Die Menschen schützen, nicht die Arbeitsplätze

Niemand kann den Bestand alter Jobs garantieren. Eben deshalb müssen wir "soziale Brücken" bauen

In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind drei gigantische Revolutionen über den Globus gefegt. Die erste davon war die demokratische Revolution. Im Jahr 1989, als die Berliner Mauer fiel, stufte die unabhängige amerikanische Nichtregierungsorganisation „Freedom House“ nur 69 Länder der Welt als wirkliche Demokratien ein. Heute sind es 120 Staaten. Zwar existieren immer noch einige Inseln des Totalitarismus und der Diktatur, doch die Demokratie ist zur weltweiten Norm menschlicher Koexistenz geworden. Das ist ein fantastischer Erfolg, besonders für Sozialdemokraten.

Die zweite Revolution betrifft die neuen Technologien zur massenhaften Informationsübertragung. Jeder von uns hat ein Mobiltelefon in der Tasche und verfügt am Arbeitsplatz und zuhause über Laptops und PCs. Die digitale Revolution hat unseren Alltag verändert. Die Informationstechnik bringt Menschen zusammen – connecting people, wie es in der Nokia-Werbung heißt. Aber unsere Handys verbinden nicht nur Menschen miteinander, sondern auch Märkte.

Das bringt uns zur dritten Revolution, der riesigen Welle neuer Märkte. Sie sind auf der Basis marktwirtschaftlicher Prinzipien entstanden, die den starren Planwirtschaften eindeutig überlegen sind. Der Niedergang des Kommunismus hat den Weg dafür geebnet, dass sich neue Märkte mit anderen Märkten vernetzen können. So ist die Weltwirtschaft zwischen 1999 und 2008 von 31 Billionen auf 62 Billionen Dollar angewachsen, bei gleichzeitig niedriger Inflation. In den Jahren 2006 und 2007 verzeichneten 124 Länder ein Wirtschaftswachstum von 4 Prozent oder mehr.

Diese drei Revolutionen – die demokratische Revolution, die IT-Revolution und die marktwirtschaftliche Revolution – haben zu enormen Veränderungen geführt, sowohl für die einzelnen Menschen als auch für Staaten. Noch nie in der Geschichte haben so viele Menschen so massive Veränderungen in so wenigen Jahren erlebt wie in den vergangenen zwei Dekaden. Allein das Wachstum Chinas hat mehr als 400 Millionen Menschen aus der Armut befreit.   

Dieses starke Wirtschaftswachstum hat auch uns im reichen Europa beeinflusst. Exportabhängige Staaten wie Deutschland oder mein Heimatland Schweden haben von der schnellen Expansion des Weltmarktes profitiert. Allerdings gibt es drei große „Abers“: Erstens ist die Bedeutung der Umwelt nicht zu unterschätzen. Wir alle wissen um die Schwierigkeiten, die Kohlendioxid-Emissionen zu reduzieren, ohne das Wachstum der Schwellenländer zu behindern, damit sie in Bezug auf Wohlstand und Wohlfahrt aufholen können. Unglücklicherweise prägte dieses Dilemma auch die Kopenhagener Klimakonferenz im Dezember 2009.

Zweitens hat das schnelle Wirtschaftswachstum enorme globale Ungleichgewichte geschaffen. Das augenscheinlichste Ungleichgewicht ist das Handelsbilanzdefizit der USA gegenüber China: Während die amerikanische Wirtschaft von übermäßigem privaten Konsum gekennzeichnet ist, wird die chinesische Wirtschaft vom Export und hohen privaten Ausgaben angetrieben.

Drittens hat sich die Demokratie zwar auf nationaler Ebene durchgesetzt, aber auf globaler Ebene ist sie nur schwach ausgeprägt. Der Kapitalismus ist global geworden, aber die Demokratie ist lokal geblieben. Hinzu kommt: Auf der nationalstaatlichen Ebene wird die Demokratie zu häufig infrage gestellt. Sie ist in einer ziemlich schlechten Verfassung, besonders in vielen europäischen Ländern, wo sie von linkem oder rechtem Populismus angegriffen wird. Niedrige Wahlbeteiligungen wie bei der Wahl zum Europäischen Parlament im vergangenen Sommer sind ein Alarmsignal.

Für den Markt sein, aber gegen den Kapitalismus

Wie sieht die Sozialdemokratie diese Entwicklungen? Wie verhalten wir uns zu den Auswirkungen der drei genannten Revolutionen? Wie bewertet die sozialdemokratische Bewegung in Europa den Kapitalismus und die Marktwirtschaft? Kann man zugleich gegen den Kapitalismus und für die Marktwirtschaft eintreten? Die schwedischen Sozialdemokraten haben dieses „ideologische Theodizeeproblem“ in ihrem Parteiprogramm wie folgt zu lösen versucht: „Politische Entscheidungen müssen Regeln schaffen, die jegliche Form von Ausbeutung verhindern, eine ökonomische Balance garantieren und die Früchte der Produktion fair umverteilen – und dies so, dass fundamentale soziale Rechte gewahrt werden. Der Markt ist unerlässlich für eine effiziente Produktion, die die materiellen Ressourcen des Wohlfahrtstaates immer wieder aufs Neue erzeugen kann. Kapitalismus und Marktwirtschaft müssen voneinander getrennt bleiben. Die Marktwirtschaft ist ein Verteilungssystem, in dem Güter und Dienstleistungen die Besitzer wechseln. Das Mittel dieses Austausches ist Geld. Der Kapitalismus ist ein Machtsystem mit Kapitalrendite als übergeordneter Norm.“

Anders gesagt: Man kann durchaus an die Marktwirtschaft glauben – als bestes Wirtschaftssystem, um Wohlstand zu schaffen – und zugleich seine Stimme gegen den Kapitalismus als übergeordnete gesellschaftliche Norm erheben. Und genau darum geht es in der Diskussion über die aktuelle Finanzkrise: Wie globalisieren wir die Demokratie, während der Kapitalismus sich bereits globalisiert hat? Wie wappnen wir die Nationalstaaten für die Globalisierung?

Aus meiner Sicht müssen wir verlässliche „soziale Brücken“ bauen. Denn zweifellos werden unter den Bedingungen des internationalen Wettbewerbs Unternehmen pleitegehen und Menschen arbeitslos werden. Die Frage ist nur, wie die Gewinne der Globalisierung in der Gesellschaft verteilt werden. Den Begriff „soziale Brücken“ haben ursprünglich Premierminister Gordon Brown und ich in einem gemeinsamen englisch-schwedischen Papier vorgeschlagen, das vor gut einem Jahr vorgestellt wurde. Wir benutzten den Begriff für Maßnahmen, die die Anpassungskosten für Arbeitnehmer reduzieren sollen, wenn sie aufgrund von ökonomischen Restrukturierungen arbeitslos geworden sind. Solche Maßnahmen sollen sie befähigen, neue Chancen wahrzunehmen. Protecting people, not jobs – diese Idee bedeutet, dass wir nicht bestehende Jobs um jeden Preis schützen sollten, sondern Menschen.

Warum gibt es keine sozialdemokratische Analyse der Krise?


Die Menschen müssen das Gefühl haben, dass sie als Individuen vernünftig für den Fall abgesichert sind, dass erhöhter Wettbewerbsdruck zum Konkurs ihres Unternehmens führt. Wenn wir soziale Brücken bereitstellen, auf denen sich Menschen von alten und nicht mehr wettbewerbsfähigen zu neuen Arbeitsplätzen bewegen können, wird die Gesellschaft im Gegenzug eine größere Bereitschaft zu Wandel und Offenheit entwickeln. Je mehr Menschen es wagen, sich anzupassen und auf neue, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze zu wechseln, desto konkurrenzfähiger ist ein Land. Genau deshalb sind verlässliche soziale Brücken eine Voraussetzung für soziale Gerechtigkeit und wirtschaftlichen Fortschritt gleichermaßen.

Worin liegt die Ursache der Finanzkrise? War es die Gier an der Wall Street? Das abnormale Vergütungssystem im Bankensektor? Fehlende Regulierung auf den Finanzmärkten? Sicher müssen alle diese Erklärungen in Betracht gezogen werden, sie sind mittlerweile Allgemeinwissen. Aber warum hat kein Sozialdemokrat versucht, eine sozialdemokratische Analyse vorzulegen, die sich von der Analyse konservativer Politiker wie dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy unterscheidet? Solange die Sozialdemokratie keine eigene Interpretation der Finanzkrise anbietet, die Vertrauen zu ihrem eigenen Sozialmodell zum Ausdruck bringt, zu demjenigen Modell also, das Sozialdemokraten im 20. Jahrhundert selbst geschaffen haben, wird sie keine neuen Unterstützer finden. Beispielsweise behaupte ich, dass fehlende verlässliche soziale Brücken in einem bestimmten Land – China – eine ebenso wichtige Ursache für die Finanzkrise waren wie die fehlende Regulierung im Finanzsektor.

Deng Xiaoping, der kräftige kleine Mann, der China zwischen 1978 und 1997 faktisch regierte, hat in China die Marktwirtschaft eingeführt. Er hat das Land für ausländische Investitionen und den Weltmarkt geöffnet, und er hat eine Wirtschaft geschaffen, die auf dem Prinzip Angebot und Nachfrage basiert. Seine Maßnahmen waren sehr erfolgreich. Die chinesische Mittelschicht ist rapide gewachsen. Millionen Menschen sind der Armut entkommen. Und wir in der nördlichen Hemisphäre haben von ihrer zusätzlichen Nachfrage profitiert.

Aber während Deng Xiaoping die chinesische Wirtschaft reformierte, beseitigte er so gut wie alle sozialen Sicherheitsnetze seines Staates, etwa die Gesundheitsversicherung oder das staatliche Rentensystem. Als die Chinesen nun wohlhabender wurden, sparten sie ihr Geld, um sich für den Krankheitsfall und das Alter abzusichern. Die Sparquote kletterte auf fast 50 Prozent. Die Chinesen exportierten ihr billiges Geld – und beglückten damit amerikanische Haushalte, amerikanische Politiker und nicht wenige Finanzarchitekten an der Wall Street.

Die Angst der Chinesen vor der Zukunft, verursacht durch fehlende soziale Sicherheitsnetze, befeuerte den heftigen amerikanischen Konsum zusätzlich. Und dieser amerikanische Konsum wiederum begünstigte eine Haltung nach dem Motto: The sky is the limit.  Sollen sich die Leute doch Geld leihen, auch wenn sie es sich gar nicht leisten können, solange wir davon profitieren! Die toxischen Kredite wurden in die globalen Venen gespeist – zur Erinnerung: we are all connected. Diese vergifteten Raketen hießen Subprime-Kredite. Und der Rest ist Geschichte.

Kurzum, die Maßlosigkeit an der Wall Street hat die Finanzkrise verursacht. Aber die dortigen Exzesse wurden dadurch genährt, dass es in China keine sozialen Brücken und Sicherheitsnetze gibt. Die Moral von der Geschichte ist ziemlich erstaunlich und für viele gewiss eine Provokation: Mehr europäische Sozialdemokratie in China hätte die Welt vor der Finanzkrise bewahren können – zum Beispiel ein Sozialsystem wie in Schweden, wo die sozialen Brücken stabil waren, bevor die derzeitige Mitte-rechts-Regierung damit anfing, sie zu untergraben. «

Aus dem Englischen von Michael Miebach

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