Europa und die Grenzen
Europa wird zwar noch von trennenden Grenzen durchzogen, aber in der Europäischen Union sind sie bereits aufgehoben. Es existiert ein großer Binnenarbeitsmarkt mit rund 220 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die ihren Arbeitsplatz ohne Einschränkung frei in Europa wählen können; auch wenn die Binnenwanderung der Arbeitnehmer innerhalb der EU angesichts vieler sprachlicher Barrieren und aus manch anderen Gründen nicht so stark entwickelt ist wie etwa in den Vereinigten Staaten von Amerika. Die jüngste Beschäftigungskrise in vielen EU-Ländern dürfte allerdings die Integration des Binnenmarktes beschleunigt und die Mobilität erhöht haben. Mit Sicherheit gilt das für junge Leute aus den Ländern, die von der Krise am stärksten betroffen sind und wo langfristig unsichere Berufsperspektiven vorherrschen.
Wer genug verdient, darf hierbleiben
Während in der Europäischen Union die Grenzen fallen und ein großer einheitlicher Raum des Rechts und ein Binnenmarkt für Güter, Dienstleistungen und Arbeitskräfte entstanden ist, sichert Europa seine Grenzen nach außen neu ab.
Diese Grenzen sind allerdings nicht undurchlässig. Für qualifizierte Angehörige von Drittstaaten hat Deutschland seinen Arbeitsmarkt geöffnet – weit mehr als viele andere Länder. Wer an einer deutschen Universität seinen Abschluss gemacht hat und eine angemessene Beschäftigung findet, oder wer hier eine Berufsausbildung abgeschlossen hat und eine Beschäftigung nachweist, kann dauerhaft bleiben. Wer eine Beschäftigung nachweist, bei der er mehr als 46.400 Euro brutto im Jahr verdient, kann dank der EU Blue Card mit seiner Familie einreisen und de facto dauerhaft bleiben. Gesuchte Fachkräfte erhalten auch dann eine EU Blue Card, wenn sie weniger verdienen. Dafür müssen sie ein vergleichbares Gehalt wie inländische Arbeitnehmer bekommen, mindestens jedoch 36.192 Euro im Jahr.
Für die meisten, die nicht zu den qualifizierten Arbeitnehmern aus Drittstaaten gehören, sind die Grenzen Europas jedoch eine abweisende Realität. Die Außengrenze der Europäischen Union ist eine sehr konkrete Grenze für viele Menschen, die nach Europa zuwandern wollen oder hinter dieser Grenze Schutz suchen. Die schrecklichen Bilder kenternder Boote im Mittelmeer sind der dramatische Ausdruck für den Versuch Unzähliger, hinter die europäischen Grenzwälle zu kommen – sei es in Unkenntnis oder unter Nichtachtung der drohenden Lebensgefahr. Diese Schicksale gehen uns zu Herzen.
Klar ist: Wenn Europa eine angemessene Antwort auf die Flüchtlingsströme finden will, kann es das nur gemeinsam und solidarisch tun. Das heutige Verfahren, wonach die Flüchtlinge letztlich in dem Land verbleiben, in dem sie zuerst europäischen Boden betreten haben (es sei denn, sie entziehen sich dieser Regelung durch erneute Flucht oder Migration), wird immer wieder kritisiert.
Eine Alternative wäre ein Quotenmodell. Jüngst hat der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Migration und Integration Wege zu einer fairen „Lasten“-Teilung nach einem solchen Quotenmodell aufgezeigt. Die Berechnung, die unter anderem Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft berücksichtigt, würde aktuell dazu führen, dass Deutschland in etwa so viele Flüchtlinge aufnehmen müsste wie es dies heute bereits tut. Insgesamt wären das 16 Prozent aller in Europa eintreffenden Flüchtlinge. Etwa 20 Länder, darunter Großbritannien und Italien, müssten mehr Flüchtlinge aufnehmen als bisher. Allerdings findet sich für ein solches Quotenmodell, das dem in Deutschland üblichen Verteilungsschlüssel der 16 Bundesländer folgt, gegenwärtig wohl kein Konsens unter den EU-Mitgliedsstaaten.
Diejenigen, die kommen und diejenigen, die größte Anstrengungen auf sich nehmen, um nach Europa zu gelangen, reisen in „gemischten Strömen“, wie der Hochkommissar für Flüchtlinge der Vereinten Nationen es ausdrückt. Flüchtlinge und Arbeitsmigranten sitzen oft im selben Boot auf dem Weg von Afrika, und die Motive dieser sind nicht minderwertiger als die Motive jener. Der Anteil derjenigen, die wegen schlechter wirtschaftlicher Perspektiven ihre Heimatländer verlassen und die eigentlich als Arbeitsmigranten begriffen werden müssen, ist dabei möglicherweise höher als der Anteil derer, die vor politischer Verfolgung oder Krieg flüchten.
Gerade deshalb ist es wichtig, dass wir uns Gedanken über legale Zuwanderungsmöglichkeiten machen. Nicht weil Deutschland oder Europa Fachkräfte braucht, das wäre eine falsche Rationalisierung. Zuwanderung benötigter Fachleute ist ja bereits heute möglich, wenngleich nicht immer ohne Komplikationen. Nein, es muss darum gehen zu verhindern, dass Männer und Frauen wochen- und monatelang über Land reisen, teilweise Wüsten durchqueren, sich großen Gefahren aussetzen und dann unter Lebensgefahr die nicht legale Einreise nach Europa versuchen.
Eine humanitär motivierte Strategie
Die Perspektiven einer legalen Zuwanderung müssen so gestaltet sein, dass sie die europäischen Arbeitsmärkte nicht überfordern und gleichzeitig attraktiv genug sind, um die Zahl derjenigen deutlich zu vermindern, die die lebensgefährlichen Wege beschreiten. Das wäre eine humanitär motivierte Strategie.
Ein Weg könnte sein, denjenigen leichter eine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung zu gewähren, die eine Arbeitsplatzzusage haben. Vielleicht kann man auch einer begrenzten Zahl von Zuwanderern die Einreise zur Arbeitsuche gestatten. Ein solches Konzept gibt es ja bereits: das von der Süssmuth-Kommission einst vorgeschlagene Punktemodell, wie es in vielen Einwanderungsländern, etwa Kanada, schon lange praktiziert wird. Die Vereinigten Staaten wiederum haben für Kandidaten, die an einem Arbeitsvisum interessiert sind und bestimmte Voraussetzungen erfüllen, ein Losverfahren etabliert. Europa wird auf diesem Gebiet von Staaten lernen müssen, die längere Erfahrungen mit der neuzeitlichen Arbeitsmigration haben.
Kein Lohndumping mit Einwanderern
Zahlreiche Studien haben die Auswirkungen der Freizügigkeit in Europa für den europäischen Arbeitsmarkt untersucht. Dabei sind durchaus erstaunliche Erkenntnisse zutage getreten. Vor allem aus Schweden, das seinen Arbeitsmarkt früh geöffnet hat, wird nur selten von Schwierigkeiten berichtet. Eine Ursache dürfte die hohe Tarifbindung der schwedischen Arbeitskräfte sein, die umstandslos auch für die Neuankömmlinge gilt.
Aus diesen Erfahrungen lässt sich auch für die Zuwanderung aus Drittstaaten nach Europa und Deutschland lernen. Wenn es gelänge, in Deutschland zu einem System tarifvertraglich geregelter Arbeitsbeziehungen zurückzukehren; wenn ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn und Branchenmindestlöhne vor Lohndumping schützten; wenn die Zahl der prekären Arbeitsverhältnisse im Rahmen von Werkverträgen zurückgedrängt werden könnte und der Missbrauch der Leiharbeit ebenso; wenn Schwarzarbeit und informelle Beschäftigung effektiv abnähmen, dann könnte Deutschland für Arbeitsmigranten aus Drittstaaten mehr Möglichkeiten anbieten, als sie heute bestehen – ohne dass die heute in Deutschland lebenden Arbeitnehmer darunter zu leiden hätten. Schweden kann hier als Vorbild gelten.
Bei Menschen in den Staaten außerhalb Europas, zum Beispiel in Afrika, muss zudem ein realistisches Bild von den Möglichkeiten für das eigene Leben in Europa entstehen. Ein großzügigerer Umgang mit der Visa-Erteilung könnte einen Beitrag dazu leisten. Eine sicherere Grenze – unterstützt etwa durch das europäische Programm „Intelligente Grenzen“, das ein System zur Erfassung von Ein- und Ausreisedaten von Drittstaatsangehörigen an den Außengrenzen der EU vorsieht – könnte die Bedingung für eine großzügigere Visapraxis sein.
Schauen wir uns die Situation in Europa an und betrachten zum Beispiel die Arbeitslosenstatistik in Deutschland. Mehr als die Hälfte der Langzeitarbeitslosen bei uns hat keinen Schul- und keinen Berufsabschluss. Der heutige Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt, die Zunahme der Beschäftigung in Deutschland geht an denjenigen vorbei, die nicht über ausreichende schulische und berufliche Qualifikationen verfügen. Und die Zahl der Arbeitsplätze, die der deutsche Arbeitsmarkt für Geringqualifizierte bereithält, nimmt stetig ab. Für den künftigen Arbeitsmarkt wird nur noch ein geringer Bedarf an ungelernten Arbeitskräften prognostiziert.
Unterwegs nach Sugarcandy Mountain
Das erlaubt eine bittere, aber realistische Schlussfolgerung: Qualifizierte und gebildete Fachleute aus aller Welt werden in Deutschland Chancen haben. Den vielen Menschen jedoch, die sich auf den Treck oder die Überfahrt nach Europa machen und nicht zu diesen Qualifizierten gehören, dürfte die Integration in den deutschen Arbeitsmarkt nur bei größtem Ehrgeiz und mit größter Anstrengung gelingen. Viele der Arbeitsplätze für Geringqualifizierte finden sich heute in den Schwellenländern und nicht mehr in Deutschland. Vielleicht würde eine bessere Kenntnis der europäischen Wirklichkeit manche Menschen dazu bewegen, doch in ihren Herkunftsländern zu verbleiben und trotz aller Schwierigkeiten weiterhin dort nach Chancen zu suchen. Das geht aber nicht, wenn Europa ein unerfahrbarer Sugarcandy Mountain bleibt – so George Orwells bitterer Spott über diejenigen, die sich ein besseres Leben im Jenseits versprachen, statt vor Ort für bessere Bedingungen zu sorgen.
Auf jeden Fall wird es immer so sein, dass nur diejenigen bleiben können, die die aufgestellten Voraussetzungen erfüllen. Das gilt für Flüchtlinge wie für Arbeitsmigranten. Und das wird auch nicht anders sein, wenn die Voraussetzungen in dem hier erörterten Sinn verändert werden. Allerdings sollte die Praxis immer lebensnah sein. Und das heißt: Wo Integration während der meist langen Dauer der Asylverfahren gelingt, sollte das die richtigen Konsequenzen haben. Wer also eine existenzsichernde Arbeit hat, die Schule oder eine Ausbildung erfolgreich beendet, sollte davon profitieren. Auch andere Änderungen der Lebensumstände sollten sich positiv auswirken. Und nicht – wie es heute oft der Fall ist – eher negativ zu Buche schlagen, weil man ja einst aus anderen Gründen eingereist war.
Die Verfahren zur Überprüfung von Anträgen auf Asyl ziehen sich in Deutschland über lange Zeit hin, wie wohl in vielen anderen Ländern auch. Deshalb ist es richtig, wenn die Antragsteller für die Dauer dieser Verfahren nicht zur Untätigkeit verurteilt werden, sondern frühzeitig eine Arbeitserlaubnis erhalten können. Das täte ihnen gut, denn es stärkt ihr Selbstvertrauen und ihre Würde. Niemand sollte auf Staatskosten leben müssen, der viel lieber arbeiten und für seinen Unterhalt selbst sorgen will. Daher ist es begrüßenswert, dass sich die Bundesregierung das Thema zu Eigen gemacht hat und eine Arbeitserlaubnis nach drei Monaten ermöglichen will.
Der Bundesrat hat auf Initiative Hamburgs eine Regelung für Jugendliche gefordert, die zwar kein Asyl erhalten haben, aber vorläufig geduldet werden. Wer einen Schulabschluss macht, soll damit auch einen sicheren Aufenthaltsstatus erwerben können. Und natürlich müssen junge Männer und Frauen eine Berufsausbildung absolvieren können, ohne an Regelungen des Arbeitsmarkts zu scheitern, was seit einiger Zeit glücklicherweise möglich ist.
Ein besseres Leben in der Heimat
Über Grenzen hinweg einen sicheren Ort zu erreichen, ist für diejenigen, die vor Krieg oder Hunger fliehen, von existenzieller Bedeutung. Ob diese Gründe vorliegen, wird in rechtsstaatlichen Verfahren geprüft. Aber es muss für die Betroffenen gerade dann, wenn während dieses Zeitraums Integration gelingt, Möglichkeiten geben, diesseits der Grenze zu bleiben, auch wenn am Ende des Verfahrens von der zuständigen Behörde keine Fluchtgründe anerkannt werden.
Dafür, dass die Chancen in den Herkunftsländern besser werden, sind wir in Deutschland und in Europa mit verantwortlich. Das verpflichtet uns beispielsweise zu einer veränderten Zoll- und Handelspolitik, verbunden mit einer engagierten, am Bedarf und am Sachverstand vor Ort orientierten Entwicklungszusammenarbeit. Die Menschen in den reichen Ländern können sicher mehr tun. Dabei wissen wir aber auch, dass einfache Lösungen in der Politik sehr selten sind. Manche halten „Politik“ und „Problemlösung“ für einen unaufhebbaren Gegensatz. Diese Ansicht teile ich nicht. Wo einem die Lösung nicht in den Schoß fällt, muss man sie sich erarbeiten. Dabei können auch kleine Schritte mit großen Gefühlen verbunden sein.