Zwar ist es sicher nicht hinreichend, die Auseinandersetzung mit der PDS ausschließlich im Hinblick auf deren Vergangenheit und in den Kategorien geschichtspolitischer Symbolik zu führen. Aber selbst der sozialtherapeutische Ansatz, in der Zusammenarbeit mit der SED-Nachfolgepartei ein Resozialisierungsprojekt zu sehen, an dessen Ende eine die bundesrepublikanische Demokratie akzeptierende Linkspartei stehen müsste, wird erfolglos bleiben. Das wäre im übrigen das einzige Argument, mit dem die Koalition der Ideenlosen aus linksliberaler Sicht zu rechtfertigen wäre. Aber resozialisiert würden nur die ohnehin schon in Richtung rheinischen Kapitalismus marschierenden machtbewussten PDS-Funktionäre - die Basis, also die Mehrheit, würde brav hinterher trotten, ohne innerlich überzeugt zu sein.
Der Populist Gysi hat noch gar nicht richtig angefangen
Aus der Koalition mit der PDS folgt deshalb nur deren sichere Enttabuisierung, die vor allem die Akzeptanz der Linkssozialisten als Koalitionspartner in den neuen Bundesländern zur Folge hat. Das ist die Ideenlosigkeit der Macht. Und das ist schon zu einem Zeitpunkt erkennbar, zu dem Gregor Gysi sein ganzes Können als populistischer Demagoge in Berlins Bezirken noch nicht vorgeführt hat. Als Meister des Politainment, medial hemmungslos verstärkt, wird Gysi schon flott dahergeredet haben, bevor Klaus Wowereit auch nur zu einer einzigen überlegten Aussage ansetzen kann. Wahr, unwahr, falsch, richtig - das sind nicht die Kategorien, die Politiker medial erfolgreich machen. Es reicht die Brillanz des Slogans. Und was ist eigentlich, wenn die Wähler die Selbstreinwaschung der SPD nicht besonders überzeugend finden und die Partei bloß 25 Prozent bekommt, während Gregor Gysis PDS deutlich zulegt? Man wird sehen. Freuen wir uns einstweilen grimmig auf ein Wahlkampfspektakel mit allen Atavismen der Frontstadt, mit allen Ressentiments des alten West-Berlin. Ein allerletztes Mal. Das erotisiert noch einmal die Helden des vergangenen Jahrhunderts: Helmut Kohl, Titan des altbundesrepublikanischen Antikommunismus, hat sich schon angesagt. Die Schlacht "Freiheit statt Sozialismus" will er noch einmal schlagen. Das ist lustiger als jeder historische Lehrfilm. Nur dem ausgepowerten Berlin wird es nicht helfen.