Es geht nicht allein um Musik und Filme
„Was ist überhaupt das Problem?“, fragte SZ-Redakteur Dirk von Gehlen kürzlich in einem Artikel zur Urheberrechtsdebatte. Denn empirisch ist ein Zusammenhang zwischen Umsatzrückgängen und illegalen Downloads keineswegs belegt. Umso stärker sind die gefühlten Ungerechtigkeiten im sich digitalisierenden Kulturbetrieb, wie die jüngsten emotionalen Einlassungen belegen – von Sven Regeners „Wutrede“ im Bayerischen Rundfunk bis zum Brief der 51 Tatort-Autoren. Tatsächlich gibt es nicht nur ein Problem, sondern gleich mehrere Probleme rund um Internet und Urheberrecht, die in der Debatte teils vermischt, teils ausgeblendet werden. Grundvoraussetzung für die Formulierung einer sozialdemokratischen Urheberrechtsposition ist es deshalb, sich dieser verschiedenen Problemkreise bewusst zu werden, um dann entsprechend differenzierte Lösungswege aufzeigen zu können.
Mindestens drei Problemkreise lassen sich identifizieren: erstens, ein Urheberrecht, dessen Alltagstauglichkeit und damit Akzeptanz im Schwinden begriffen ist; zweitens, neue Distributions- und Nutzungsweisen, denen keine neuen Vergütungsmodelle gegenüberstehen; und drittens, ungenutzte Potenziale alternativer Lizenzmodelle wie „Creative Commons“, vor allem auf dem Gebiet von Bildung und Wissenschaft.
Erstens: Die fehlende Alltagstauglichkeit des Urheberrechts zeigt sich daran, dass selbst medienkompetente Internetnutzer laufend gefährdet sind, Urheberrechte zu verletzen. Ein Handy-Video von der letzten Geburtstagsparty auf Facebook verletzt das Urheberrecht, wenn im Hintergrund urheberrechtlich geschützte Musik zu hören ist – und urheberrechtlich geschützt ist bis 2016 auch der Klassiker „Happy Birthday to You“. Der Anwalt Christian Solmecke schätzt den Abmahnwert einer „durchschnittlichen Facebook-Pinnwand eines 16-Jährigen“ auf 10.000 Euro.
Dieser Umstand ist in doppelter Hinsicht problematisch. Einerseits führt er zu Verunsicherung und unterminiert, Abmahnung für Abmahnung, die Legitimität des Urheberrechts bei der Masse der Internetnutzer. Wenn selbst Urheberrechtsexperten uneins darüber sind, ob und wann die Einbettung eines YouTube-Videos in die eigene Webseite eine Rechtsverletzung darstellt, dann ist Frustration bei normalen Anwendern die logische Folge eines unzeitgemäßen Schutzumfangs. Andererseits ist die mit der fehlenden Alltagstauglichkeit verbundene Rechtsunsicherheit auch ein Innovationshindernis, weil viele Features und Dienstleistungen von Internet-Startups den Umgang mit urheberrechtlich geschützten Inhalten erfordern. Ein starres System urheberrechtlicher Schranken ist so mit dem raschen Wandel digitaler Technologien einfach überfordert.
In den Vereinigten Staaten werden beide Probleme durch eine flexible Fair-use-Klausel gemildert: Was die gewöhnliche Verwertung von Inhalten nicht behindert, ist erlaubt. In Europa fehlt eine solche generelle Bagatell-Grenze im Urheberrecht; ein Missstand, den mittlerweile auch Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger anerkennt, wenn sie die Notwendigkeit einer europäischen Rechtsänderung betont. Bis es aber zu einer Änderung des EU-Rechts kommt, ließe sich auch auf nationalstaatlicher Ebene durch Ausdehnung von bestehenden Ausnahmen („Schranken“) die Flexibilität des Urheberrechts erhöhen. So argumentieren die niederländischen Urheberrechtsexperten Bernt Hugenholtz und Martin Senftleben, dass der EU-Urheberrechtskorpus viel mehr Raum für Flexibilität lässt, als die abgeschlossene Liste an zulässigen Beschränkungen und Ausnahmen nahelegen würde.
Der zweite Problemkreis betrifft den vermeintlichen Kern der Auseinandersetzung ums Urheberrecht, nämlich den Dateitausch zwischen Privatpersonen („Filesharing“) und illegale Streamingseiten wie kino.to. Während letztere einen klaren Fall gewerbsmäßiger Urheberrechtsverletzung darstellen und deren Betreiber auch auf Basis bestehenden Rechts strafrechtlich belangbar sind, ist die Situation beim Filesharing zwischen Privatleuten nicht so einfach. Unabhängig davon, ob es überhaupt gesellschaftlich wünschenswert ist, Filesharing komplett zu unterbinden, stellt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der dafür notwendigen Grundrechtseingriffe. Ohne massiven Ausbau und Einsatz von Überwachungstechnologien ist eine flächendeckende Rechtsdurchsetzung unmöglich. Demgegenüber stehen durchaus berechtigte Vergütungsansprüche der Kulturschaffenden, die den Löwenanteil der in Tauschbörsen geteilten Inhalte mehr oder weniger unfreiwillig beisteuern.
Einen Ausweg aus diesem Dilemma schlägt Philippe Aigrain in seinem Buch Sharing vor: Mit einer haushaltsbezogenen Abgabe auf Breitband-Internetanschlüsse sollen jene vergütet werden, deren Inhalte in Tauschbörsen geteilt werden. Mit Hilfe digitaler Wasserzeichen und anonymer Nutzungsschätzungen ähnlich der Messung von Fernsehquoten würden in Aigrains Modell die notwendigen Informationen für die Verteilung der Gelder gesammelt werden. Diese Vergütung soll Aigrain zufolge einen substanziellen Beitrag zum Einkommen von Kreativen leisten und sich in der Höhe von etwa zehn Prozent des Umsatzes betroffener Branchen bewegen. Erlaubt wäre demnach der nicht-marktliche Tausch digitaler Inhalte mit Ausnahme von Software zwischen Privatpersonen; kommerzielle Streaming-Dienste wie kino.to blieben jedoch weiterhin verboten.
An Pauschalabgaben führt kein Weg vorbei
Schon einmal wurde in der Geschichte des Urheberrechts ein Konflikt über privates Kopieren mittels eines Systems pauschaler Vergütung entschärft, nämlich mit Einführung einer Pauschalabgabe auf jede verkaufte Leerkassette. Und wenn nicht digitale Freiheiten am Altar umfassender Rechtsdurchsetzung geopfert werden sollen, dann führt auch heute kein Weg an einem pauschalen Vergütungsmodell vorbei.
Am wichtigsten und gleichzeitig am wenigsten diskutiert ist der dritte Problemkreis rund um ungenutzte Potenziale alternativer Lizenzmodelle, allen voran von Creative-Commons-Lizenzen. Diese setzen zwar auf dem bestehenden Urheberrecht auf, räumen Dritten aber in standardisierter Art und Weise Rechte ein, beispielsweise die Adaptierung und Weiterverbreitung, die diesen ansonsten vorenthalten blieben. Creative-Commons-lizenzierte Inhalte lassen sich deshalb problemlos in private Blogs einbinden, über Tauschbörsen verbreiten und, je nach Lizenzmodul, auch miteinander kombinieren und remixen.
Für viele, vor allem etablierte Kulturschaffende ist Creative Commons bislang jedoch noch keine Option, weil Verwertungsgesellschaften wie die GEMA eine Nutzung von Creative Commons selbst für ausgewählte Werke verbieten. Solange sich die Verwertungsgesellschaften hier nicht bewegen, haben es neue, Creative-Commons-basierte Geschäftsmodelle schwer.
Noch größer ist der potenzielle Nutzen von offenen Lizenzen aber im Bereich von Bildung und Wissenschaft – und auch in diesem Bereich hinkt Deutschland hinterher. Im Wissenschaftssektor bemühen sich zwar die großen Wissenschaftsverbände wie die Max-Planck-Gesellschaft oder die Deutsche Forschungsgemeinschaft um eine Stärkung offener Publikationsformen („Open Access“), gesetzgeberische Unterstützung allerdings fehlt bislang. So bleibt es dabei, dass größtenteils öffentlich finanzierte Forschung von öffentlich finanzierten Bibliotheken zurückgekauft wird, obwohl die Qualitätssicherung in Form von Peer-Review auch durch die öffentlich finanzierte Forschungsgemeinde erfolgt. Ein unabdingbares Zweitveröffentlichungsrecht würde es Wissenschaftlern ermöglichen, ihre Ergebnisse zusätzlich zur für die Karriere notwendigen Zeitschriftenveröffentlichung noch auf Universitätsservern allgemein zugänglich zu machen. Noch besser wäre es, von vornherein die Publikation in Open-Access-Zeitschriften zu fördern, die ihre Inhalte unter einer Creative-Commons-Lizenz veröffentlichen.
Besonders düster ist die Situation schließlich im Bildungsbereich. Während in vielen Ländern sowohl private als auch staatliche Initiativen unter dem Label „Open Educational Ressources“ (OER) die Verwendung offener Lizenzen im Bildungsbereich propagieren, ist Deutschland ein nahezu weißer Fleck auf der OER-Landkarte. Im Gegenteil, die restriktive Gestaltung und Auslegung von urheberrechtlichen Schranken führen dazu, dass Lehrende auch in geschlossenen Benutzergruppen nicht mehr als drei (!) Seiten eines Lehrbuchs digital zur Verfügung stellen dürfen.
Die Chancen der Digitalisierung für Lehren und Lernen bleiben ungenutzt. Denn was nützt Digitalisierung von Schulbüchern, wenn weiterhin Zugangsschranken einer einfachen Nutzung und Vergleichbarkeit im Wege stehen? Was bringt die leichte Modifizierbarkeit digitaler Lehrunterlagen, wenn Überarbeitungen nicht mit Kollegen geteilt werden können?
Voraussetzung für das Ausschöpfen der Potenziale von Internet und Digitalisierung ist ein Systemwechsel im Bereich von Lehr- und Lernmittelfinanzierung hin zur Verwendung offener Lizenzen und offener Formate. Zahlreiche Universitäten auf der ganzen Welt haben sich inzwischen diesem Ansatz verschrieben und sich im Open Courseware Consortium zusammengeschlossen – eine deutsche Universität findet sich bislang unter den mehr als 100 Mitgliedern allerdings nicht.
Hinzu kommt, dass ein solcher Umstieg auf offene Lizenzen auch im Bildungssektor zu neuen Geschäftsmodellen führen kann, wie das Beispiel des Anbieters von offenen Lehr- und Lernunterlagen „Flat World Knowledge“ belegt. Dieser bietet Creative-Commons-lizenzierte Lehrbücher online kostenlos an und verdient am Verkauf von Printversionen beziehungsweise Dienstleistungen.
Während das amerikanische Bildungsministerium der Regierung Barack Obama gemeinsam mit Creative Commons die Ideen offener Lehr- und Lernunterlagen propagiert, sind diese in Deutschland auf politischer Ebene noch kaum ein Thema. Nicht zuletzt deshalb wäre eine Bewegung der Urheberrechtsdebatte weg von Musik und Filmen hin zu Bildung und Forschung schon ein erster Schritt zur Lösung der hier skizzierten Probleme. Für die Sozialdemokratie wäre damit die Chance verbunden, ihre traditionelle Forderung nach einem freien Bildungszugang in Form der digitalen Lernmittelfreiheit zu aktualisieren.