Es ist Zeit für eine große Geschichte

In der Bildung liegt die Zukunft. Denn nur eine Gesellschaft, die allen Bürgern immer wieder die Chance gewährt, ihre Begabungen zu entwickeln, wird eine erfolgreiche, lebensfähige und vor allem überlebensfähige Gesellschaft bleiben

Der erfolgreiche Volksentscheid in Hamburg gegen die Einführung sechsjähriger Primarschulen hat es im nun ablaufenden Jahr wieder eindrucksvoll gezeigt: Einer Reform des gegliederten Schulwesens in Deutschland stehen noch immer große Hindernisse gegenüber. Im Rückblick wird deutlich, dass die Geschichte von Schulreformen in Deutschland auch immer eine Geschichte politischer Niederlagen war. Denn kaum ein Thema war und ist so geeignet, in weiten Teilen der Bevölkerung Emotionen zu aktivieren und Ressentiments zu schüren.

Spätestens mit Georg Pichts Rede von der „Deutschen Bildungskatastrophe“ und Ralf Dahrendorfs Credo „Bildung als Bürgerrecht“ bekamen schulpolitische Reformdebatten in den sechziger Jahren vermehrt den Charakter ideologischer Auseinandersetzungen. Seitdem ist jeder Schulkampf in Deutschland auch immer ein Stück Kulturkampf gewesen. Der prominenteste, mit den Hamburger Ereignissen vergleichbare Fall war ein spektakuläres Volksbegehren in Nordrhein-Westfalen gegen einen längeren gemeinsamen Unterricht aller Schüler Ende der siebziger Jahre. Der historische Rückblick zeigt, dass die Mechanismen, die Bildungsreformen heute erschweren, keine neuen Erscheinungen sind. Damals war es die sozial-liberale Landesregierung unter SPD-Ministerpräsident Heinz Kühn, die vor dem geballten, von CDU und Kirchen befeuerten Volkszorn kapitulierte und ihre schulpolitischen Reformpläne zurückzog. In Hamburg war es die schwarz-grüne Regierung unter Ole von Beust, die in der Schulpolitik die Segel streichen musste.

Wie das Hamburger Beispiel zeigt, ist seit den siebziger Jahren aber zumindest in der parteipolitischen Sphäre Bewegung in die verhärteten Fronten zwischen Reformern und Bewahrern gekommen. Allerdings unterstreicht der Erfolg des Volksbegehrens auch die nachlassende Integrationskraft der Parteien: Das Gros der Unterstützer kam aus einem klassisch konservativ-bürgerlichen Milieu und hatte zwei Jahre zuvor für eine schwarz-grüne Mehrheit in der Bürgerschaft gesorgt. Die regierende Koalition hat es folglich nicht geschafft, die eigene Klientel von ihren schulpolitischen Reformplänen zu überzeugen.

Die Angst des Bildungsbürgertums

Hingegen ist die soziale Zusammensetzung der Reformgegner im Vergleich mit den siebziger Jahren weitgehend unverändert geblieben. Es handelt sich in erster Linie um Eltern von Gymnasiasten (und in einigen Fällen von Realschülern), die selbst hohe Ausbildungsabschlüsse haben und nicht selten als Studienräte und -direktoren zusätzlich beruflich mit dem System verquickt sind. Dieses Bildungsbürgertum eint die Angst um ihre Kinder. Es ist ja auch kaum verwunderlich, wenn diese selbst erfolgreichen Eltern alles dafür tun, ihren Nachkommen ein ebenso erfolgreiches Leben zu ermöglichen, das nun einmal mit einer soliden Schulbildung beginnt. Gleichzeitig mischt sich in das übergenerationelle Statusdenken eine gehörige Skepsis gegenüber der Politik, die – nicht zu Unrecht – ein Nimbus des Wankelhaften und Unausgegorenen umgibt. Das Schlagwort „Keine Experimente“ gehörte nicht von ungefähr in das Vokabular noch jedes Schulkampfes in der deutschen Geschichte.

Und es gibt eine weitere Konstante: Die Gegner von Schulreformen verschließen gern die Augen vor der Realität. Sie denken kleinteilig auf sich und ihre Kinder bezogen und drohen dabei größere Zusammenhänge aus den Augen zu verlieren, welche die Zukunft ihrer Kinder nicht weniger gefährden als die individuelle Schulbildung. Bereits zu Beginn der siebziger Jahre warnten Bildungsforscher und -politiker vor den demografischen Verschiebungen der kommenden Jahrzehnte. Diese sind mittlerweile in Form von Facharbeiter- und Akademikermangel längst spürbar und werden in den kommenden Jahren immer dramatischere Formen annehmen. Durch die voranschreitende Prekarisierung ganzer Bevölkerungsschichten wird diese Entwicklung weiter verschärft. Die viel beschworene soziale Schere, meist nur in der Dimension von „Arm und Reich“ wahrgenommen, existiert eben auch im Bildungsbereich. Auf der einen Seite stehen hier die privilegierten Kinder aus bildungsaffinen Elternhäusern, deren Weg auf das Gymnasium oder, noch besser, auf eine Privatschule fester Teil der elterlichen Lebensplanung ist. Auf der anderen Seite erschwert das gegliederte Schulwesen Kindern aus bildungsfernen Umgebungen den Einstieg und erst recht den Aufstieg im System. Schon aus rein ökonomischen Erwägungen kann sich keine Gesellschaft auf Dauer eine solche grundlegende Spaltung leisten.

Viele sind nicht mehr aufstiegswillig

Die Aufgabe der Politik muss es deshalb auch im Bildungssektor sein, mehr Gleichheit zu schaffen. Dabei reicht es aber nicht aus, ständig die Maxime vom „Aufstieg durch Bildung“ zu wiederholen. Diese alte Idee ist im 21. Jahrhundert schon lange nicht mehr das Allheilmittel sozialer Probleme, da sich die Menschen heutzutage nicht ausschließlich mittels Bildung befähigen lassen. Viele sind überhaupt nicht mehr aufstiegswillig, geschweige denn aus eigenem Antrieb dazu in der Lage. Bildung kann nicht losgelöst von sozialen, kulturellen und habituellen Faktoren gesellschaftlicher Gruppen betrachtet werden. Allzu oft scheitert sozialer Aufstieg nicht am Mangel an Bildungsmöglichkeiten, sondern an der Distanz der potenziellen Aufsteiger zu Bildung an sich. Vor allem aber scheitert er an der Abwehrhaltung der im System Etablierten – an der Unfähigkeit und dem Unwillen dieser Gruppe, vorhandenen Bildungswillen zu erkennen, durch geeignete Mechanismen zu fördern und existierende Barrieren zu beseitigen.

Ein fundamentaler Wandel muss her

Dieses Dilemma lässt sich nicht kurz- oder mittelfristig mithilfe konkreter politischer Reformen beseitigen, sondern erfordert einen fundamentalen gesellschaftlichen Haltungswandel. Wir brauchen eine neue „Große Geschichte“, die von den Möglichkeiten und Potenzialen unserer Gesellschaft handelt, aber auch ihre existierenden Bedrohungen nicht ausspart. Über die Tagespolitik hinaus muss ein inhaltliches Konzept erarbeitet  werden, das langfristige Entwicklungen berücksichtigt, sichtbar macht und gleichzeitig tragfähige Lösungsansätze formuliert. Schulpolitische Argumentationen müssen sich von den alten Sachzwanglogiken befreien, die in der Öffentlichkeit meist als versteckte Begründungen für Kosteneinsparungen aufgefasst werden. An ihre Stelle muss eine gesellschaftspolitische Argumentation treten: In der Schulpolitik geht es um nicht weniger als die Zukunftsfähigkeit unseres Gemeinwesens.

 Adressat solch einer Geschichte müssen alle Bürger sein, im konkreten Fall aber vor allem jene Gruppen, die sich mit ihrem Statusdenken bisher dem Gedanken widersetzen, gesellschaftliche Aufstiegskanäle zu schaffen oder wiederzubeleben. Hierzu zählt es zweifellos, eine grundlegende Reform des gegliederten, selektiven Schulsystems zu blockieren, das in seiner jetzigen Form dazu beiträgt, die Befähigung weniger privilegierter Schichten zu verhindern. Jedoch steht einem überspannenden bildungspolitischen Gesamtkonzept die politische Wirklichkeit im Weg. In nur wenigen Ländern der Welt ist die politische Landschaft so kleinteilig, so zersplittert, so heterogen wie in Deutschland. Wo jede Landesregierung ihre eigene politische Linie in Schulfragen verfolgt, wird sich bei den Betroffenen kaum Vertrauen einstellen, schließlich riecht dann jeder Reformversuch von vorneherein nach Stückwerk und Dilettantismus, der spätestens nach der nächsten Wahl wieder zurückgenommen oder modifiziert wird. Von einer gesamtstaatlichen Linie in der Schulpolitik wie in anderen europäischen Staaten ist in Deutschland nichts zu spüren.

Wer aber kann dann der Erzähler jener „Großen Geschichte“ werden? Es wäre im besten Sinne Aufgabe sozialdemokratischer Politik, denn es geht um die Ur-Themen dieser Partei: Gerechtigkeit, Gleichheit, Aufstieg. Was für die Sozialdemokratie im vergangenen Jahrhundert noch die „Große Geschichte“ vom Sozialstaat mit seiner immensen gesellschaftlichen Integrationswirkung war, muss wiederbelebt und auf die Bildungspolitik und besonders auf die Schulpolitik erweitert werden.

Schulpolitik ist eine nationale Frage

Umso verwunderlicher ist, dass das Thema Schulpolitik auf Ebene der Bundespartei allenfalls ein Nischendasein fristet. Gewiss, es gibt in der deutschen Sozialdemokratie fachlich versierte Schulpolitiker, die erfolgreiche, behutsame Reformpolitik betreiben. Aber das Problem der Zersplitterung bleibt. Es handelt sich eben um Landespolitik; die Wortführer und Reformer bleiben Landespolitiker. Eine den gleichen Prinzipien verpflichtete Schulpolitik in den Ländern muss von einer übergreifenden Instanz auf Bundesebene sekundiert werden. Ein wichtiger Schritt hin zu einer neuen verantwortungsvollen Schulpolitik wäre deshalb die Stärkung der Bundeskompetenzen im Bildungsbereich. Denn nur durch die Möglichkeit, verbindliche, bundesweite Leitlinien in der Schulpolitik vorzugeben, ließe sich Qualität, Vergleichbarkeit und vor allem Vertrauen in der Bevölkerung herstellen und sichern. Gerade die unübersichtliche Bildungsheterogenität in der Bundesrepublik trägt nämlich massiv dazu bei, die Menschen zu verunsichern und ihre Reformaversionen zu verstärken. Bildungspolitische Kompetenzen zurückzuerobern dürfte dabei zur Herkulesaufgabe in diesem Prozess werden, da die Länder kaum freiwillig auf ihre Eigenständigkeit verzichten werden.

Die Zukunft bleibt gestaltbar

Fest steht auch, dass es gelingen muss, die bisherigen Blockierer einer progressiven Schulpolitik von ihren konservativen, häufig ja nur reflexhaften Ressentiments abzubringen. Dabei lassen sich die gesellschaftlichen Bildungseliten nicht mit Durchregieren nach Brechstangenmethode und oktroyierten Reformen überzeugen. Ihre Statusängste, projiziert auf den eigenen Nachwuchs, müssen ernst genommen werden. Gleichzeitig sollten gerade diese gesellschaftlichen Gruppen zugänglich sein für gute Argumente. Sie können davon überzeugt werden, dass es auch für ihren Nachwuchs besser ist, in einer gerechteren weil egalitäreren Gesellschaft zu leben. Und wo ließe sich eine solche Gesellschaft am ehesten anlegen, wenn nicht bei der Ausbildung ihrer Kinder? Nur eine Gesellschaft, die allen Bürgern immer wieder die Chance gewährt, ihre Begabungen zu entwickeln, kann eine erfolgreiche, lebenswerte und vor allem überlebensfähige Gesellschaft bleiben.

Das aktuelle Scheitern schulpolitischer Reformmaßnahmen darf nicht dazu führen, dass die progressiven Kräfte wieder in den gleichen Attentismus zurückfallen wie vor dreißig Jahren. Eine grundlegende Reform des Schulwesens ist möglich. Diese Geisteshaltung muss wieder zur Triebfeder sozialdemokratischer Bildungspolitik werden, so wie sie es in den sechziger und siebziger Jahren schon einmal war – getragen von einem starken Zukunftsoptimismus und dem Glauben an die politische Gestaltbarkeit unserer Gesellschaft. «

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