Europa stellt sich seiner Verantwortung
Lange Zeit wurde Europa vorgeworfen, Afrika zu vernachlässigen. In der Tat war es um außenpolitische Konzepte und internationale Verantwortung für diesen Kontinent lange Zeit schlecht bestellt. Der Völkermord in Ruanda im Jahr 1994 ist dafür ein erschütterndes Beispiel. Der europäischen Öffentlichkeit haben sich die Ereignisse im Kongo während des vergangenen Jahrzehnts eingeprägt: der Sturz Mobutus, die Machtübernahme L. D. Kabilas und vor allem der Bürgerkrieg, der durch dramatische Menschenrechtsverletzungen und eine humanitäre Katastrophe gekennzeichnet war.
Aus dem Blick geraten ist dabei die Tatsache, dass sich der Kongo seit dem Waffenstillstand im Jahr 2001 in einem systematischen Übergangsprozess befindet, der von den ehemaligen bewaffneten Gruppen, der politischen Opposition und der Zivilgesellschaft begleitet wird. Diese Entwicklung wird von der internationalen Gemeinschaft durch eine Vielzahl von Maßnahmen unterstützt. Dazu gehört die Rückführung von ehemaligen Kämpfern in die Zivilgesellschaft. Rund 90.000 Soldaten wurden demobilisiert, ehemalige Kindersoldaten wurden mit ihren Familien zusammengeführt. Die militärische Präsenz der UN zeitigt mittlerweile vorzeigbare Erfolge. Zu nennen sind daneben Ausbildungsunterstützung, die EU-Polizeiberatermission EUPOL und konkrete Hilfe bei der Vorbereitung der Wahlen. Zudem wurde eine Verfassung verabschiedet. Schließlich trat am 9. März 2006 das Wahlgesetz in Kraft. Damit wurde die Vorraussetzung für Wahlen in diesem Jahr geschaffen. Zum ersten Mal nach fast fünf Jahrzehnten wollen die Bürgerinnen und Bürger des Kongo ihre Parlamente und ihren Präsidenten frei wählen.
In dieser Situation traf Ende Dezember 2005 ein Brief der Vereinten Nationen in Brüssel ein und zwingt Europa, Position zu beziehen. Es geht darum, eine weitere Etappe im Demokratisierungsprozess in der Demokratischen Republik Kongo (DRC) nach dem Bürgerkrieg erfolgreich zu meistern. Der EU-Ministerrat vereinbarte, die Wahlen durch die Präsenz europäischer Soldaten abzusichern. Nach dem Willen der Bundesregierung soll die Bundeswehr ein Drittel des Truppenkontingents stellen und die Leitung der Operation übernehmen. Der Bundestag wird Anfang Mai entscheiden.
Der europäische Beschluss ist konsequent. Denn die Europäische Union ist seit vielen Jahren politisch im Kongo aktiv. Allein von 2002 bis Ende 2005 förderte Europa den Wiederaufbau des Kongo mit 440 Millionen Euro, weitere 500 Millionen sind vorgesehen. Für die erforderliche Infrastruktur der Wahlen, die Ausbildung der Wahlhelfer und die Wahlregistrierung investierte die EU 140 Millionen.
Die Entwicklungspolitiker sind sich einig
Deutschland hat den bisherigen Friedensprozess sowohl bilateral als auch über die EU und die Vereinten Nationen gefördert. Wir unterstützen nicht nur den kongolesischen Versöhnungsdialog und den Wahlprozess, sondern auch Projekte auf dem Gebiet der Menschenrechte sowie Programme der Weltbank zur Entwaffnung und Reintegration von Soldaten. Wir fördern die Entwicklungszusammenarbeit und leisten humanitäre Hilfe. Nicht ohne Grund hat sich die Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit für einen Militäreinsatz ausgesprochen. Auffallend ist zudem, dass in allen Bundestagsfraktionen – außer in der Fraktion der PDS/Linkspartei – vor allem die Entwicklungspolitiker mit Leidenschaft für diesen Einsatz streiten. Sie sehen ihn als Fortsetzung der zivilen Anstrengungen und als konsequente Umsetzung einer Außen- und Sicherheitspolitik, die Ende der neunziger Jahre konzipiert wurde.
Bereits im Jahr 2003 waren europäische Truppen, auch die Bundeswehr, im Rahmen der ARTEMIS-Mission in der kongolesischen Region Ituri. ARTEMIS hat der Bevölkerung deutlich mehr Sicherheit gebracht. Vor allem die Franzosen, die den Einsatz in Bunia trugen, feierte die Zivilbevölkerung wie Helden. ARTEMIS hatte eine positive psychologische Wirkung weit über das eigentliche Mandatsgebiet hinaus. Der jetzt geplante Einsatz ist ähnlich konzipiert – zahlenmäßig beschränkt, zeitlich und räumlich begrenzt – und soll folgerichtig „ARTEMIS II“ heißen.
Das Land ist des Krieges überdrüssig
Fest steht: Die Bevölkerung des Kongo will nach mehr als vier Jahrzehnten endlich demokratisch wählen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der internationalen Organisationen, welche die Wahlen vorbereiten, zeigen sich beeindruckt von der Aufbruchstimmung und der emotionalen Dimension des Prozesses. Manche Menschen legten zu Fuß mehr als 100 Kilometer zurück, um sich in die Wahlverzeichnisse einzutragen. Mehr als 25 Millionen Kongolesen haben sich unter internationaler Kontrolle registrieren lassen. Das Land und seine Bevölkerung sind des Krieges mehr als überdrüssig. Man versteht die Wahl als Schritt zu einer demokratischen Entwicklung, zu wirtschaftlichem Fortschritt, zur Teilhabe des Volkes am Reichtum des Landes.
Dieser Prozess spielt sich in einer Post-conflict-Situation ab, die nicht frei ist von Risiken. Die politischen Kräfte streiten um Details wie Verfahren und Abläufe; Oppositionelle fühlen sich benachteiligt und tun dies gelegentlich aggressiv kund; bei Demonstrationen kam es zu Überreaktionen der Polizei und zu Verhaftungen; wie viele ehemalige Soldaten tatsächlich entwaffnet wurden, ist unbekannt; der Aufbau demokratischer Streitkräfte und die Ausbildung der Polizei lassen noch zu wünschen übrig, auch weil die Sicherheitskräfte mangelhaft bezahlt werden.
Auch die Sicherheitslage im Osten des Landes, wo noch Rebellen agieren, bleibt weiterhin labil, wenngleich die Aufständischen die Wahlvorbereitungen nicht entscheidend stören. Ein Risiko stellen zudem die bewaffneten Garden der konkurrierenden Präsidentschaftsbewerber dar, sollte der gewünschte politische Erfolg nicht eintreten. Kabila selbst verfügt über eine rund 14.000 Mann starke, jedoch private Miliz, deren Kämpfer allerdings vergleichsweise schlecht ausgerüstet und ausgebildet sind. Kurzum: Die Lage ist ruhig, aber keineswegs stabil.
Die Kongolesen haben immensen Respekt vor gut trainierten und modern ausgerüsteten Soldaten. Nicht ein einziges Mal haben kongolesische Truppen in den letzten 40 Jahren europäische Einheiten angegriffen. Eine kleine, gut sichtbare EU-Truppe könnte daher eine große Wirkung entfalten. Optimisten gehen davon aus, dass der Prozess der Wahl ruhig ablaufen wird. Warum? Weil die Wahlen jetzt vor den Augen der Weltöffentlichkeit stattfinden und weil die Bevölkerung den Willen zur Durchsetzung ihres demokratischen Wahlrechtes hat. Wer diesen Prozess boykottiere, so glauben die Menschen, der müsse scheitern.
Für die Handlungsfähigkeit Europas
Nennenswerte wirtschaftliche Interessen verfolgt die deutsche Politik im Kongo nicht. Dennoch sollte der Bundestag einem Bundeswehreinsatz im Kongo zustimmen. Denn es liegt im deutschen Interesse, in einem strategisch wichtigen Land in Afrika Demokratie und Entwicklung zu fördern. Europäische Politik muss in Afrika Perspektiven entwickeln, wie nicht zuletzt die Fernsehbilder der afrikanischen Flüchtlinge deutlich machen, die über das Mittelmeer und den Atlantik Europa zu erreichen versuchen.
Ziele deutscher Außenpolitik sind unter anderem die Stärkung der Vereinten Nationen sowie die Entwicklung einer europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Die Anfrage aus New York bietet nun die Gelegenheit, beide Ziele zugleich zu verfolgen: So geht der Hilferuf an Europa darauf zurück, dass eine personelle Aufstockung der MONUC-Operation im Sicherheitsrat keine Mehrheit fand. Über ein Mandat für den europäischen Einsatz würden die Vereinten Nationen nun indirekt gestärkt. Gleichzeitig würde Deutschland einen wichtigen Beitrag zur Handlungsfähigkeit Europas leisten.
Die Entscheidung des Bundestages für den Einsatz wäre auch aufgrund der bisherigen „Investitionen“ folgerichtig: Deutschland betrachtet für seine zukünftige Außenpolitik das Militärische als einen kleinen, gelegentlich aber wichtigen Baustein. Weil der Kongo sicherheitspolitisch ein failed state im klassischen Sinn ist, bildet der Wahlprozesses einen Beitrag zum nation building.
Dass ein Auslandseinsatz der Bundeswehr hierzulande Diskussionen auslöst, ist ebenso nachvollziehbar wie legitim. Die Vorbehalte waren zunächst groß und lagerübergreifend. Inzwischen sind sie allerdings etwas leiser geworden. Dennoch: Nicht jeder Einwurf war falsch. Bedenken etwa, wir würden uns im Kongo „nicht auskennen“, sind sicher gute, wenn auch keine bestechenden Argumente. Schließlich lautete ein zentraler Vorbehalt gegen den Einsatz der Bundeswehr auf dem Balkan, dass wir uns dort gut auskannten. Im Übrigen gelten die SFOR- und KFOR-Einsätze heute durchaus als erfolgreich, auf dem Balkan wurde das Prinzip der zivil-militärischen Zusammenarbeit als neuartiges Paradigma einer zeitgemäßen Sicherheitspolitik praktisch entwickelt. Dazu kommt: Auch in Afghanistan und am Horn von Afrika kannten wir uns nicht aus – von Südostasien ganz zu schweigen. Und auch diese Einsätze gelten heute als Erfolge, zu denen die Bundeswehr beachtlich beigetragen hat.
Was gute Truppen bewirken können
Manche fragen sich, ob 1.500 Soldaten im Kongo – einem Land von der Größe Westeuropas – wirklich die Sicherheit erhöhen können. Tatsächlich jedoch bewirken gut ausgebildete Truppen an der strategisch richtigen Stelle auch in zahlenmäßig geringer Aufstellung einiges – zumal vor dem Hintergrund der Präsenz von 17.000 Blauhelmen in dem Land. In der Hauptstadtregion werden sie eine sinnvolle Ergänzung der internationalen Sicherheitskräfte darstellen, die überwiegend im Osten des Landes stationiert sind. Die europäischen Soldaten werden eine klar definierte Aufgabe haben: Die Wahl abzusichern, den Menschen am Wahltag ein Sicherheitsgefühl zu vermitteln und die Regierungsbildung zu garantieren. Kinshasa ist der einzige Ort, von dem eine landesweite Destabilisierung ausgehen könnte. Dort sollten die Truppen mit ihrer Präsenz ein Zeichen setzen.
Ähnlich funktionierte bereits die ARTEMIS-Mission, die sich ebenfalls auf ein kleines Gebiet beschränkte. Wirksam freilich war ARTEMIS über diese Region hinaus: als Signal, dass Sicherheit für die Zivilbevölkerung möglich und wünschenswert ist. Dieses Zeichen hatte auch bei den Milizen eine psychologische Wirkung, wie ich in den Resozialisierungs-Camps des Kongo feststellen konnte.
Europa wird mit dem geplanten Einsatz im Kongo seine Verantwortung für Afrika annehmen. Deutschland hat sich mit der Unterstützung der Ziele der britischen EU-Präsidentschaft klar zu Afrika bekannt, ebenso wie mit zahlreichen bilateralen und multilateralen Anstrengungen. Derzeit vertreten wir die EU in Kinshasa, im kommenden Jahr wird Deutschland sogar die EU-Präsidentschaft innehaben. Nicht nur die Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit bekennt sich zum Thema Afrika, sondern auch der SPD-Fraktionsvorsitzende Peter Struck. Schon als Verteidigungsminister wies Struck immer wieder darauf hin, dass der afrikanische Kontinent in Zukunft wesentlich stärker auf der Tagesordnung deutscher und europäischer Politik stehen wird.
Der Brief aus New York nach Brüssel Ende 2005 verschafft die Chance, endlich eine Afrikapolitik zu betreiben, die diesen Namen verdient. Nach den Wahlen geht es dann im Kongo um die Fortsetzung dessen, was politisch angelegt wurde. Das heißt: Wenn die Soldaten wieder abziehen, müssen die Ärmel erst recht hochgekrempelt werden.