Ein bisschen gleich ist nicht genug

Geschlechtergerechtigkeit? Ein modernes Märchen, meint ANKE DOMSCHEIT-BERG. Ihr neues Buch heißt: »Ein bisschen gleich ist nicht genug! Warum wir von Geschlechtergerechtigkeit noch weit entfernt sind: Ein Weckruf«. Darin zeigt die langjährige IT-Beraterin und Netzaktivistin, wie wir jenseits einfacher Schuldzuweisungen Geschlechtergerechtigkeit verwirklichen können. »Berliner Republik«-Redakteurin Nane Retzlaff sprach mit ihr über die Gratwanderung der Frauen, bequeme Männer und warum es sich lohnt zu kämpfen

Die „Welt“-Redakteurin Ronja von Rönne schrieb kürzlich, der Feminismus ekele sie an. Ihr Kollege Andreas Rosenfelder bekannte: „Sorry, aber der Feminismus ist mir komplett egal.“ Etwa zeitgleich ist Ihr Buch über Geschlechtergerechtigkeit erschienen. Der Begriff „Feminismus“ kommt nur an wenigen Stellen vor – eine bewusste Entscheidung?

Anke Domscheit-Berg: Das war zwar nicht beabsichtigt, ist aber auch nicht ganz zufällig. Ich habe keine Angst vor dem Label „Feminismus“ und bezeichne mich selbst auch als Feministin. Ich bin mir aber bewusst, dass der Begriff manche abschreckt. Ein Teil des Problems ist, dass in der Debatte so viel polarisiert wird – und dieser Begriff wird gerne zur Polarisierung benutzt. Was wir brauchen, ist eine sachliche Debatte, an der sich möglichst viele beteiligen, weil Geschlechtergerechtigkeit eine Frage der Freiheit ist, die uns alle betrifft.

Viele verbinden mit dem Feminismus eine Opferhaltung und sind der Meinung, dass heute jeder für sein eigenes Glück verantwortlich ist. Demnach hängt beruflicher Erfolg vor allem von der eigenen Leistungsfähigkeit ab.

Genau das stimmt nicht. Ich habe viele junge Frauen erlebt, die wirklich glauben, dass es Geschlechterdiskriminierung nicht mehr gibt und die gläserne Decke ein Problem von gestern ist. Das hat oft damit zu tun, dass sie in ihrem bisherigen Leben keinerlei entsprechende Erfahrungen gemacht haben. Fakt ist, dass die Mädchen die Jungs längst abhängen, wenn es um Bildung geht: Sie machen die besseren Abschlüsse, studieren und starten dann im Berufsleben voll durch. Junge Frauen wie Ronja von Rönne sprechen genau aus dieser Erfahrung heraus. Leider stimmt das für den Rest ihres Lebens meist nicht mehr. Die traurige Wahrheit: Frauen sind massiv unterrepräsentiert, egal wo man hinguckt, ob in Wirtschaft, Politik, Verwaltung, Kunst oder Medien. Warum manche mit dem Feminismus eine Opferhaltung verbinden, erschließt sich mir jedoch nicht. Feminismus ist die schlichte Überzeugung, dass Frauen Menschen sind und alle Menschen gleiche Rechte genießen sollten. Zum Feminismus gehört auch zu zeigen, wo die Realität von diesem Zustand noch weit entfernt ist. Dies können auch Männer aus einer gesellschaftlich privilegierten Position heraus.

Für Ihr Buch haben Sie viele Zahlen zusammengetragen. Besonders hartnäckig hält sich der Vorwurf, dass Frauen selbst schuld an ihrer Lage seien. In der Diskussion um den Gender Pay Gap wurde den Frauen etwa vorgeworfen, sie würden schlechter verhandeln. Ist an dem Vorwurf etwas dran?

Es ist zwar richtig, dass Frauen seltener um Gehalt verhandeln. Aber wenn sie es tun, werden sie dafür bestraft. Studien zeigen, dass Frauen als unsympathisch wahrgenommen werden, wenn sie verhandeln, weil sie gegen stereotype Erwartungen verstoßen, und manchmal deshalb gar nicht erst eingestellt werden – ein Problem, dass Männer nachweisbar nicht haben. Aber das wissen nicht einmal die Verantwortlichen in Personalabteilungen. Genau deshalb müssen wir uns die Fakten genau angucken und unser Verhalten überprüfen. Niemand von uns ist frei von Geschlechterstereotypen – natürlich auch Frauen nicht. Einfache Schuldzuweisungen werden dem Problem daher nicht gerecht.

Wie kann man als Frau auf Diskriminierungen am Arbeitsplatz reagieren – etwa wenn man als Frau nicht ernst genommen oder gar belästigt wird?

Darauf gibt es leider keine allgemeingültige Antwort. In den ersten Jahren meines Berufslebens gab es Situationen, in denen ich diskriminiert wurde. Damals habe ich mich wenig gewehrt und stattdessen versucht, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen. Ich habe mich nicht formell beschwert, sondern den Geschäftsbereich gewechselt. Im Nachhinein überlege ich: Wäre eine Beschwerde oder sogar Klage vielleicht besser gewesen? Was hätte es gebracht? Wahrscheinlich wäre ich dann als Frau am Ende trotzdem die Benachteiligte gewesen – weil Frauen oft als Zicke gebrandmarkt werden, die den Frieden im Unternehmen stören. Dann werden sie unter Umständen kaltgestellt und können auch keine Karriere mehr machen. Es ist also eine Wahl zwischen Pest und Cholera.

Kann man sich denn in solchen Situationen als Frau gar nicht wehren?

Ich rate Frauen dazu, sich mehr zu wehren, auch wenn das unter Umständen schwierig ist. Die Entscheidung muss aber bei den Frauen selbst liegen, da es für sie reale Risiken gibt. Ideal ist, wenn man Alliierte findet, Kollegen, die nicht betroffen sind – am besten Männer –, die sich stattdessen beschweren. Als Frau ist man dann weniger angreifbar und muss das Risiko von Nachteilen nicht einseitig tragen. Gleichzeitig wird der notwendige Veränderungsdruck in der Gesellschaft aufgebaut.

Oft wird den Frauen allerdings vorgeworfen, sie würden sich mit ihrer Situation zufriedengeben und wären zu feige.

Wieso soll sich denn immer der Mensch, der selbst diskriminiert wird, hauptsächlich um die Problemlösung bemühen? Wer ­andere benachteiligt, ist doch üblicherweise in einer Machtposition und kann schon deshalb am ehesten etwas daran ändern. Wer dagegen benachteiligt wird, kann aus dem gleichen Grund meist viel weniger ändern. Das ist beim Thema Rassismus ja auch nicht anders. Natürlich können Frauen auch etwas tun, aber wir machen es uns zu einfach, wenn wir das zu einer reinen Frauensache erklären. In einer patriarchalen Gesellschaft kann es keine Geschlechtergerechtigkeit geben – und ohne das Engagement von Männern auch nicht.

Rund zwei Drittel der Männer sind allerdings der Meinung, mehr Gleichberechtigung bräuchten wir nicht, da Frauen doch mittlerweile überall gefördert würden. Haben Sie dafür Verständnis?

Zum Teil – weil ich weiß, wie dieser Eindruck entsteht. Das will ich an einem Beispiel erläutern: Seit ungefähr 40 Jahren werden in Filmen Menschenmengen in einer relativ identischen Geschlechterzusammensetzung dargestellt, und zwar mit 17 Prozent Frauen. Wenn man Menschen bittet, die Geschlechterverteilung in dieser Gruppe zu schätzen, lautet die Antwort: Es handelt es sich um eine durchschnittlich zusammengesetzte Gruppe. Eine Gruppe, in der ebenso viele Frauen wie Männer vertreten wären, würde als eine Gruppe wahrgenommen, in der überproportional viele Frauen vorhanden sind – eben weil wir 17 Prozent als Gleichverteilung wahrnehmen. Auch bei Redeanteilen in Diskussionen gibt es diesen Effekt. Die Konsequenz: Dass Frauen in vielen Bereichen weiterhin krass unterrepräsentiert sind, wird einfach nicht erkannt. Und genau deshalb müssen wir auch unsere Wahrnehmungsmuster auf den Prüfstand stellen, um uns in einem zweiten Schritt der Problemlösung zu widmen. Dazu brauchen wir harte Fakten als Basis der Debatte.

Rund 60 Prozent der Männer begrüßen den Abschied von traditionellen Geschlechterrollen – und erwarten, dass Frauen erwerbstätig und finanziell unabhängig sind. Trotzdem übernehmen sie immer noch weniger Verantwortung für Familie und Haushalt als Frauen. Ist die klassische Rollenverteilung einfach zu bequem für sie?

Leider ist der Status quo für viele Männer sehr vorteilhaft. Beim Vater meines Kindes habe ich das selbst erlebt. Als wir darüber sprachen, wie wir uns die Fürsorge für das Kind teilen würden, war ich überzeugt, dass jeder von uns sechs Monate Elternzeit nimmt. Ein moderner Mann zu sein hieß für ihn allerdings nur, dass ich weiter arbeiten „durfte“ – trotz des Kindes. Er war nicht bereit, Elternzeit zu nehmen.

Viele Männer scheinen nur bereit zu sein, zugunsten der Familie beruflich kürzerzutreten, wenn dies keine Nachteile für ihre Karriere hat.

Ich verstehe die Abneigung von Männern, berufliche Nachteile in Kauf nehmen zu müssen. Oft werden Männer noch stärker benachteiligt als Frauen, wenn sie länger Elternzeit nehmen. Dennoch tragen aktuell Frauen den Löwenanteil der „Kinderstrafe“: Sie setzen oft ein ganzes Jahr aus, gefolgt von Teilzeit – mit all den Konsequenzen, die damit für ihre Karriere, ihr Gehalt und ihre Rente verbunden sind. Sie werden lebenslang benachteiligt, nur weil sie die kommende Generation zur Welt bringen. Weniger Benachteiligung für beide Geschlechter wird es nur geben, wenn Familienarbeit gerecht geteilt wird und wenn es für Männer normal ist, länger als acht Wochen in Elternzeit zu sein. Deshalb müssen sich die Männer bewegen, denn letztlich werden auch sie davon profitieren.

Der Vergleich mit Ostdeutschland zeigt: Frauen und Männer sind dort wesentlich gleichberechtigter als in Westdeutschland. Welche politischen Schlussfolgerungen lassen sich daraus ziehen?

Für die jetzige Debatte ist es wichtig, dass wir uns vor Augen führen: Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat sich in der DDR das traditionelle Frauenbild innerhalb weniger Jahre massiv gewandelt. Auch heute noch übernehmen ost­deutsche Männer weit mehr Haushalts- und Fürsorgearbeit als ihre westlichen Kollegen, wo das überkommene Rollenbild noch Jahrzehnte länger dominant war und zum Teil noch ist. Die Erfahrung der DDR-Nachkriegszeit zeigt: Auch in kürzeren Zeiträumen sind substanzielle Veränderungen möglich.

Ich musste zuerst schmunzeln, als ich den Untertitel Ihres Buches („Ein Weckruf“) las, weil ich dachte: Wie viele Weckrufe braucht es denn noch? Das Problem ist doch hinreichend analysiert! Trotz der ernüchternden Faktenlage steckt Ihr Buch voller Optimismus.

Das hängt auch damit zusammen, dass ich in der DDR aufgewachsen bin. Der Fall der Mauer war für mich eine unglaublich wichtige Erfahrung. Ich hatte mir nicht vorstellen können, dass es die Mauer einmal nicht mehr geben würde. Sie war ja schon da, als ich geboren wurde. Und sie schien unüberwindbar. Trotzdem haben wir 1989 die friedliche Revolution auf den Weg gebracht – und dann ist in kürzester Zeit das völlig Unmögliche eingetreten. Deshalb gibt es für mich keine große gesellschaftliche Veränderung, die per se unmöglich wäre. Von 100 Veränderungen sind vielleicht 99 tatsächlich unmöglich, aber eine vielleicht doch. Und wir wissen nicht, welche das ist. Deshalb lohnt es sich, immer wieder für Veränderungen zu kämpfen – und zwar mit ganzer Kraft, weil es sonst nicht klappen kann. Wenn man das tut und viele sich engagieren, dann ist alles erreichbar – auch Geschlechtergerechtigkeit. «

Herzlichen Dank für das Gespräch.

Das Buch „Ein bisschen gleich ist nicht genug! Warum wir von Geschlechtergerechtigkeit noch weit entfernt sind: Ein Weckruf“ ist im Heyne Verlag erschienen. Es hat 240 Seiten und kostet 8,99 Euro.

zurück zur Ausgabe