Die zweite große Wende der Sozialdemokratie
Die Versuche einer Neujustierung sozialdemokratischer Politik sind eingebunden in Prozesse, die das Vertrauen in die Politik seit längerem beeinträchtigen: Zu nennen sind die Globalisierung und die Europäisierung wie auch die Medialisierung und Inszenierung von Politik unter den Bedingungen abnehmender Parteibindung. Seit 1990 hat die SPD etwa 20 Prozent ihrer Mitglieder verloren. Die Zahl ihrer Stammwähler nimmt ab, ebenso die emotionalen Bindungen der Mitglieder an die Partei. Auf die großen Herausforderungen durch Arbeitslosigkeit, demografischen Wandel und die Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts sind keine schnellen Antworten zu erwarten. Dennoch wollen die Wähler wissen, wie diese Probleme mittel- und langfristig angegangen werden können - das sachzwangbedingte Ende von Politik steht nicht bevor.
Vor dem Hintergrund der eigenen Parteigeschichte bedeutet der derzeit stattfindende Umbau der sozialdemokratischen Parteien eine signifikante Veränderung - manche sprechen sogar von einer kopernikanischen Wende. Ging es bei der ersten großen Veränderung nach 1945 - in Deutschland symbolisiert durch das Godesberger Programm von 1959 - um die Versöhnung der Sozialdemokratie mit sozialer Marktwirtschaft und adenauerscher Westorientierung, so geht es diesmal um eine Neubestimmung des Verhältnisses von Sozialstaat, Gesellschaft, Individualität und Solidarität im Zeichen von Globalisierung und Europäisierung.
Man debattiert wieder - in Ansätzen
Andererseits scheint die SPD zur Programmdebatte ein ähnlich zurückhaltendes Verhältnis gewonnen zu haben, wie man dies von der CDU kennt. Doch es gibt Ansätze. Dafür stehen neben der Einrichtung einer Programmkommission vor allem die Kontroversen um "Dritte Wege" und zivilgesellschaftliche Modelle. Die anfangs vor allem von Anthony Giddens inspirierte Debatte über sozialdemokratische Reformpolitik strebt eine Synthese zwischen traditionellen Anliegen der Sozialdemokratie und neoliberalen Positionen an. Die Unzulänglichkeiten beider Konzeptionen sollen vermieden werden. Angelpunkt des Projektes ist die These, dass die Herausforderungen der Globalisierung nicht nur Risiken darstellen, sondern auch Chancen. Denn die Globalisierungsfolgen seien geeignet, bestehende Blockaden aufzulösen, um eine neue soziale Politik zu verwirklichen. Im Konsens mit dem Neoliberalismus wird der keynesianisch-staatsinterventionistische Primat der "alten" Sozialdemokratie abgelehnt oder doch relativiert. Zugleich wird eine Politik der Haushaltskonsolidierung favorisiert und die Unabhängigkeit der europäischen Zentralbank befürwortet. Zugleich wird der Neoliberalismus wegen seiner Überhöhung des Marktes kritisiert. Welchen Platz und Einfluss der Staat zukünftig haben soll, ist ein entscheidender Streitpunkt - nicht bloß zwischen Sozialdemokraten und Neoliberalen, sondern auch innerhalb der Partei selbst.
Es geht um Inklusion und Zusammenhalt
Für Giddens besteht das Gebot sozialstaatlicher Politik angesichts des Hauptproblems der Arbeitslosigkeit in der Inklusion. Die zentrale Kategorie zur Herstellung von Inklusion sei die Erwerbsarbeit, weshalb Politik und Staat sich vor allem darauf konzentrieren müssten, den Zugang zur Erwerbsarbeit zu demokratisieren. Als wichtige Instrumente dabei werden Bildungspolitik und Anreize im Steuer- und Sozialversicherungssystem betrachtet. Aus dieser Perspektive wird der Sozialstaat als Sozial-Investitions-Staat und aktivierender Staat definiert, der die Bedingungen für Chancengleichheit im Verbund mit Verbänden, Unternehmen und Bürgern verbessern soll.
Diese Konzeption setzt sich allerdings dem Argwohn aus, es handele sich hier letztlich nur um einen sozialdemokratisch gefärbten Versuch, den Wohlfahrtsstaat zugunsten einer Dominanz des Marktes abzubauen. In dieser Sicht scheint der Siegeszug des Neoliberalismus unaufhaltsam. In der Wettbewerbslogik des Kapitalismus geltende Kriterien wie Effektivität und Kosten-Nutzen-Kalküle würden auf Staat und Gesellschaft übertragen und als Kriterien für Erfolg oder Misserfolg herangezogen. Selbst das Alltagsdenken werde zunehmend von diesen Prinzipien geprägt. Mit dieser Beschreibung korrespondiert der in den Sozialwissenschaften formulierte Befund, die soziale Welt sei im Zuge von Individualisierung, Entsolidarisierung, dem Bedeutungsverlust von Traditionen, Werten und sozialen Bindungen zunehmend von Desintegration bedroht.
Vor diesem Hintergrund rückt das Problem des gesellschaftlichen Zusammenhalts ins Zentrum sozialdemokratischer Neuorientierung. Der Versuch, ein Politikmodell zwischen Staat und Markt zu konzipieren, muss eine Antwort mit sozialdemokratischem Charakter auf den erfolgten Modernisierungsschub geben. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass im Lager der Sozialdemokratie weniger die Diagnose umstritten ist, als die Schlüsse, die daraus zu ziehen seien. So stößt der Diskurs unweigerlich auf tiefer liegende Fragen, weil ein neuer Konsens über Grundwerte und Ziele sozialdemokratischer Politik an die normativen Grundlagen des Gesellschaftsverständnisses rührt.
Schutz und Freiheit, beides zugleich
Durch die gestiegenen Ansprüche auf Selbstautorisierung seitens der meisten gesellschaftlichen Akteure haben sich die Koordinaten für die Neukonzeption eines sozialdemokratischen Politikmodells grundlegend verändert. Zugleich aber ist noch immer - oder sogar vermehrt - bestehendem Schutz- und Sicherungsbedarf Rechnung zu tragen. Im Kern geht es darum, dieses veränderte Verhältnis von Freiheits- und Schutzbedürfnissen auf neuem Niveau auszubalancieren. Eine solche neue Balance ist nur in Form veränderter institutioneller Arrangements realisierbar. Folglich müssen Steuerungsprinzipien und Handlungslogiken in ihrer Wechselwirkung neu austariert werden. Das betrifft die Verhältnisse von Markt und Staat wie auch von intermediären Organisationen und Familien. Vor dieser Folie lässt sich die Frage nach dem Verhältnis von Markt und Staat überhaupt erst angemessen in den Griff bekommen. Sowohl die Konzepte der Zivil- oder Bürgergesellschaft, des aktivierenden Staates als auch die vielfach geforderte Kultur der Selbständigkeit haben hier ihren Ort.
Ein dieser Problemstellung adäquates Konzept von Wohlfahrtsgesellschaft unterscheidet sich normativ und strukturell von neoliberalen Vorstellungen. Neoliberale sehen keinerlei Bedarf, an die normativen Grundlagen des bestehenden Gesellschaftsmodells anzuknüpfen. Programmatische Äußerungen Wolfgang Clements zum Begriff der Gerechtigkeit etwa lassen erkennen, dass die Spannweite der Probleme auch in Teilen der Sozialdemokratie nicht angemessen erfasst wird. Deshalb fällt es traditionellen Linken leicht, Bemühungen um eine Neubestimmung der Partei als neoliberale Konzepte zu brandmarken. Andererseits sind vor dem Hintergrund grundsätzlicher Probleme, die auch von linkssozialistischer Seite nicht mehr bestritten werden, weitgehende Reformen des bisherigen, durch Anrechtspolitik, monetäre Transfers und Sozialbürokratie geprägten Modells des Wohlfahrtsstaats, unausweichlich. Die Debatte um das Schröder-Blair-Papier hat deutlich gemacht, dass dezidierte Positionierungen "von oben" ohne breiten Diskurs in der Partei den Prozess der programmatischen Neujustierung und Zuspitzung weder schneller noch zielgerichteter machen. Zudem zeigt sich, dass sich Konzepte aus anderen Ländern nicht einfach übertragen lassen. Die stärkere Bezugnahme auf die Besonderheiten des deutschen Modells und der deutschen Sozialdemokratie ist unabdingbar, um eine Zusammenführung von Ideen und Interessen innerhalb und außerhalb der Partei zu ermöglichen.
Wahlstrategisch ist die SPD mit vielfältigen neuen Unsicherheiten konfrontiert. Während die Verhältnisse in Deutschland bis in die neunziger Jahre durch ein hohes Maß an Stabilität bestimmt waren, besteht seit einiger Zeit ein ungewohntes Maß an Unsicherheit und Wandel, das sich auch in einem instrumentelleren Wahlverhalten niederschlägt. Daher widmen sich die Wahlkampfstrategen der Partei vor allem den Wechselwählern. Zugleich hat die SPD seit 1998 viele ihrer Stammwähler verloren. Die Akzeptanzschwäche in der Arbeiterschaft lässt sich darum als potentielle Bruchstelle in der sozialdemokratischen Mobilisierungsstrategie identifizieren. Das wirft die grundsätzliche Frage auf, ob die SPD auf dem Weg zu einer modernen Nacharbeitnehmerpartei ist, in der die oberen Mittelschichten dominieren.
Traditionalisten treten auf den Plan
Diese Tendenz scheint eine weit reichende Akzentverschiebung zu bestätigen: Wandel wird innerhalb der Sozialdemokratie nicht mehr vornehmlich mit Bedrohung gleichgesetzt. An die Stelle der bisherigen Defensivhaltung tritt eine optimistischere Sicht, die darauf aufbaut, dass von der New Economy positive Impulse ausgehen, die nicht auf den kleinen Bereich des neuen Wirtschaftens und Arbeitens begrenzt bleiben. Im Gegenteil: Old und New Economy verschmelzen, die Zahl der Beschäftigungsverhältnisse nimmt zu, die Individuen werden durch eine neue Qualifikationspolitik gestärkt. So zumindest die Vision. Sie kann jedoch für die Definition sozialer Sicherheit nicht folgenlos bleiben. Deshalb erscheint das Politikmodell des responsiven Regierens, das bislang meist den Beigeschmack eines Reparaturbetriebs zur Milderung gesellschaftlicher Fehlentwicklungen mit sich führte, in einem anderen Licht: Der Staat wird stärker als gesellschaftlicher Akteur begriffen, der auf Impulse aus der Gesellschaft reagiert und somit seine Rolle als fürsorgender, paternalistischer Akteur relativiert. So gesehen, besteht die Rolle des Staates zukünftig stärker darin, die Individuen dabei zu unterstützen, ihre Kompetenzen so zu entwickeln, dass sie ihre selbstgewählten Optionen verfolgen und gesellschaftlich integriert im Wandel leben können.
Natürlich rufen solche Interpretationen die Traditionalisten auf den Plan. Sie kritisieren, die SPD betreibe seit einiger Zeit eine fahrlässige Preisgabe sozialdemokratischer Grundorientierungen. Damit verabschiede sie sich vom eigenen Reformansatz, durch eine "Politisierung der sekundären Verteilung des erwirtschafteten Reichtums" (Birgit Mahnkopf) eine Korrektur der primären Verteilung durch den Markt und eine Neutralisierung des gesellschaftlichen Konflikts zwischen Kapital und Arbeit herbeizuführen. Diese Entwicklung schließe Bestrebungen innerhalb der SPD ein, die Rolle des Staates und der Gewerkschaften neu zu definieren. Die fundamentale Bedeutung dieser Vorgänge bestehe darin, dass der Staat fortan weder den Schutz der Bürger vor den Kräften des Marktes noch die Einhegung der Globalisierungsprozesse als zentrale Aufgabe begreife. Vielmehr konzentriere er sich mit Hilfe von Steuersenkung und Sozialabbau auf den Standortwettbewerb. Für das Verhältnis der SPD zu den gesellschaftlichen Interessengruppen heiße dies, dass die Gewerkschaften zukünftig als eine "Lobby wie jede andere" betrachtet würden, was wiederum den Abschied von der Arbeiterbewegung bedeute.
Verrät die SPD ihre Ziele?
Die SPD, heißt es weiter, erlebe derzeit die mentale Kolonisierung durch den Neoliberalismus sowie die ideologische Verklärung von Flexibilisierung und Mobilität zu neuen Sekundärtugenden. Damit werde die Grundlage für eine Politik gelegt, die zu einem Abbau von Schutzrechten und einem Zuwachs an Ungleichheit führe. Die linkssozialistische Kritik konzentriert sich also auf den sozialdemokratischen Gerechtigkeitsdiskurs. Der SPD wird vorgeworfen, dass sie Gerechtigkeit nicht mehr mit dem Abbau von Ungleichheit identifiziere, sondern sogar "begrenzte Ungleichheiten" als Basis für ein Mehr an Gerechtigkeit begreife. Besorgt ist diese Position über die Gefahren, die von einer Öffnung hin zu mehr Markt ausgehen. Damit sind keine abstrakten Gefährdungen gemeint, sondern solche, die sich für die Kernklientel der Sozialdemokratie ergeben könnten, wenn sich der Staat für unzuständig erklärt. Hiermit wird in der Tat die offene Flanke des sozialdemokratischen Modernisierungskurses problematisiert und eine sozial gestaltende Politik gefordert, die sich vor allem im Sinne der Stammklientel bewährt.
Die große Schwäche einer primär traditionsgestützten Werteperspektive ist freilich, dass sie programmatische Veränderungen reflexartig als Verrat an ursprünglichen Zielen bewertet. Demnach stellt sich die Politik der Sozialdemokratie seit dem 19. Jahrhundert ausschließlich als "kontinuierlicher Prozess der Deradikalisierung" (Wolfgang Merkel) dar. Alle Debatten und Konzeptionen, die bemüht sind, dem Wandel von Gesellschaft und Wirtschaft mit institutionellen Neujustierungen gerecht zu werden, werden meist nur in der Dimension eines Abbaus von Ansprüchen und Schutzrechten rezipiert. In dieser Perspektive gefangen, glaubt man nicht daran, dass die Reintegration der gegenwärtig durch die forcierte Modernisierungsdynamik im Umbruch befindlichen Sphären der Familie, Gemeinschaften und Organisationen in neuer Gestalt überhaupt noch gelingen kann.
Wir bestreiten die lebensweltlich desintegrative Wirkung dieser Entwicklungen keineswegs. In der Debatte über eine Neuausrichtung von Staat und intermediären Organisationen wird aber auf der Basis eines so verengten und defensiven Zugangs keine überzeugende Perspektive zu gewinnen sein. So lassen sich die Chancen, die sich durch vielfältige Formen des bürgerschaftlichen Engagements im Hinblick auf eine neue Balance von Staat und Gesellschaft eröffnen, nicht angemessen erfassen, wenn man solchen Ansätzen immer sogleich das Etikett des Neoliberalismus anklebt. In Anbetracht des in Deutschland erreichten Wohlfahrtsniveaus ergibt ein Katastrophen- und Verelendungsszenario als Vorgabe für Programm- und Politikplanung keinen Sinn. Ein Verrat der Sozialdemokratie an ihrer Herkunft lässt sich bei all ihren Unzulänglichkeiten nicht erkennen. Kurzum: Eine sozialdemokratische Politik auf Augenhöhe mit ihrer Zeit muss dem Gebot differenzierter Gerechtigkeitspolitik unterliegen, nicht aber einer verkürzenden Forderung nach Gleichheit.
Eine andere Idee des guten Lebens
Gewiss kommt eine neue Synthese von Options- und Anrechtspolitik nicht um eine Neuformulierung der Kategorien von Gerechtigkeit und Gleichheit herum. Dabei geht es letztlich um die Bestimmung dessen, was aus der Sicht von Sozialdemokratie und Gewerkschaften heute unter der Kategorie des guten Lebens gefasst werden kann. Zumindest im Sinne eines regulativen Ka-nons muss es einen Konsens darüber geben, welches die grundlegenden Werte und Ziele einer Gesellschaft sind. Fest steht, dass sich das Bild vom guten Leben, das dem fordistischen Typ des Wohlfahrtsstaats zugrunde lag, entscheidend verschoben hat. An die Stelle von Arbeit und Konsum als maßgeblichen Werten tritt eine andere Idee des guten Lebens. Die Entwicklung von Fähigkeiten zur Lebensführung, von Fach- und Daseinskompetenzen, wird unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen, wo nahezu alles, was den Einzelnen in seiner sozialen Welt umgibt, reflexiv geworden ist, zum neuen normativen Leitbild. Konzepte wie etwa jenes vom aktivierenden Staat müssen im Hinblick auf diese komplexen Vorgaben überhaupt erst einmal debattiert und konkretisiert werden, wenn sie nicht nur verkürzt im Sinne eines Druck- und Kontrollinstruments zwecks Inklusion in den Arbeitsmarkt gedeutet werden sollen.
Alle Debatten über ein neues Verhältnis von Markt und Staat haben ihren Fluchtpunkt in der umstrittenen Frage, welchen Ort der (National-)
Staat unter diesen Bedingungen einnehmen kann. Klar sollte sein: Konzepte einer Bürgergesellschaft greifen zu kurz, wenn sie den Staat nur noch als Residualstaat konzipieren und dem Markt und der Gemeinschaft unter Verzicht auf intermediäre Organisationen alleine zutrauen, alle gesellschaftlichen Aufgaben und Funktionen zu übernehmen. Die veränderte Wohlfahrtsgesellschaft bleibt zwingend auf einen reformierten Staat und neu positionierte Verbände angewiesen.
Doch die verbreitete Staatsskepsis hat Ursachen. Die Konjunktur des Modells der Bürgergesellschaft ist untrennbar verbunden mit der Diskussion über Effektivitätsprobleme und Legitimationskrisen staatlichen Handelns. Der Wohlfahrtsstaat habe sich zu einer "Betreuungsmaschinerie und Entmündigungsagentur" verwandelt, kritisiert etwa Wolfgang Kersting. Die vielfältigen Formen bürgerschaftlichen Engagements beziehen ihre antietatistische Motivation auch aus diesen Erfahrungen mit dem Staat.
An den Grenzen der Freiwilligkeit
Allerdings sollten die überschwänglichen Erwartungen an die Integrationskraft der Bürgergesellschaft nicht verdecken, dass Gemeinsinn nicht per se positiv zu werten ist. Die Tendenz zur Exklusivität des Zugangs und der Teilhabe an diesen neuen Solidaritätsformen wie auch die immanenten Probleme des Freiwilligkeitsprinzips erfordern, dass das bürgerschaftliche Engagement auf die zentrale Verantwortungsinstanz des Staates bezogen bleiben muss. Ein Verständnis von Bürgergesellschaft greift zu kurz, das sich allein auf Ehrenamt und Freiwilligkeit stützt. Der Staat muss Ressourcen und Anreize für bürgerschaftliches Engagement zur Verfügung stellen.
Es geht dabei aber nicht nur um die materielle Absicherung und Förderung einzelner Personen und Initiativen, sondern vor allem um den Umbau von Staat und Gesellschaft mit dem Ziel einer beteiligungsfreundlicheren Infrastruktur. Das Leitbild vom aktivierenden Staat kann deshalb nicht einseitig auf die Stärkung individuellen Engagements reduziert werden. Eine beteiligungsorientierte Gesellschaft erfordert Veränderungen auch in den Wohlfahrtsorganisationen und staatlichen Verwaltungen, wenn mit der Bürgergesellschaft nicht nur eine Entlastung des Staates gemeint sein soll. Im Unterschied zum marktorientierten Modell der Bürgergesellschaft, das auf eine Privatisierung der sozialen Risiken hinausläuft, bleiben Staat und zivilgesellschaftliche Akteure aufeinander bezogen.
Umbau im Kontext der eigenen Tradition
Eine andere Ursache der Skepsis betrifft den Souveränitätsverlust des Staates. Die Globalisierung, heißt es, unterminiere die Handlungsmöglichkeiten staatlicher Politik. Bestenfalls traut man dem Staat noch die Rolle des Moderators zu, der existierenden gesellschaftliche Akteuren sein Organisationspotential zur Verfügung stellt. Dieses defensive Staatsverständnis grenzt sich von der alten Erwartung an den Staat ab, die in der Sozialdemokratie immer noch wirksam ist. Gleichwohl darf sich der Gestaltungsanspruch des Staates auch heute nicht in bloßer Verfahrenspolitik erschöpfen, in der die Fixierung auf einen Konsens den inhaltlichen Führungsanspruch an den Rand drängt. Das wäre zu wenig für eine sozialdemokratische Regierungspolitik.
Anders als zur Zeit der Godesberger Wende versucht die SPD gegenwärtig, sich aus der Regierung heraus zu reformieren. Die Herausforderung besteht darin, den eingeleiteten Umbau in den Kontext der eigenen Tradition zu stellen, ohne sich dabei von den Stammwählern und den Gewerkschaften zu entfernen. Im Vergleich mit den ersten Suchbewegungen nach der Regierungsübernahme 1998, die sich durch ihren Bezug auf die Debatten von New Labour auszeichneten, wurde in letzter Zeit auf solche Referenzen verzichtet. Gleichwohl knüpft man noch immer zu wenig an die Stärken der eigenen Tradition - soziale Gerechtigkeit, Bündnis von Starken und Schwachen - an. Stattdessen gehen maßgebliche Sprecher der Partei zu unkritisch mit jenen Forderungen nach Deregulierung, Flexibilisierung und Beschleunigung um, die seit Jahren die öffentliche Veränderungssemantik prägen. Profilierte Synthesen, die sich als sozialdemokratische Unikate zwischen Solidarität und Individualität erweisen könnten, stehen aus.
Die Arbeit der Zuspitzung hat in Deutschland erst begonnen. Ob die SPD am Ende tatsächlich zu einer republikanischen Nacharbeitnehmerpartei wird und welche Konsequenzen das für ihr Selbstverständnis und den Parteienwettbewerb hätte, ist offen. Setzt sich dieser Trend fort, dann wird das Verhältnis der Wähler zur neuen Sozialdemokratie jedenfalls noch emotionsloser, wäre die Partei noch weniger verwurzelt. Demgegenüber kann der eingeschlagene Modernisierungskurs die Sozialdemokratie enger mit der Zivilgesellschaft verbinden und hat nichts mit einer kopernikanischen Wende zu tun. Er ist aber zugleich mehr als eine einfache Fortschreibung der eigenen Tradition. Er bietet die Grundlage für einen sozial verantwortlichen Individualismus und damit für eine beteiligungsorientierte Wohlfahrtsgesellschaft, die eine positive Aktualisierung sozialdemokratischer Solidaritätspolitik mit sich bringt.
Soeben ist im Wochenschau Verlag der von Wolfgang Schroeder herausgebene Band "Neue Balance zwischen Markt und Staat: Sozialdemokratische Reformstrategien in Deutschland, Frankreich und Großbritannien" erschienen.