Freiheit, die wir meinen



Das Ende des Kalten Krieges erlebten viele Menschen in Deutschland, Europa und weltweit als eine Befreiung: buchstäblich als Befreiung aus dem Untertanendasein im realsozialistischen Obrigkeitsstaat; als neue Freiheit des Reisens und des Konsums; als Befreiung von Bespitzelung und politischer Verfolgung; als neue Chance, sein eigenes Leben selbst zu gestalten; und als Befreiung von der Angst vor einem neuen großen Krieg zwischen den hochgerüsteten Militärblöcken, auch im Westen.

Mit dem Untergang des osteuropäischen Staatskommunismus 1989/90 und dem Wegfall der Blockkonfrontation, an der sich global wie in einem Magnetfeld viele zwischen- und innerstaatliche Konflikte im 20. Jahrhundert über Jahrzehnte hin ausgerichtet hatten, schwanden aber auch viele gewohnte Sicherheiten des Lebens, des Verhaltens, des Denkens.

Alte westeuropäische Selbstverständlichkeiten wie die repräsentative Demokratie und der sozialstaatliche Kompromiss, die durch den täglichen Vergleich mit der Unfreiheit und dem geringeren Massenwohlstand in den KP-Diktaturen des Ostens von vornherein gerechtfertigt waren, erfordern jetzt eine neue Legitimation. Die Neubegründung von demokratischen und sozialen Freiheitsrechten ist allerdings bislang nicht wirklich erfolgreich abgeschlossen. Demokratie und soziale Marktwirtschaft scheinen heute stärker unter Druck zu stehen als zu den Zeiten, da "Gut" und "Böse" übersichtlich durch Mauer und Stacheldraht voneinander getrennt waren.

Für viele Menschen im ehemaligen Ostblock ist der Schritt ins Offene auch mit Beklommenheit und einem Gefühl der Zumutung verbunden. Manche beschleicht ein Erschrecken über die Verantwortung für sich selbst, für die eigene Familie und für die ganze Gesellschaft, wenn sie sich auf die Reise ins Ungewisse begeben. Zur Chance, erfolgreich zu sein, gehört in offenen Gesellschaften auch das Risiko des Scheiterns. Das Risiko der Freiheit zu ertragen, ist den meisten Menschen aber nur möglich, wenn die Gemeinschaft, in der sie leben, verhindert, dass sie ins Bodenlose stürzen können. Daher können Freiheit und Demokratie nur auf Dauer gestellt werden, wenn sie sozialstaatlich fundiert sind. Die Kunst der sozialen Demokratie besteht darin, jedem Einzelnen immer wieder neue Freiheiten und Chancen zu eröffnen.

So unbestritten der Wert der Freiheit ist, so umstritten sind sein Begriff und Gehalt. Dies gilt für die Vergangenheit wie für die Gegenwart. Für den frühen Liberalismus eines John Locke war Freiheit Synonym der Verfügung über das rechtmäßig erworbene Eigentum und den Schutz von Leben, Unversehrtheit und der bürgerlichen Rechte gegenüber dem Staat. Diese Rechte zählen heute zu den fundamentalen Menschenrechten. Sie sind unveräußerlich. Das gilt auch für das grundsätzliche Recht auf Eigentum. Diese angeborenen Rechte werden vom Staat nicht verliehen, deshalb kann dieser sie dem Individuum nicht nehmen, sondern nur garantieren. Das ist eine, nämlich die negative Dimension der Freiheit, das heißt Freiheit von etwas, insbesondere von der Einmischung anderer, einschließlich des Staates. Diese Freiheit ist fundamental. Sie darf nur unter strengen Bedingungen und nach rechtmäßigen Verfahren eingeschränkt werden.

Schon der Liberalismus des späten 19. Jahrhundert mit John Stuart Mill hat der "negativen Freiheit" ein positives Komplement an die Seite gestellt. Freiheit sollte nicht nur einen unverletzlichen Schutzraum vor fremder Einmischung sichern, sondern zur Selbstbestimmung, zur sittlichen und kognitiven Ermöglichung der individuellen Entwicklung beitragen. Die Willensentscheidungen der Menschen sollten von diesen selbst abhängen, nicht von Dritten. Kant sah hierin den Sinn der Aufklärung: im Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.

Marx war sich der Begrenzungen nur formalrechtlicher Gleichheitsnormen wohl bewusst. Auch deshalb wollte er die materielle Produktion aus den kapitalistischen Verwertungszwängen herauslösen. Freiheit war für ihn deshalb auch die Freiheit vom Zwang fremdbestimmter notwendiger Arbeit. Was bei Marx sich schon andeutet, wo er davon spricht, dass die anzustrebende Gesellschaft eine sei, die die vollständige Kontrolle über "ihre Reproduktionsbedingungen" habe, wurde in der leninistischen Rezeption zum Maß aller Dinge. Dass dann im Namen der sozioökonomischen Gleichheit und der "wissenschaftlichen" Planbarkeit der Gesellschaftsentwicklung im "Realsozialismus" die monströseste Form des staatlich verfügten Freiheitsentzugs begründet wurde, die im übrigen eine ebenso monströse Privilegienwirtschaft mit sich brachte, zählt zu den großen Tragödien des 20. Jahrhunderts.

Der Freiheitsbegriff bleibt umstritten, auch heute noch. Wenn Libertäre wie Robert Nozick und Friedrich August von Hayek von Freiheit sprachen, verstanden sie darunter, radikal und eng, etwas anderes als John Rawls, Ralf Dahrendorf oder Amartya Sen. Isaiah Berlin hat dies einprägsam die Differenz von "negativer" und "positiver Freiheit" genannt. Negative Freiheit ist der "minimal state", der die Unantastbarkeit des Privateigentums garantiert. Positive Freiheit betont dagegen die Bereitstellung und staatliche Garantie bestimmter öffentlicher Güter wie Gesundheit, Bildung und Wissenschaft. Diese zu finanzieren bedeutet eine Einschränkung der freien Verfügung über das Privateigentum, etwa durch progressive Formen der Besteuerung. Wie weit diese Einschränkung gehen kann, ist politisch wie ökonomisch umstritten.

Was die moderne Freiheitsidee auszeichnet, ist ihr Universalismus. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein sprach man zumeist von Freiheiten im Plural und meinte damit spezifische Privilegien des Adels, der Zünfte, der Städte gegenüber den absolutistischen Regimen und den sich herausbildenden Nationalstaaten. Erst der politische Liberalismus und später die Arbeiterbewegung sprachen von der Freiheit im Singular und vertraten einen universalistischen Freiheitsbegriff. Die Pointe der Arbeiterbewegung gegenüber dem politischen Liberalismus bestand darin, dass sie stärker und umfassender als dieser die sozialen, kulturellen und bildungsmäßigen Voraussetzungen in den Blick nahm, die erfüllt sein müssen, damit alle Menschen von ihren Freiheitsrechten tatsächlich konkreten Gebrauch machen können.

Demokratie als Lebensform einer Gesellschaft der Freien

Wo Menschen all ihre Zeit und Kraft aufwenden müssen, um ihre bloße Lebensfristung sicherzustellen, bleibt die Proklamation der Meinungsfreiheit weitgehend folgenlos. Wo Menschen de facto keinen Zugang zu Bildung haben, können sie in aller Regel auch Partizipationsrechte nicht wahrnehmen. Bis heute besteht die Besonderheit des sozialdemokratischen Freiheitsverständnisses darin, dass es nicht nur, wie in der liberalen Tradition, universell gedacht ist, sondern auch die Verpflichtung enthält, die gesellschaftlichen Bedingungen zu schaffen und zu erhalten, unter denen möglichst alle Menschen von ihren Freiheitsrechten Gebrauch machen können.

Für Sozialdemokraten bedeutet Freiheit größtmögliche Lebenschancen und Wahlmöglichkeiten für das Individuum. Freiheit und Demokratie sind für die Sozialdemokraten universell gültige Prinzipien. Sie haben nicht nur im Staat Geltung, sondern in allen Lebensbereichen. Demokratie darf nicht am Werks- oder Kasernentor enden. Mehr Demokratie wagen, der Slogan, den Willy Brandt über seine Regierungserklärung setzte, weist den sozialdemokratischen Weg: Die parlamentarische Demokratie nutzen, um Demokratie zu einem die ganze Gesellschaft durchdringenden Prinzip zu machen, Demokratie als Lebensform einer Gesellschaft der Freien.

Freiheit stärkt die Fähigkeiten jedes Einzelnen, ein gutes Leben nach eigenen Vorstellungen und Entscheidungen zu führen, ohne dabei den sozialen Zusammenhalt von Gesellschaft und Gemeinschaft und die Freiheitschancen künftiger Generationen zu gefährden.

Ein sozialdemokratisches Verständnis darf nicht bei der halben, der negativen Freiheit stehen bleiben, es muss diese aber einbegreifen und in der "ganzen Freiheit" (Thomas Meyer) aufheben. In ihr sind die sozialen Bedingungen der Verwirklichung eines selbstbestimmten Lebens mitgedacht. Dadurch grenzt sich das sozialdemokratische Freiheitsverständnis von der eindimensionalen Engführung des libertären Freiheitskonzepts ab. Darin ist der besondere sozialdemokratische Mehrwert zu sehen.

Der Referenzpunkt der Freiheit ist das Individuum

Auch für Sozialdemokraten gilt: Der Referenzpunkt der Freiheit ist das Individuum. Das Individuum muss sich selbst als moralisches Subjekt, als eigenen Autor seines Lebens erkennen können. Dies erfordert eine Liste "substantieller Freiheiten" (Amartya Sen). Das Recht, frei von Hunger, Armut und mit einer ausreichenden Gesundheitsvorsorge oder sozialen Sicherheit zu leben, gehört dazu. Die substantiellen Freiheiten genügen aber nicht. Sie müssen durch "instrumentelle Freiheiten" (Amartya Sen) ergänzt werden. Diese sind vor allem in der Befähigung der Individuen zu sehen. Sie müssen fähig werden, ihre Freiheit vor paternalistischer Einmischung wie auch vor ökonomischer Fremdbestimmung selbst zu sichern.

Dass unkontrollierte wirtschaftliche Macht sich freiheitsgefährdend auswirkt, gehört zu den Grunderfahrungen der Arbeiterbewegung. Darum hat die Sozialdemokratie von Anfang an nach Wegen der demokratischen Kontrolle wirtschaftlicher Macht und der Mitbestimmung der Arbeitenden gesucht und diese zusammen mit den Gewerkschaften in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik auch in einem beträchtlichen Umfang durchgesetzt. Aber in den letzten 20 Jahren wurden diese Errungenschaften teilweise rückgängig gemacht oder durch veränderte Formen der Wirtschafts- und Arbeitsorganisation unterlaufen. Die weltweite Dominanz marktradikaler Ideologien führte dazu, dass Kontrolle wirtschaftlicher Macht und Mitbestimmung von vielen nur als Freiheitsbeschränkung und Behinderung der Wohlstandsentwicklung wahrgenommen wurden. Ungehemmte Bereicherung und Deregulierung galten als Königsweg zu allgemeinem Wohlstand und universeller Freiheit. Inzwischen sind die neoliberalen Illusionen zerplatzt. Neben der notwendigen Krisenintervention, die das Schlimmste verhüten soll, finden auch Forderungen nach demokratischer Kontrolle wirtschaftlicher Macht und des Weltfinanzsystems wieder Gehör. Was aber dabei zumeist zu kurz kommt, ist eine gründliche Kritik des Ökonomismus unter dem Gesichtspunkt der Freiheit.

Die Abkehr vom autoritären Leitungsstil, der Abbau von Hierarchien, die Anreicherung der Arbeitsaufgaben, eine weitgehende Verbindung von Planung und Ausführung - all dies finden wir heute in den avanciertesten Bereichen der Wirtschaft, wo Teamarbeit und Selbständigkeit großgeschrieben werden. In den siebziger Jahren hätten dies auch die Gewerkschaften unter "Humanisierung der Arbeitswelt" verbucht. Aber wie so oft bei modernen Fortschrittsprozessen - Foucault hat immer wieder darauf hingewiesen - wird der Abbau sichtbarer Unterwerfungsstrukturen mit der Verinnerlichung von Herrschaft bezahlt. Der Haken an der schönen neuen Arbeitswelt in der so genannten Wissensökonomie ist der Zwang zur Internalisierung ökonomischer Prinzipien und Herrschaftsstrukturen, ist die Tendenz zur Selbstüberforderung und zur Selbstinstrumentalisierung der Arbeitenden.

Viele Menschen spüren instinktiv, wie unangemessen solche Konzepte und die damit verbundenen Zumutungen sind. Dass sie sie dennoch akzeptieren, ja manchmal sogar als Fortschritt begrüßen, hängt damit zusammen, dass sie mit einem Versprechen verknüpft sind. Dem Versprechen nämlich, dass Entbehrungen und Zwänge auf der einen Seite durch Freiheitsgewinne auf der anderen kompensiert werden. In seiner bescheideneren Variante lautet das Versprechen: Wenn Ihr Euch der ökonomischen Rationalität mit Haut und Haaren unterwerft, müsst Ihr zwar Eure Spontaneität unterdrücken, Euch ständig disziplinieren, hart und ausdauernd arbeiten und Euer Denken und Handeln ganz der Logik des Ökonomischen unterstellen, aber dafür habt ihr ein Einkommen, und durch dieses Einkommen gewinnt ihr die Freiheit, die in der Wahl zwischen vielen Konsumoptionen besteht. Wenn Ihr diese wahrnehmt, so die frohe Botschaft der Ökonomisten, werden Euch alle Entbehrungen reichlich vergolten.

Die Reduktion von Freiheit auf Wahlfreiheit, noch spezieller auf die Wahl zwischen möglichst vielen Konsumoptionen, ist eine Verkürzung des modernen Freiheitskonzepts. Die eigentlich politische Dimension der Freiheit, die Idee der politischen Selbstbestimmung, der kooperativen Gestaltung der eigenen Lebensverhältnisse, fällt dabei fort.

Der Mensch ist mehr als ein homo oeconomicus

Hinter all diesen Phänomenen steckt ein Konzept des Individualismus, das die Menschen radikal vereinzelt, das ihnen, praktisch angewandt, den Schutz und die Sinnhaftigkeit gemeinschaftlicher Strukturen, ihrem Leben die Chance der Planbarkeit nimmt, sie hinausstößt in eine Konfrontation mit Risiken und Unwägbarkeiten wie Arbeitslosigkeit, sozialem Abstieg, Krankheit, Pflegebedürftigkeit oder Terrorismus, die allenfalls Heroen bewältigen könnten. Die radikale Vereinzelung und Flexibilisierung, die die Marktradikalen propagieren und praktisch bewirken, ist - das hat auch Richard Sennett überzeugend nachgewiesen - mit der Natur des Menschen unvereinbar. Es ist barer Unsinn anzunehmen, dass die menschliche Natur sich in ähnlichen Zeitmaßen verändern ließe wie die Produktionsmittel und die Warenwelt.

Die Reduktion der Auffassung von Freiheit geht zumeist mit einer allgemeinen Verkürzung der Auffassung vom Menschen, vom menschlichen Leben einher. Es wäre höchst gefährlich, wenn unsere Gesellschaft sich dieses Menschenbild zueigen machte. Der Mensch ist mehr als ein homo oeconomicus. Die "Trivialanthropologie des egoistischen Tauschmenschen", wie der Philosoph Werner Plumpe das Menschenbild der Ökonomisten charakterisiert hat, ist nicht nur in ihren Konsequenzen höchst fragwürdig, sie ist auch unrealistisch. Wirtschaften ist elementar, es ist die Basis für menschliches Leben. Aber die ökonomischen Werte sind nicht die höchsten Werte. Eine Gesellschaft, die keine höheren Werte kennt als die, die an der Börse gehandelt werden, wäre öde.

Glück ist nicht die Summe wahrgenommener Konsumoptionen. Freunde und Liebespartner, um nur diese zu nennen, verhalten sich zueinander nicht wie Produzenten und Konsumenten. Im Übrigen auch Pfarrer und Gläubige nicht. Das, was man seit den siebziger Jahren Lebensqualität nennt, hängt wesentlich auch von der politisch organisierbaren sozialen Lebensumwelt der Menschen ab. Die Zivilgesellschaft mit ihren vielfältigen Institutionen und Praxisformen ist nicht identisch mit der Summe der Wirtschaftssubjekte. Die Entgrenzung der Ökonomie ist ein Verhängnis, die Anmaßung eines Primats der Ökonomie über alle anderen Bereiche der Gesellschaft ist freiheitsgefährdend.

Immer mehr Menschen können ihr Leben nicht mehr einigermaßen zuverlässig planen, können sich nicht mehr an gültigen Lebens- und Laufbahnmustern orientieren. Sie können auch hinter dem anonymisierten Geschehen keine Akteure mehr erkennen, die ein Gesicht haben und deshalb verantwortlich gemacht werden können, wenn etwas schief läuft. Sie fühlen sich einem von niemand mehr beherrschbaren Prozess unterworfen, der (scheinbar) subjektlosen Exekution von Gesetzlichkeiten, die sich ohne Rücksicht auf die vielen Einzelschicksale durchsetzen. So entsteht eine neue Schicksalsgläubigkeit, die sich für die Zukunft von Freiheit und Demokratie als äußerst bedrohlich erweisen kann. Denn wo das Gefühl wächst, einem übermächtigen Schicksal ausgeliefert zu sein, schlägt die Stunde der Gurus und Sektenführer, der politischen Scharlatane und Quacksalber aller Art, die ihre Scheingewissheiten als Ersatz anbieten, wenn rundherum alle Halteseile brechen. Wo die verkürzte ökonomische Ratio triumphiert, wird dem Irrationalismus Tür und Tor geöffnet.

Aus allen diesen Gründen steht für Sozialdemokraten fest: Die Ökonomie darf nicht alle Bereiche der Gesellschaft, darf nicht das ganze Leben der Menschen beherrschen, weil ihre Logik einen halbierten Menschen impliziert, weil ihre Rationalität bestenfalls eine halbierte Vernunft ist, weil die konkurrenzlose Dominanz des Ökonomischen freiheitsfeindlich ist, weil sie ebenso zum Totalitären tendiert wie die konkurrenzlose Dominanz des Politischen oder des Religiösen. Die Krise der Finanzmärkte und die Abwicklung der neoliberalen Konkursmasse eröffnen neue Chancen, verloren gegangenes Terrain für die demokratische Politik und die individuellen Entfaltungschancen auch jenseits des Ökonomischen zurück zu gewinnen.

Freiheit und Sicherheit: Ziele, die sich gegenseitig ergänzen

Freiheit und Sicherheit sind Ziele staatlichen Handelns, die sich gegenseitig ergänzen. Die Politik muss das eine wie das andere anstreben: eine freiheitliche Ordnung und die möglichst große Sicherheit der Menschen vor Gewalt und Unrecht. Erreichbar ist aber weder vollkommene Freiheit aller noch vollständige Sicherheit. Freiheit muss seit je auch durch Maßnahmen gesichert werden, die sich zugleich als Freiheitsbeschränkungen auswirken. So kann eine Freiheit zu rechtswidrigem Handeln nicht anerkannt werden, ebenso wenig die mit der Gefährdung anderer verbundene "freie" Selbstgefährdung. Wenn die Freiheit der einen durch Freiheitsbeschränkungen anderer geschützt werden muss, ist bei der Schaffung gesetzlicher Grundlagen zwischen den betroffenen Interessen abzuwägen.

Ein aktuell wichtiger Bereich für solche Abwägungen ist angesichts der rasanten Entwicklung der technischen Möglichkeiten das Datenschutzrecht, das nicht nur gegenüber dem Staat, sondern auch gegenüber Arbeitgebern und anderen garantiert werden muss. Datenschutz dient dem Schutz der Entscheidungs- und Handlungsfreiheit der Individuen. Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung werden Voraussetzungen freien Handelns garantiert. Das Bundesverfassungsgericht fordert daher die Transparenz aller Informationsvorgänge als eine wesentliche Bedingung freien Handelns. Datenschutz dient aber auch dem Persönlichkeitsrecht, das zu den grundlegenden Elementen der freiheitlichen Ordnung gehört: Der Einzelne hat Anspruch auf Achtung seiner Privat- und Intimsphäre. Eingriffe in diese Sphäre - die heimliche Ausforschung der Wohnung und privater Aufzeichnungen - sind, wenn überhaupt, nur ganz ausnahmsweise zu rechtfertigen. Deshalb ist auch die Online-Durchsuchung privat genutzter Computer verfassungsrechtlich so ein Grenzfall.

Dem Schutz vor staatlichem Missbrauch von Informationen dient unter anderem das Prinzip der Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten. Es entspricht dem Prinzip der "informationellen Gewaltenteilung": Jede staatliche Stelle soll nur die Informationen sammeln und verwenden dürfen, die zur Erfüllung ihrer eigenen Aufgaben erforderlich sind. Aus praktischen Gründen wird aber oft eine Mehrzahl von Zwecken der Informationsverarbeitung zugelassen, etwa wenn es sich beim Austausch der Informationen zwischen Polizei und Geheimdiensten um schwere Straftaten und erhebliche Gefahren handelt. Es darf dabei allerdings nicht zu einer faktischen Ausweitung der Ermittlungsbefugnisse kommen. Die "Gewaltenteilung" im Sinne der Zuständigkeits- und der Verantwortungsteilung darf grundsätzlich nicht aufgehoben werden.

Das gilt auch für innere und äußere Sicherheit. Dies sind zwei unterschiedliche Ziele, die aus gutem Grund von unterschiedlichen Teilen der staatlichen Organisation verfolgt werden. Das gilt auch für den seit dem 11. September 2001 im Fokus stehenden Schutz vor und den Kampf gegen den international agierenden Terrorismus. Der Staat muss auf diesen gewalttätigen Extremismus reagieren, doch dabei den selbst gesetzten und gewählten rechtlichen Regeln folgen. Er darf sich nicht die Prägung des terroristischen Angreifers aufzwingen lassen. Dies beginnt schon bei der Wahl der rechtlichen Reaktionsform, nämlich "Krieg", "Gefahrenabwehr" oder "Strafverfolgung". Auch Terroristen, die aus dem Ausland kommen, sind keine Gegner im Krieg, keine feindlichen Soldaten, sondern gegebenenfalls Straftäter. Sie müssen mit den Mitteln des rechtsstaatlichen Polizeirechts bekämpft werden. Es liegt ja gerade im Interesse der Terroristen, den Angegriffenen zu unverhältnismäßigen Reaktionen zu veranlassen, um daraus mediale und legitimatorische Vorteile zu ziehen. Terroristische Strategien zielen nicht nur auf die unmittelbaren physischen, sondern ebenso auf die psychischen und politischen Folgen der Gewaltanwendung.

Demokratie braucht Demokraten

Ohne staatlich garantierte Sicherheit ist unsere Freiheit nicht zu erhalten. Der Staat darf aber auch in allgegenwärtiger Erwartung eines Terrorakts kein Sicherheitsversprechen abgeben, das er nicht einlösen kann. Die Angst vor Terrorismus darf nicht dazu führen, dass bestimmte Gruppen in der Bevölkerung unter einen Generalverdacht gestellt werden. Der Staat begäbe sich in den Gestus der Überverantwortlichkeit und erweckte dadurch fälschlich den Eindruck, Terrorakte absolut verhindern zu können, was mit der Gefahr verbunden wäre, den Sicherheitsapparat in einer Weise auszubauen, die die Freiheitsrechte, die geschützt werden sollen, erheblich beschneidet und gleichzeitig das Bedrohungsempfinden in der Bevölkerung verstärkt. Sozialdemokraten dürfen nicht der Versuchung erliegen, die Balance von Freiheit und Sicherheit einseitig auf Kosten eines der beiden gesellschaftlichen Grundgüter zu zerstören.

Freiheit ist nicht voraussetzungslos zu haben. Sie muss erkämpft, gewonnen, verteidigt und gestaltet werden. Und man kann sie auch wieder verspielen. Die deutsche Geschichte zeugt davon. Wir haben daraus gelernt. Aber zuweilen hat es den Anschein, als seien wir dabei, das wieder zu vergessen.

Die Demokratie als einzig verlässliche legitime Ordnung der Freiheit vererbt sich nicht von selbst. Sie muss von jeder Generation neu erworben und eingeübt werden. Demokratie braucht Demokraten. Das klingt wie eine Selbstverständlichkeit, real ist es aber ein Problem.

13 Prozent der erwachsenen Deutschen stimmen dem Satz zu: "Wir sollten einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert." Jeder fünfte, 22 Prozent, meint: "Was Deutschland jetzt braucht, ist eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert." Und die ungeheuerliche Aussage "Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß" halten 18 Prozent unserer Mitbürger für korrekt. So eine 2008 veröffentlichte Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Nach anderen Umfragen sind 50 Prozent der Deutschen mit unserer Demokratie, wie sie ist, weniger bis gar nicht zufrieden. Die Wahlentscheidung für rechtsextreme Parteien gilt immer häufiger als Beweis für berechtigte Verdrossenheit mit dem politischen System, die Nichtteilnahme an Wahlen beanspruchen manche Kreise geradezu als Ausweis überlegener politischer Urteilsfähigkeit. Wenn nach dem Vertrauen in bestimmte Institutionen gefragt wird, rangieren Parlamente und Parteien, also die Kerninstitutionen der repräsentativen Demokratie am unteren Ende der Skala. Dass dies europa-, ja weltweit der Fall ist, kann nicht beruhigen. Alle klassischen Vereinigungen des gesellschaftlichen Zusammenhalts, von den Kirchengemeinden bis zu den Sportvereinen, insbesondere aber die demokratischen Parteien klagen über sinkende Mitgliederzahlen und über die rückläufige Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung. Viele Menschen scheinen es heute als Zeitverschwendung und unzumutbare Anstrengung zu betrachten, sich um die öffentlichen Belange des Gemeinwesens zu kümmern. Wenn aber viele Bürgerinnen und Bürger sich von der Politik abwenden und Politiker, Parteien und Parlamente mit Verachtung betrachten, schwächen sie die wichtigsten Instanzen, die gegenüber den dominierenden ökonomischen Interessen dem Gemeinwohl Geltung verschaffen können.

Von der "Pflicht zur Demokratie"

Für die meisten Menschen in Europa ist Demokratie vor allem eine Sammelbezeichnung für persönliche und politische Freiheitsrechte, die man mit großer Selbstverständlichkeit in Anspruch nimmt, in zweiter Linie ein Entscheidungsverfahren, an dem man sich beteiligen kann oder auch nicht. Dass es so etwas wie eine Pflicht zur Demokratie geben könnte, ist dagegen nicht unmittelbar einsichtig. Wenn wir hier von einer "Pflicht zur Demokratie" sprechen, so meinen wir damit zweierlei: einmal, dass Menschen nur wirklich frei sein können, wenn sie auch ihren Mitmenschen dieselbe Freiheit zugestehen, und zum andern, dass Menschen, die sich selbst und ihren Mitmenschen eine unveräußerliche Würde zusprechen, auch verpflichtet sind, einen gesellschaftlichen Zustand durchzusetzen und zu erhalten, in welchem die Menschenwürde eines jeden geachtet und geschützt wird.

Es gibt die These, die deutsche Politikverdrossenheit sei ein Wohlstandssyndrom: Es gehe uns - dem Export- und Urlaubsweltmeister - zu gut. Und natürlich gibt es auch die Gegenthese: Viele Deutsche seien verdrossen, weil es uns - der kinderarmen Hartz-IV-Republik - zu schlecht gehe. Manche meinen, es gebe eigentlich zu wenig Demokratie, zu wenige Beteiligungsmöglichkeiten und fordern - nicht immer zu Unrecht - mehr plebiszitäre Elemente. Doch wo es die dann gibt, werden sie kaum genutzt und ändern jedenfalls an Wahlbeteiligung, Parteimitgliedschaft oder Misstrauensvoten in Umfragen nichts. Andere sagen auch, die Medien seien mitverantwortlich mit ihrer permanenten Skandalisierung des politischen Streits - der doch gerade nicht die Entgleisung, sondern die gewollte, alltägliche und unausweichliche Normalität der Demokratie darstelle. Das alles mag sein.

Aber die offene Geringschätzung des demokratischen Engagements anderer Mitbürger und die Zurückhaltung beim eigenen aktiven Eintreten für die parlamentarische Demokratie, wie sie tatsächlich bei uns und anderswo nach den verfassungsmäßigen Regeln funktioniert, haben ihre Ursache wohl eher in der Art und Weise, wie seit Generationen über Politik in diesem Land gesprochen worden ist. Die Metaphern (Politik ist ein "schmutziges Geschäft", Kompromisse sind "faul"), die Stereotype ("Parteiengezänk", "der Bürger" versus "die politische Klasse"), die Klischees (der leere Plenarsaal und die arbeitsscheuen, selbstsüchtigen "Politiker") bereiten das Feld für eine ganz eigentümlich abstinente Haltung: Politik, die jeden berührt, als etwas zu empfinden, das ganz weit weg ist, mit dem man nichts zu tun hat und auch nichts zu schaffen haben sollte.

Es könnte die Stunde der Politik und Demokratie werden

Die objektiven Probleme der Demokratie können aber nur angepackt werden von einer Gesellschaft, die politisch informiert und urteilsfähig ist und sich kenntnisreich engagiert. Demokratie hat Spielregeln. Es gibt gute und bittere Erfahrungen, eine Geschichte und auch Möglichkeiten der Weiterentwicklung. All das kann und muss gelernt werden wie Lesen, Schreiben und Rechnen. In der Schule. Über die Medien. Durch eigene Praxis. Die Kultur von Streit und Kompromiss kennenzulernen und einzuüben, ist nicht weniger wichtig als die Regeln für Groß- und Kleinschreibung, die Winkelgeometrie oder der Zitronensäurezyklus.

Es ist anstrengend, Demokratie zu leben (nicht nur in den Institutionen des Staates, sondern in der ganzen Gesellschaft), und wir brauchen, wenn wir uns nicht auf ein Zeitalter der "Postdemokratie" einstellen wollen, eine neue große Anstrengung der Aneignung dieser entscheidenden zivilisatorischen Errungenschaft.

Trotz aller Enttäuschungsgesten von Bürgern und Medien gegenüber "der Politik", trotz der uns seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts begleitenden Krisenrhetorik zur Demokratie gibt es gerade jetzt eine neue Aufbruchschance. Es gilt nicht, ein vermeintlich versunkenes goldenes Zeitalter der Demokratie zu heben. Ein solches hat es nie gegeben. Richtig ist, dass in den letzten drei Jahrzehnten die Politik sukzessive an Gestaltungsräumen gegenüber den Märkten verloren oder diese gar fahrlässig aufgegeben hat. Die Finanzkrise aber hat dem erschöpften neoliberalen Paradigma den Gnadenstoß gegeben. Nicht der Markt, sondern der Staat soll es nun richten. Bankiers und Industrielle rufen unverhohlen nach keynesianischer Politik und staatlicher Regulierung.

Es könnte die Stunde der Politik und Demokratie werden. Gerade Sozialdemokraten sollten diesen Moment der Krise nutzen, um die Lebensverhältnisse der Bürger bewusst und im demokratischen Auftrag zu gestalten und nicht der unsichtbaren Hand entfesselter Märkte zu überlassen. Der Macht- und Mentalitätswechsel in den USA öffnet ein Fenster der Gelegenheiten. Ein demokratischer Staat, der zeigt, dass er die Lebensverhältnisse der Bürger gestaltet, der die wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft nicht schicksals- und marktergeben hinnimmt, kann verlorenes Vertrauen zurückgewinnen.

Freiheit ist neben politischer Gleichheit und Machtkontrolle eines der drei Kernprinzipien der Demokratie. Sie ist Voraussetzung wie beständiges Resultat der freiheitlichen Demokratie. Ohne Freiheit ist keine Demokratie, ohne Demokratie keine Freiheit zu haben. Was Alexis de Tocqueville vor 170 Jahren wusste, können wir auch wissen: "Um ... die politische Freiheit zu verlieren, genügt es, sie nicht festzuhalten."

Der Text ist eine gekürzte Fassung des neuen Papiers "Freiheit, die wir meinen", das die Autoren für die SPD-Grundwertekommission geschrieben haben.

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