Frau Dr. Seltsam im Girlscamp
Die Zukunft der CDU sollte einmal aus dem Osten kommen. In einem Anflug von Selbstverzweiflung und mit einer Experimentierfreude, die für das deutsche Bürgertum ungewöhnlich anmutete, wählten die Delegierten des Essener Parteitages im April 2000 Angela Merkel zu ihrer Vorsitzenden. Eine Frau, die zwar in Hamburg gebürtig ist, die meiste Zeit ihres Lebens aber in der Uckermark und in der realsozialistischen Hauptstadt der DDR verbrachte, stand nun an der Spitze der krisengschüttelten Union. Mit einer Mehrheit von 96 Prozent wurde da eine Politikerin zur Parteichefin gemacht, die ihre politische Sozialisation dort erlebt hatte, wo der christdemokratische Ahn Konrad Adenauer stets nur sibirische Steppe vermutet hatte.
Angela Merkels Krönung liegt gerade erst ein gutes Jahr zurück. Seither ist immer wieder die Frage gestellt worden, warum sie eigentlich noch die Vorsitzende der CDU ist. Zu Recht - der Charme dieser ungewöhnlichen Personalentscheidung verbrauchte sich schnell. Die schmerzhafteste Krise der CDU seit den Oppositionsjahren unter Rainer Barzel, wenn nicht die schwerste Erschütterung seit der Gründung der interkonfessionellen Volkspartei im Jahr 1947, bekam die erste Frau an deren Spitze nur schwer in den Griff. Kaum ein Monat ist seit ihrer Wahl vergangen, in dem Merkels Erneuerungskurs und ihre Führungsqualitäten nicht auf eine harte Probe gestellt wurden: Nicht, dass die Machtspielchen der bayerischen Schwesterpartei CSU eine Überraschung gewesen wären. Das Ausmaß der Pannen im Adenauer-Haus hingegen versetzt selbst jene Beobachter in Erstauen, die der so lange überaus stabilen politischen Formation des deutschen Bürgertums sowieso eine düstere Zukunft prophezeit hatten.
Schnell wurde es einsam um Merkel
Mit ihrer angeblichen "Aufklärungswut" (so der inzwischen selbst im Spendensumpf steckende Berliner Landeschef Eberhard Diepgen) machte sich Merkel nicht nur Freunde. Ihr erster Generalsekretär musste gehen, weil er Schröders Regierung kaum einen Hieb versetzen konnte. Sein Nachfolger, der Westfale Laurenz Meyer, machte sich binnen weniger Wochen mit einem missratenen Verbrecherplakat zum Gespött. Von den Kommunikationsproblemen zwischen der CDU-Vorsitzenden und ihrem Fraktionschef Friedrich Merz im Bundestag ganz zu schweigen.
Schnell wurde es einsam um Angela Merkel. Zu ihren engsten Vertrauten zählen inzwischen nur noch Frauen: die Parteisprecherin Eva Christiansen, ihre Büroleiterin Beate Baumann und die baden-württembergische Kultusministerin Annette Schavan. "Frau Dr. Seltsam macht aus dem Adenauer-Haus ein Girlscamp", spotten deshalb schon die Parteifreunde. Kaum war der Begriff von der Doppelspitze in der Welt, überlagerten ihn Berichte über ein angespanntes Verhältnis zwischen der Bundesvorsitzenden und dem Fraktionschef. Einstweilen hat Angela Merkel diese Turbulenzen und Fronden einiger Parteitaktiker erstaunlich gut überlebt, auch wenn die Frage, wer CDU-Kanzlerkandidat wird, noch entschieden werden muss.
Gerade der Umstand, dass sich Angela Merkel bislang trotz allem erfolgreich an der Spitze hielt, wirft die Frage auf, was das eigentlich für eine Frau ist, die, mit einem für die CDU so ungewöhnlichen Lebenslauf, in schweren Zeiten die Union führen will. Was, so fragt man sich, kann ausgerechnet eine Physikerin aus dem Osten eigentlich dazu beitragen, diese zutiefst altbundesrepublikanisch geprägte Volkspartei wieder mit der Entwicklung der Gesellschaft in Einklang zu bringen?
"Irgendwie ist sie auseinander gegangen, die Beziehung zwischen uns und den Menschen", hat Angela Merkel einmal gesagt. Mehr als die Behauptung, die CDU stehe nun wieder "mitten im Leben" folgte aus dem naiv hingesprochenen Satz freilich nicht. Immerhin, dass da eine ohne jahrzehntelange Parteierfahrung, ohne verlässliche Seilschaften, ohne eine nennenswerte Hausmacht und ohne mitgliederstarken Landesverband in tiefer Krise CDU-Vorsitzende wurde, macht sie - zumindest kurzfristig - auch für Nicht-CDU-Wähler interessant.
All diese Fragen an Kohls Schülerin legen den Versuch nahe, das "Phänomen Merkel" biografisch in den Griff zu bekommen. Die Journalistin Jacqueline Boysen hat deshalb gut daran getan, "eine deutsch-deutsche Biografie" über die CDU-Chefin zu schreiben. Von den vielen schnell für den Kaufhaustisch zusammengeschriebenen Politiker-Biografien unterscheidet sich das Buch durch seine analytische Solidität. Grundlage hierfür sind Recherchen im Archiv, Interviews mit Merkels Weggefährten und die (manchmal sogar etwas zu penible) Auswertung von Tageszeitungen. Jacqueline Boysen stammt aus Westdeutschland, doch die Funktionsmechanismen der DDR-Gesellschaft sind ihr aus eigener Anschauung und historischer Informiertheit gut bekannt.
Wohltuend distanziert, nie zur politischen Psychologisiererei neigend, zeichnet die Autorin Merkels Leben in der DDR nach. Dazu gehören das kulturprotestantische Milieu ihres Elternhauses, ihre Kindheit bei Templin in der Uckermark und Merkels erste Berufstätigkeit am Zentralinstitut für Physikalische Chemie in Berlin. "Sie schwankte zwischen dem Bedürfnis nach Akzeptanz, dem durchaus vorhandenen Willen zur Anpassung und der notwendigen Abgrenzung", beschreibt Jacqueline Boysen Merkels Verhältnis zu den realsozialistischen Verhältnissen. Den jetzigen Intendanten des Basler Theaters und früheren Physiker-Kollegen Merkels, Michael Schindhelm, zitiert sie mit der Aussage, Angela Merkel sei eine "illusionslose Jungwissenschaftlerin" gewesen, "nur im Zusammenhang mit einsamen Radtouren in der Mark Brandenburg von Pathos beseelt".
Ins Kempinski, Austern essen
Schwer, heißt es an anderer Stelle, hätte man Merkel einer der beiden westdeutschen Volksparteien zuordnen können. Nicht einmal den Fall der Mauer kommentierte die Physikerin emphatisch. "Wenn jetzt die Mauer weg ist, gehen wir ins Kempinski, Austern essen", sprach die damals 35-jährige Naturwissenschaftlerin und lief mit ihren Badesachen zum nächsten Grenzübergang. Der kurz zuvor in Schwante gegründeten SDP trat Merkel nicht bei, weil die Sozialdemokraten "komische Lieder" sangen.
Angela Merkels fast unpolitischer Pragmatismus, ihre "Bodenständigkeit" und ihr "ungekünsteltes Auftreten" (Boysen) sollten im ersten Jahrzehnt der wiedervereinigten Republik zu ihrem großen Kapital werden. Dem Förderer Helmut Kohl gefiel die Fügsamkeit seiner Ministerin, väterlich rief er sie "das Mädchen". Als in der Spendenaffäre plötzlich eine unbelastete Führungsfigur gebraucht wurde, war niemand so geeignet wie Angela Merkel. Merkel stand für den Neuanfang, sie brach öffentlich mit Helmut Kohl und war auf keinem Parteiflügel zu verorten - ideale Ausgangsbedingungen für einen Karrieresprung. Kohls einst so wohlgeordnete christdemokratische Welt geriet aus den Fugen, und nach ein paar von Angela Merkel angeregten Regionaltreffen war sie selbst die große Krisengewinnlerin.
Auch das Antipolitische, das sie noch heute ausstrahlt, und ein gewisses Ressentiment gegen den Typus des "Nur-Berufspolitikers" haben Angela Merkel auf ihrem Weg zur Chefin geholfen. "Sie hatte sich nicht eindeutig positioniert, war keinem Lager oder Flügel zuzurechnen und von verbindlicher Freundlichkeit gegenüber jedermann", schreibt Jacqueline Boysen treffend. In ihren programmatischen Aussagen zeigt sich Angela Merkel schwankend. Als Konservative fürchtet sie, dem Neuen nicht aufgeschlossen genug gegenüber zu stehen. Zugleich treibt sie die Angst um, dem durch die Hegemonie der Spaßgesellschaft drohenden Kulturverlust nichts Konservatives mehr entgegensetzen zu können.
"Sie können keinen Laden mehr betreten, in dem es nicht duselt und daddelt", hat Merkel kürzlich gesagt, und viele Wähler der CDU empfinden es genauso. Das Problem ist nur, dass programmatische Orientierung von Alltagskulturpessimismus dieser Art eher nicht ausgehen wird. Mit ihrer programmatischen Unverbindlichkeit und ihrer Offenheit mag Angela Merkel den Christdemokraten gefallen haben - doch auf lange Sicht reicht es nicht, immer nur "erfrischend normal" oder "freundlich undurchschaubar" zu sein.
Auf wen kann sich Merkel verlassen?
Angela Merkels freundlich-naiv daherkommende Unverbindlichkeit hat Jacqueline Boysen als eine der markantesten Eigenschaften der CDU-Chefin sehr eindrucksvoll herausgearbeitet. Schon die Sekretärinnen an der Akademie der Wissenschaften, so berichtet die Biografin, hätten sich einst über das "kumpelhaft-freundliche Auftreten der jungen Person" lustig gemacht. An anderer Stelle des Buches heißt es: "Sie zeigte sich angstfrei und völlig undogmatisch - und in ihrer Nüchternheit jenen überlegen, die von Idealismus getrieben wurden."
Leider leitet Jacqueline Boysen aus solchen Erkenntnissen keine Analyse ab. Was hat die CDU von einer Vorsitzenden, die sich in öffentlichen Diskussionsveranstaltungen über die Musikberieselung in Supermärken beklagt? Wie sehen die innerparteilichen Machtverhältnisse aus? Auf wen kann sich die Vorsitzende verlassen? Und was bedeutet es, wenn die CDU-Chefin zwar von einer inhaltlichen Neuausrichtung spricht, politische Probleme aber oft mit dem Vokabular der interessierten Hausfrau beschreibt?
Der Autorin sind die Fragen zwar vertraut, ihrer Beantwortung widmet sie aber nur karge zehn Seiten. Das Phänomen Merkel wird beschrieben, über den Zustand der Union, die "Reideologisierung" der CDU ("Stolz-Debatte", "Leitkultur-Debatte") erfährt man wenig. Vielleicht deshalb, weil Angela Merkel hierzu - bezeichnenderweise - in der Regel geschwiegen hat. Aber andererseits: Wie sollte eine Biografin leisten, was ihre Heldin so gar nicht vermag?
Mit altbundesrepublikanischer Weisheit schrieb der Schriftsteller Max Goldt über das Phänomen "Dr. Angela Merkel" schon in den neunziger Jahren: "Wenn in der Tagesschau kommt, wie sie in ihrem Dienstwagen irgendwohin chauffiert wird, sieht sie aus wie eine sympathische Dorfbewohnerin, die in einem Preisausschreiben der Bonn-Werbung einen Tag Bonn incl. Fahrt in einer richtigen Politikerlimousine gewonnen hat." Das stimmt noch immer. Was es bedeutet, bleibt offen.
Jacqueline Boysen, Angela Merkel: Eine deutsch-deutsche Biografie München: Ullstein Verlag 2001, 250 Seiten, DM 16,90