Für eine europäische Armee
Die Europäische Union ist eine Erfolgsgeschichte. Sie hat zunächst in Westeuropa und seit Ende des Kalten Krieges auch bis weit nach Osteuropa eine Zone der Demokratie, der Stabilität und des Wohlstands ermöglicht, um die uns viele Teile der Welt beneiden. Doch der Einigungsprozess im größer gewordenen Europa befindet sich in einer Krise. Das Unbehagen gegenüber „Brüssel“ – in mancher Abstimmung über die EU-Verfassung bei unseren Nachbarn zum Ausdruck gebracht – müssen wir ernst nehmen. Wie antworten wir darauf? Die Steuerung einer Gemeinschaft von 25 Staaten ist nicht eben leicht. Um diese alles verlangsamende Krise zu überwinden, bedarf es neuer Impulse.
Wir brauchen ein starkes Europa, um die europäischen und die globalen Probleme zu bewältigen. Dabei stehen wir vor der doppelten Herausforderung der gleichzeitigen Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union. Weder kann auf den Erweiterungsprozess verzichtet werden, noch auf den Fortschritt bei der Integration. Eines geht nicht ohne das andere. Die Mehrheit der Unionsbürger und die Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten haben dem Verfassungsvertrag bereits zugestimmt, aber in dieser Frage ist die Einstimmigkeit die conditio sine qua non. Die Verfassung wird gebraucht, um zügiger entscheiden zu können. Schließlich sind die Strukturen heute noch weitgehend auf dem Stand einer Union von 15 Staaten. Dabei umfasst die EU bereits 25 Mitglieder, bereitet den Beitritt von Rumänien und Bulgarien vor und führt Beitrittsverhandlungen mit der Türkei und mit Kroatien.
Die EU-Erweiterung muss weitergehen
Die stetige Erweiterung dieser europäischen Zone der Demokratie, des Rechtstaates und der Stabilität auf friedlichem Wege ist historisch ohne Beispiel. Die Übernahme des europäischen Rechts und der gemeinsamen Werte öffnet den Neumitgliedern die Perspektive, an der Einigung Europas und einem wachsenden europäischen Wohlstand teilzuhaben. Weitere Länder können und werden beitreten. Bei einigen ist keine große Hürde zu überwinden (Norwegen, Schweiz, Island), bei anderen wird ein langer Prozess nötig sein (Albanien, Ukraine). Eine Union mit über 30 Mitgliedern ist nicht nur denkbar, sondern auch wünschenswert. Dieser Prozess ist ebenso alternativlos wie notwendig.
In Zeiten der Globalisierung, in denen nationalstaatliche Steuerungsmöglichkeiten schwinden, garantiert die europäische Integration politische Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit. Das „Euroland“ ist das erste Beispiel einer Zone vertiefter Integration: ein Raum mit einer gemeinsamen Währung, der für andere EU-Staaten prinzipiell offen steht. Auch im Bereich der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist denkbar, dass einige Mitgliedsstaaten enger kooperieren, ohne dass dieser Integrationsschritt sofort von allen Mitgliedern mitgegangen werden muss. Ein Novum wäre das keineswegs: Schon heute beteiligt sich beispielsweise Dänemark nicht an militärischen Aktivitäten der EU. Für jeden Mitgliedsstaat muss aber die Tür offen bleiben, sich anzuschließen.
Europa muss als Einheit auftreten
Eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, wie sie sich im Entwurf des Verfassungsvertrages findet, ist notwendig, um Europa eine Stimme zu geben. Europa muss als Einheit auftreten, will es neben den Vereinigten Staaten, aber auch neben den dynamisch wachsenden Mächten China und Indien wahrgenommen werden. In den 25 EU-Staaten leben 450 Millionen Menschen. Wir erwirtschaften ein Viertel des globalen Bruttosozialprodukts. Angesichts dieser Bedeutung muss sich die EU ihrer Verantwortung für die globale Sicherheit stellen; sie kann und muss ihren Beitrag zum Aufbau einer freieren und sichereren Welt leisten. Die europäische Sicherheitsstrategie, verabschiedet auf dem Brüsseler EU-Gipfel vom Dezember 2003, bildet eine gute gemeinsame Grundlage für neue Impulse im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Der belgische Ministerpräsident Verhofstadt schrieb jüngst in diesem Zusammenhang: „Fünfzig Jahre nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft steht das Vorhaben einer europäischen Verteidigung im Mittelpunkt des Interesses. Der Antrieb dazu stammt vom französisch-britischen Gipfeltreffen aus dem Jahre 1997 in St. Malo und vor allem von den gemeinsamen Vorschlägen Deutschlands, Frankreichs, Luxemburgs und Belgiens im Jahre 2003. Inzwischen besteht eine Europäische Verteidigungsagentur sowie eine strategische Analyse- und Planungszelle. Diese Zelle war zur Vorbereitung autonomer Einsätze der Europäischen Union erforderlich.
Das reicht jedoch nicht aus. Die europäische Außenpolitik wird erst glaubwürdig sein, wenn es eine echte europäische Verteidigung gibt, das heißt eine europäische Armee. Aber dafür muss man die Dinge auch beim Namen nennen, was in der Vergangenheit häufig Probleme verursacht hat. Das Schicksal des europäischen „Hauptquartiers“ illustriert dies in perfekter Weise. Der Vorschlag war 2003 von Deutschland, Frankreich, Luxemburg und Belgien unterbreitet worden, stieß aber auf heftigen Widerstand mehrerer Mitgliedsländer. Neun Monate später wurde eine Übereinkunft über etwas erzielt, das unter dem Namen „zivil-militärische Zelle“ bekannt wurde. Diese Zelle soll die Planung eigenständiger europäischer Einsätze sicherstellen, darf aber nicht den Namen „Hauptquartier“ im Titel führen, und darf ihren Sitz auch nicht in einem separaten Gebäude haben. All dies, um die Illusion aufrechtzuerhalten, dass die Europäische Union nicht im Begriff ist, eigene militärische Kapazitäten aufzubauen. Diese Art Potemkinscher Tätigkeiten muss aufhören.
Die Europäische Union muss über einen eigenen militärischen Arm aus Streitkräften, die von den Mitgliedsstaaten gestellt werden, verfügen. Diese Mitgliedsstaaten müssen einen Mindestprozentsatz ihres BIP zu Verteidigungszwecken veranschlagen, um die Glaubwürdigkeit der europäischen Verteidigung zu gewährleisten. Er soll natürlich aus nationalen Streitkräften bestehen, die als Pool für die Zusammensetzung der Europäischen Verteidigungsstreitkräfte dienen und auch andere Aufgaben wahrzunehmen haben. Im Prinzip darf nur die europäische Armee außerhalb der Europäischen Union tätig werden. Man kann sie für Evakuierungen, die Sicherung oder Wiederherstellung des Friedens, oder in bestimmten Fällen auch präventiv einsetzen.
Es versteht sich von selbst, dass diese europäische Verteidigung in strategischer Hinsicht nicht gegen die USA gerichtet ist oder das atlantische Bündnis untergraben soll. Ganz im Gegenteil. Eine gemeinsame europäische Verteidigung macht aus Europa einen dynamischen, gleichberechtigten Partner der USA. Eine gemeinsame europäische Verteidigung ergänzt die Allianz um eine starke und glaubwürdige europäische Säule. Eine europäische Armee schafft das Gleichgewicht innerhalb der NATO, und sie muss uns außerdem ermöglichen, den gemeinsamen Kampf gegen den Terrorismus besser zu koordinieren. Für die Vereinigten Staaten und die Europäische Union ist es von entscheidender Bedeutung, eine gemeinsame Strategie zu entwickeln. Eine Strategie der Partnerschaft unter Gleichen.“
Deutschland droht kein Angriff mit Panzern
Nationale Armeen werden in einer supranationalen EU mehr und mehr zu Relikten des vergangenen Jahrhunderts. Im Vergleich zu den Vereinigten Staaten sind unsere 25 nationalen Armeen teuer. Wir müssen die 160 Milliarden Euro, die die 25 Staaten der Europäischen Union jährlich in diesem Bereich ausgeben, effizienter einsetzen. Seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes im Jahr 1990 haben wir in allen Staaten Europas eine (wenn auch unterschiedlich große) Friedensdividende eingestrichen. Allein in Deutschland halbierte sich der Anteil der Verteidigungsausgaben am Bundeshaushalt von rund 20 auf 10 Prozent. Mehr kann bei der Bundeswehr nicht gespart werden, sonst kann sie ihren Auftrag nicht erfüllen.
Deutschland ist nicht mehr von Feinden, sondern von NATO-Partnern und EU-Mitgliedern umgeben. Das klassische Szenario der Landesverteidigung, ein großer Angriff auf Europa mit Panzerarmeen und Bomberflotten, ist unwahrscheinlich geworden. Europa sieht sich aber neuen Gefahren gegenüber. Und gerade für diese neuen Herausforderungen gilt: Sicherheit gibt es in Europa nur noch gemeinsam. Der beschlossene Aufbau von gemeinsamen Kriseninterventionskräften ist ein wichtiger Schritt hin zur Integration der nationalen Streitkräfte in künftige europäische Sicherheitsstrukturen.
Ein neuer Anlauf zur Verteidigungsunion
Im Jahr 1954 hat es schon einmal einen Anlauf zu einer Europäischen Verteidigungsunion gegeben. Mehr als 50 Jahre später könnte mit mehr Aussicht auf Erfolg ein weit größerer Schritt gemacht werden als der damals geplante. Wenn Deutschland mit einigen seiner Nachbarn wie zum Beispiel Frankreich und Polen einen solchen Prozess beginnen würde, sollte er offen für andere sein. Dem Prozess der europäischen Einigung würde dies einen neuen Impuls geben; Deutschland und Frankreich könnten wieder stärker ein Integrationsmotor sein.
Dabei bleibt für uns Europäer die Nato die strategische Klammer zwischen der EU und den Vereinigten Staaten. Aber ebenso wie die Vereinigten Staaten muss auch Europa in der Lage sein, gegebenenfalls eigenständig zu handeln. Die Vereinigten Staaten und die EU unter dem Dach der Nato – das sind im besten Fall strategische Partner höchster Effizienz. Im schlechtesten Fall sind sie Konkurrenten. Auf dem Balkan hat sich gezeigt, wie diese Partnerschaft Stabilität und Sicherheit schaffen kann.
Eine neue Initiative zur stärkeren Europäisierung der Streitkräfte würde nicht bei Null beginnen. Schon heute sind internationale Einsätze der europäischen Armeen ganz überwiegend multinational. Auf dem Balkan hat die EU erstmals selbst Verantwortung übernommen und leistete einen Beitrag zur weiteren Stabilisierung der Region. Darüber hinaus hat es in den vergangenen Jahren eine Reihe guter Beispiele für eine enge Zusammenarbeit der EU-Partner gegeben: die deutsch-französische Brigade, das Eurokorps in Straßburg, das European Airlift Centre in Eindhoven, das deutsch-niederländische Korps, das multinationale Korps Nord-Ost in Stettin, den gemeinsamen Minenabwehrverband der baltischen Staaten, das gemeinsame Marinehauptquartier der Benelux-Staaten in Den Helder. Auch die AWACS-Flotte ist – obgleich ein Projekt der Nato – ein Bespiel für kollektives Handeln in diesem Sinne.
Nicht jede Armee muss alles können
Auf diesen guten Erfahrungen aufbauend könnten die Armeen der EU-Mitgliedsstaaten nicht nur Kommandostrukturen und Fähigkeiten zusammenlegen, sondern auch Aufgaben teilen. Nicht jede Armee muss alles können. Auch hierfür gibt es in Europa erste Beispiele: Die Niederlande haben darauf verzichtet, neue eigene Transportflugzeuge zu beschaffen und beteiligen sich stattdessen an den entsprechenden Kapazitäten der Bundeswehr.
Wenn Deutschlands Sicherheit „am Hindukusch“ verteidigt wird, setzt das andere Strukturen und eine andere militärische Ausrüstung voraus als in den Jahrzehnten des Ost-West-Konfliktes. Die immer kostspieligere Entwicklung neuer Wehrtechnik hat bereits einen großen Integrationsschub nach sich gezogen – fast alle größeren Beschaffungsvorhaben der Bundeswehr sind multinationale Projekte. Dennoch bleiben große Effizienzreserven. Europäisch abgestimmte Normen und größere Beschaffungsmengen können einen Beitrag zur Kostensenkung, aber auch zur besseren Zusammenarbeit der europäischen Streitkräfte leisten. Die Europäische Verteidigungsagentur EDA ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Die engere Zusammenarbeit, die stärkere Integration der nationalen Streitkräfte in multinationale Strukturen, ist dabei so neu nicht. In den Zeiten des Kalten Krieges war der Grad der Integration höher als heute – aufgrund der kurzen Vorwarnzeiten war das notwendig. Die Bundeswehr war von Anfang an ein integraler Bestandteil der Nato und vollkommen auf die Nato-Strukturen ausgerichtet.
Kurzum: Die Integration der europäischen Streitkräfte hat längst begonnen. Viele Initiativen weisen in die richtige Richtung. Nötig sind nun neue Impulse, die über die Einzelprojekte hinausgehen. Nötig ist ein umfassendes Konzept. Eine solche Initiative dürfte sowohl innerhalb der Streitkräfte als auch in der Bevölkerung auf Zustimmung stoßen, sind doch in allen EU-Staaten die öffentlichen Budgets begrenzt. Schließlich böte eine stärkere Europäisierung der Armeen die Chance, knappe Mittel effizienter einzusetzen. Gleichzeitig würde ein solcher Integrationsschritt zur Entwicklung einer europäischen Identität betragen. Schließlich würde die Aufgabe von Souveränitätsrechten im Verteidigungsbereich beweisen, dass die Staaten der EU bereit sind, im Interesse der Sicherheit ihrer Bürger große Anstrengungen zu unternehmen.
Mit den Freunden ins Gespräch kommen
Diese Debatte kann sich nicht auf militärische Fragen beschränken. Zu diskutieren sind auch Fragen der demokratischen Legitimation, der politischen und parlamentarischen Abstimmungsprozesse und der Aufgabe nationaler Zuständigkeiten. Zudem ist zu überlegen, ob es ein europäisches Außen- und Verteidigungsamt geben soll und ob es einer einheitlichen Wehrverfassung in Europa bedarf.
Weil Armeen den Kern von Staatlichkeit betreffen, müsste langfristig auch die Staatlichkeit transformiert werden zu einem Staatenbund neuen Typs. Damit würde übrigens die alte sozialdemokratische Forderung des Heidelberger Programms von 1925 und des Programms des ADAV von 1865 verwirklicht. Aber das ist ein langer Weg. Wenn wir ihn gehen wollen, müssen wir darüber vor allem mit unseren französischen und polnischen Freunden ins Gespräch kommen. Nur was heute gemeinsam gedacht wird, kann später gemeinsame Wirklichkeit werden.