Epoche machen
Nach der knapp gewonnenen Bundestagswahl verkündete Franz Müntefering den Beginn einer rot-grünen Epoche. Ein großer Anspruch. Um seine Berechtigung zu klären, sollte man den Begriff der Epoche bestimmen. Epoche ist "eigentlich der Zeitpunkt eines Ereignisses, Wendepunkt, heute meist für Zeitraum, Periode gebraucht. In der Geschichte der durch ein herausragendes Ereignis, eine Person, eine wirtschaftliche, geistige oder künstlerische Tendenz gekennzeichnete geschichtliche Zeitraum" (Bertelsmann Lexikothek in 15 Bänden, Band 4, Stichwort Epoche, Gütersloh 2002). Franz Müntefering meinte Epoche im Sinne von Zeitraum. Aber damit bleibt der Begriff inhaltlich unbestimmt. Welche wirtschaftlichen, geistigen oder künstlerischen Inhalte können in Zukunft mit der rot-grünen Epoche verbunden werden? Wohl dem, der darauf eine Antwort weiß - und das ist ganz ohne Polemik gemeint.
Es ist einfach zu früh, eine Epoche im eigentlichen Sinne des Wortes zu diagnostizieren, wenn wir uns mitten in einer historischen Situation befinden, die durch Übergänge in eine noch unbekannte Zukunft gekennzeichnet ist. In manchen Politikfeldern wissen wir vor allem, was nicht mehr geht, haben aber häufig nur unbestimmte Vorstellungen davon, was in Zukunft gehen könnte. Dass sich die Regierungsparteien schwer tun, diese Zukunftsfragen zu beantworten, bleibt der Öffentlichkeit nicht verborgen. Man hat selbst keine Antworten - umso vernichtender fällt die Kritik an den Regierenden aus. Die öffentliche Resonanz auf den Koalitionsvertrag Erneuerung - Gerechtigkeit - Nachhaltigkeit war entsprechend. In der Öffentlichkeit wurden einzig die Steuer- und Abgabenerhöhungen thematisiert. Der Rest spielte keine Rolle. Das mag unfair sein. Aber diese Wahrnehmung ist nicht grundlos. Dem Koalitionsvertrag fehlt in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik ein tragfähiges Fundament. Die regierenden Parteien machen Politik ohne eine konsistente Analyse der ökonomischen Handlungsgrundlagen. Aus diesem Grund wirkt der wirtschafts-, sozial- und finanzpolitische Teil des Vertrages so blass. Dieselbe Regierung zeigt in anderen Politikfeldern wie man es besser machen kann.
Wo man weiß, was man will
In der Energiepolitik gibt es eine klare Linie. Man will aus den zentralistischen Strukturen mit einem hohen Einsatz von Atomkraftwerken im Grundlastbereich heraus und an deren Stelle dezentrale, auf regenerative Energiequellen beruhende Strukturen setzen. Das wird verbunden mit großem Engagement für eine zeitgemäße Politik des Einsparens von Energie. Die Energiepolitik ist dabei nur ein Baustein eines größeren Projektes namens Ökologische Modernisierung. Dieses Projekt umfasst zugleich die Agrarpolitik, den Verbraucherschutz, die Klimapolitik und die Verkehrspolitik. Bei allen Kompromissen und Schwierigkeiten, wie sie etwa mit dem Atomkonsens verbunden sind, kann man von einer stringenten Strategie sprechen, die ohne Zweifel zu einem Markenzeichen der Bundesregierung geworden ist. Selbst politisch heftig umstrittene Maßnahmen wie die Ökosteuer konnten in diesem Umfeld durchgehalten werden. Man wusste hier, was man wollte, und man weiß, von welchen Bedingungen man redet.
Dasselbe lässt sich von der Familienpolitik sagen. Die Bundesregierung und die neue Familienministerin haben klare Vorstellungen von den Problemen, vor denen Familien mit Kindern stehen. Das alte konservative Familienmodell mit dem berufstätigen Ehemann und der Kinder erziehenden Hausfrau hat ausgedient und kann die Anforderungen der heutigen Gesellschaft nicht mehr erfüllen. Daraus zieht man Konsequenzen. Noch in der vergangenen Legislaturperiode wurde die finanzielle Ausstattung der Familien substantiell verbessert. Die erste Stufe der Steuerreform hat eine Trendwende zugunsten der Familien eingeleitet. Die Niederlage der Unionsparteien hat unter anderem in ihrem dogmatischen Festhalten an einem überlebten und nicht mehr repräsentativen Familienmodell ihre Ursache. Es ist für die Bundesrepublik Deutschland eine historische - man kann fast sagen: epochale - Entscheidung, die Ganztagsbetreuung von Klein- und Schulkindern einzuführen. Dabei ist zwar heute schon abzusehen, dass nicht alle Wünsche der Betroffenen in Erfüllung gehen werden. Aber die Richtung stimmt - und das wird auch bei allen Diskussionen um strittige Details erkennbar bleiben.
Ein Gespenst geht um. Sein Name ist Deflation
Es gibt noch mehr positive Beispiele aus dem Koalitionsvertrag. Sie werden aber alle miteinander wenig nützen, wenn es nicht gelingt, in der Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik erkennbare Fortschritte zu erzielen. In der Fragestellung liegt bereits das Problem. Wer zur Zeit die Hoffnung erweckt, die Massenarbeitslosigkeit beseitigen zu können, hat den Ernst der wirtschaftlichen Lage noch nicht begriffen. Wir haben es gegenwärtig mit der schwersten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg zu tun. Nur noch einmal die Fakten: abgestürzte Finanzmärkte, Konsum- und Investitionsabsentismus, steigende Defizite der öffentlichen Haushalte, kaum noch zu finanzierende soziale Sicherungssysteme. Das betrifft nicht mehr nur wie in der Vergangenheit einzelne Wirtschaftssektoren (etwa die Stahl- oder Textilindustrie wie in den siebziger Jahren), sondern alle Sektoren der Wirtschaft. Mit einem Satz: Das Gespenst der Deflation geht um. Verunsicherte Konsumenten verschieben Anschaffungen, verunsicherte Unternehmen kürzen Investitionen. Das bedeutet auf dem Arbeitsmarkt steigende Erwerbslosenzahlen und für Unternehmen sinkende Gewinne bei einer zunehmenden Zahl an Insolvenzen.
Von richtiger Analyse ist nicht viel zu sehen
Im Bankensystem müssen etablierte Grossbanken wie die Commerzbank Liquiditätsprobleme dementieren. Anders ausgedrückt: Vorstandschef Müller bestreitet die drohende Pleite. Die übrigen Banken müssen zwar zu ihrem drohenden Konkurs noch nicht Stellung nehmen, bauen aber ebenfalls Arbeitsplätze ab und kürzen - das eigentliche Problem für die Gesamtwirtschaft - ihre Kreditlinien. Nicht aus bösem Willen, sondern weil der Abschreibungsbedarf auf frühere Kredite und das Fiasko Investmentbanking sie in vielen Fällen dazu zwingt. In der Versicherungswirtschaft spricht man offen von drohenden Konkursen, was den katastrophalen Gesamteindruck nur noch bestätigt.
In dieser Situation kann es nicht darum gehen, die Bundesregierung dafür zu kritisieren, dass sie die Krise nicht beseitigt. Genausowenig hat sie die Krise zu verantworten. Es nützt ihr aber auch nichts, auf die fehlenden oder völlig widersprüchlichen Politikangebote der Opposition zu verweisen. Die Bundesregierung ist allein an ihrem Krisenmanagement zu messen. Ob sie also, selbst wenn sie das Tabuwort der Deflation nicht benutzt, aus der richtigen Analyse heraus einen konsequenten Politikansatz vertritt. Davon kann zur Zeit nicht die Rede sein. Positiv ist zwar die Hinnahme einer höheren Staatsverschuldung und damit auch das Eingeständnis, den europäischen Stabilitätspakt nicht einhalten zu können, aber diese Politik scheint mehr Ausdruck einer Zwangslage zu sein als echter Überzeugung zu entspringen. Was wäre auch die Alternative gewesen? Ein Sparprogramm, das politisch nicht durchsetzbar gewesen wäre und der Deflationspolitik Brünings zu Beginn der dreißiger Jahre geähnelt hätte? Sicher nicht.
Auf dem Weg in die "Liquiditätsfalle"?
Aber die Bundesregierung setzt die falschen Signale. Sie reagiert, wie man es in den vergangenen 20 Jahren gelernt hat. Ein wenig Deregulierung auf dem Arbeitsmarkt (Hartz-Komission), Versprechen auf Bürokratieabbau (man hört die Worte, es fehlt der Glaube) und im Übrigen eine sozialdemokratische Steuerpolitik, die auf sozialen Ausgleich setzt. Mit anderen Worten: höhere Steuern für Unternehmen und höhere Einkommensgruppen. Diese Politik ist unter normalen konjunkturellen Bedingungen stichhaltig und erfolgversprechend - in der gegenwärtigen Lage allerdings kontraproduktiv. Was nützen höhere Unternehmenssteuern, wenn die Unternehmensgewinne auf breiter Linie sinken? Die Aktienmärkte sind schließlich nicht grundlos zusammengebrochen. Was nützen verschlechterte Abschreibungsmöglichkeiten, wenn die Unternehmen dabei sind, Investitionen zurückzustellen und Arbeitsplätze abzubauen? Sie verschärfen eher das Problem, als dass sie für mehr Gerechtigkeit sorgen. Was nützt ein Subventionsabbau für die private Nachfrage, wenn er wie Steuererhöhungen wirkt und die Abgaben- und Steuerquote in die Höhe treibt? Allerdings gibt es für die betroffenen Gruppen durchaus einen Trost: Im Gegensatz zu früher sind viele von ihnen heute selbst von Arbeitslosigkeit bedroht - die Steuererhöhungen werden sie demnächst womöglich kaum noch betreffen.
Es gehört zum wirtschaftspolitischen Smalltalk, Ludwig Erhard mit dem Satz zu zitieren, Wirtschaft sei zu 50 Prozent Psychologie. Dieser Satz ist von brennender Aktualität. Die Bundesregierung darf keine Rhetorik pflegen, die da heißt: "Wir müssen den Gürtel enger schnallen" oder "Wir müssen die Lasten gerecht verteilen". Vielmehr muss sie alles daran setzen, den volkswirtschaftlichen Akteuren neue Zuversicht in die Zukunft zu vermitteln. Damit Unternehmen zu der Überzeugung kommen, dass es sich lohnt zu investieren. Und damit Konsumenten ihre Anschaffungen nicht in der Erwartung sinkender Preise und einer ungesicherten Zukunft weiter aufschieben. Wir brauchen Dynamik, um jene psychologische Situation zu vermeiden, die John Maynard Keynes "Liquiditätsfalle" nannte. Damit ist nichts anderes gemeint, als dass sich eine Volkswirtschaft an die Krise gewöhnt - mit den Folgen hoher Arbeitslosigkeit, hoher Haushaltsdefizite und zunehmender sozialer Ungleichheit. Wer wollte, konnte dieses Problem in Japan nun bereits seit zehn Jahren beobachten. Vor allem aber zeigt der Fall Japan, welche katastrophalen Folgen es hat, auf eine drohende Deflation mit der falschen Politik zu reagieren. Selbst Norbert Walter, Chefvolkswirt der Deutschen Bank, warnt schon seit längerem (zuletzt in der Financial Times Deutschland vom 18. Oktober 2002) vor der Deflationsgefahr - sicher niemand, der sich in der Vergangenheit keynesianischer Umtriebe verdächtig gemacht hat.
Die CDU verstehen nur geschulte Dialektiker
Dabei muss die Bundesregierung gar nicht soviel ändern. Sie kann ihre Subventionskürzungen beschließen, wenn sie zugleich die zweite und dritte Stufe der Steuerreform vorzieht. Es wäre ein Signal zugunsten einer expandierenden Volkswirtschaft und eine Absage an die Vorzüge einer schrumpfenden Ökonomie. Allerdings müsste der Bundeskanzler dann offensiv einräumen, dass sein Argument aus dem Wahlkampf ("Sparen zugunsten zukünftiger Generationen") heute flexibel interpretiert werden muss. Gefahr von Seiten der Opposition bräuchte er dabei nicht zu befürchten: Merkel, Stoiber & Co. haben sich heillos in einem Gestrüpp aus Neoliberalismus, Keynesianismus und viel Stabilitäts-Waigelismus verstrickt - das ganze noch verbunden mit der "Warnung vor dem schwachen Euro", der mit Stoibers Vorschlag zugunsten einer expansiven Haushaltspolitik zur Bewältigung der Hochwasserkatastrophe die Gemüter komplett verwirrt hat. Wer die Opposition zu verstehen hofft, muss schon ein besonders geschulter Dialektiker sein. Von denen gibt es immer weniger. Deshalb braucht sich Schröder vor der Dame und ihren Herren nicht zu fürchten.
Warum Keynes nicht vulgär sein muss
Für einen aus der Situation heraus angemessenen Keynesianismus ist allerdings Mut nötig. Man muss sich in Europa von einem Stabilitätspakt verabschieden, der eine Erfindung Theo Waigels und der alten Bundesbank gewesen ist. Der Euro war schon zu Beginn der Debatte wenig überzeugend (wozu 1997 der heutige Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin in seinem Buch Der Euro: Chance oder Abenteuer intelligente Anmerkungen gemacht hat). Er war eher Ausdruck deutscher Idiosynkrasien als ein wirkungsvolles politisches Argument zugunsten einer stabilen Währung. Man muss zugleich den Rückfall in einen Vulgärkeynesianismus vermeiden, wie ihn (nicht nur) die britische Labourparty als Antwort auf die Krise der Jahre 1973/74 praktizierte. In dem Kontext wirkt es einigermaßen befremdlich, ausgerechnet Helmut Schmidt für sein Krisenmanagement der siebziger Jahre zu kritisieren, wie es der Grüne Oswald Metzger wiederholt getan hat (etwa in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 20.10.2002). In Deutschland hat es die Politik, die Metzger kritisiert, nie gegeben. Vielmehr hatte Schmidts "modernes Deutschland" in den siebziger Jahren unter allen Industrienationen die beste Bilanz aufzuweisen. Es kann nicht schaden, darauf wieder einmal hinzuweisen. Allerdings darf dann auch hinzugefügt werden, dass Helmut Schmidts Kritik an den betonierten Strukturen des deutschen Sozialstaates und dessen ausufernder Bürokratie berechtigt ist.
Den größten Widerstand gegen einen angemessenen Keynesianismus werden jedoch die dogmatischen Neoklassiker leisten. Sie verhalten sich heute ganz so wie ihre im Geiste gleichen Kollegen Keynesianer in den siebziger Jahren. Man nimmt die Realität, und damit veränderte ökonomische und soziale Rahmenbedingungen, nicht zur Kenntnis, sondern schützt sein Dogma sorgsam vor der Wirklichkeit. Das Dogma der Neoklassiker ist schnell erklärt: Erstens, es gibt keinen Kapitalismus; zweitens, weil es keinen Kapitalismus gibt, gibt es auch keine Wirtschaftskrisen; drittens, wenn es doch Krisen gibt, sind der Staat (zu verschwenderisch) und/oder die Gewerkschaften (zu gierig) schuld. Daraus folgt, viertens, dass reine Marktwirtschaften a priori krisenfrei sind. Wenn nur die Löhne flexibel genug, der Staat zurückhaltend genug und Unternehmen reich genug sind, kann es keine Krise geben - womit wir, fünftens, wieder bei erstens sind.
Der Widerstand gegen eine situationsgerechte Politik ist nicht nur interessengeleitet. Gerade die Erfahrung mit der Weltwirtschaftskrise in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts lehrt, dass festgefügte Weltbilder und Lehrmeinungen situationsangemessener Politik bisweilen größeren Widerstand entgegensetzen als materielle Interessen. Wenn die Bundesregierung heute bewusst und gut begründet ein hohes Staatsdefizit zulässt, wird sie ähnliche Erfahrungen machen wie Roosevelt im Amerika der dreißiger Jahre. Eine Politik der mutigen Experimente musste damals gegen erbitterten Widerstand nicht nur des Supreme Court durchgesetzt werden. Aber es lohnte sich. Bei Roosevelt ist der Begriff epochal nämlich berechtigt. Bei Brüning übrigens auch. Wir werden sehen, für wen man sich entscheidet.