Generation Revolution: Die Berliner Republik braucht 1989 als ideele Ressource
Die selige Bonner Republik kommt wieder in Mode. Die Rückbesinnung hatte vor einigen Jahren ganz privat begonnen: Endzwanziger fingen damit an, die Identität ihrer Generation aus Spielzeugerlebnissen der Kindheit zu konstruieren. Damals rümpften viele Ältere ob dieser unpolitischen Lego-oder-Playmobil-Debatten noch die Nase. Doch nun hat es auch sie erwischt, das aber ganz politisch. Hemmungslos sehnen sie sich ebenfalls zurück: nach der guten alten Zeit, in der von Hartz IV, Promi-Dschungelcamps im Fernsehen, Präventivkriegen, deutschen Soldaten am Hindukusch, demografischen, terroristischen und sonstigen Bedrohungen noch nichts zu spüren war. So friedlich und zivil sei das Land damals gewesen, heißt es. Der Preis dafür wird darüber gerne vergessen: die permanente atomare Vernichtungsdrohung und die Unfreiheit im anderen Teil der Welt.
Die Linke verklärt die Ära Kohl
Gerade die deutsche Linke, die sich immerhin in Mutlangen wegtragen ließ und in Wackersdorf nass wurde, übt sich mittlerweile in einer konservativen Apologie der späten Bundesrepublik, bei der man sich verblüfft die Augen reibt. Vorbei die Zeiten, in denen man die achtziger Jahre unter Kohl als bleiern empfand. Für Sozialdemokraten sind es nunmehr die Jahre, in denen sie sich als Enkelgeneration hingebungsvoll im Stellungskampf um die Brandt-Nachfolge verlustierte und im Oppositionssandkasten eigentlich ein ganz schönes, weil verantwortungsloses Leben hatte. Damals konnte man immer dagegen sein, heute muss man immer dafür sein – was für jeden Rot-Grünen furchtbar anstrengend ist. Noch Anfang der neunziger Jahre weinte man der Bonner Republik kaum eine Träne hinterher. Im Jahr 2004 ist sie zum rosarot gefärbten Wunschtraum der grauen deutschen Gegenwart geworden. Genscher statt Westerwelle – so lautet das heimliche Leitmotiv der krisengeschüttelten „Retro-Republik“ (Die Zeit).
Von solchen regressiven Tendenzen muß sich eine an Gegenwart und Zukunft orientierte Politik befreien. Gerade die Jüngeren, auf die es künftig ankommt, dürfen nicht vergessen, dass es ein Zurück hinter die Epochenscheide 1989 nicht geben kann. Beim Abschütteln billiger Nostalgieanwandlungen können sie jedoch von den Älteren lernen. Denn es gab eine wirkungsmächtige ideelle Ressource, auf der die Bonner Republik ganz unnostalgisch ruhte: „1945“ war die Chiffre, unter der das politische Koordinatensystem des westdeutschen Teilstaats bis zuletzt funktionierte. Im „Nie wieder“ vereinte sich die skeptische Generation der Flakhelfer noch mit ihren protestierenden Gegnern der Achtundsechziger. Für beide blieb 1945 das prägende Datum, das sie auch dann virtuos-vehement ins Feld führten, wenn es sich und jeweilige Interessen durchzusetzen galt.
Fern im Osten wird es helle
Die Jüngeren sollten sich auf ihre eigene Jahrhundertzäsur besinnen: 1989 hätte das Potential, eine ähnliche Strahlkraft wie 1945 für die Generationen zuvor zu entwickeln. „Fern im Osten wird es helle / Graue Zeiten werden jung“, so dichtete Novalis 1799 – und seit ein paar Jahren können wir genau das in der jungen Kunst und Literatur beobachten. Der östliche Erfahrungsraum, der erst durch 1989 real werden konnte, erobert die deutsche Landschaft im Sturm: die Maler Neo Rauch und Norbert Bisky, die Schriftsteller André Kubiczek, Antje Rávic Strubel und Terézia Mora seien stellvertretend für viele genannt. Westdeutsche Geschichten über nachtblaue Hosen erscheinen dagegen plötzlich kindlich-leichtgewichtig.
Trotzdem kann auch für viele junge Westdeutsche, die 1989 vor dem Fernseher in Reutlingen angesichts ihrer mauersprengenden Landsleute mitweinten, jene Revolution identitätsstiftend werden. Denn viele erlebten danach ihren Osten, studierten hier, feierten Partys in verfallenen Hinterhöfen, reisten bis in die Ukraine, machten schließlich Karriere an Universitäten, in Unternehmen, Verwaltung oder Politik; vielleicht allzu rasch als „Generation Berlin“ rubriziert. In ihrem Buch „Aufgewacht! Mauer weg“ hat die westdeutsche Journalistin Susanne Leinemann vor einiger Zeit diese westliche Osterfahrung geschildert. Natürlich ist die Tabula-rasa-Prägung junger Ostdeutscher um ein vielfaches größer. Doch auch viele Westdeutsche sind im Osten auf ungeahnte Möglichkeitsräume gestoßen, die ihnen in den langweiligen, auf ewig vorgezeichneten Kontinuitätslinien der späten Bundesrepublik entgangen wären. Auch für sie wurde 1989 zum Wendepunkt von Lebenswegen. Eine gemeinsame „Schicksalslage“ (Helmut Schelsky) für Ost und West ist damit zumindest für diejenigen denkbar, die 1989 als prägendes Ereignis in jungen Jahren erlebt haben.
Noch allerdings herrscht eine seltsame Ignoranz gegenüber 1989. „Die Deutschen haben mit Revolutionen ... schlechte Erfahrungen gemacht“, behauptete jüngst beispielsweise der Bremer Historiker Paul Nolte, einer der eifrigsten Pack-an-Rhetoriker der vergangenen Jahre. Dabei ließen sich aus der glückhaften Revolution von 1989 jene ideell-emotionalen Ressourcen generieren, die der „Generation Reform“ (Nolte) so schmerzlich fehlen. Der Geist von 1989 bestand darin, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Genau diese Mentalität sollte sich die jüngere politische Generation in Deutschland bei ihren Profilierungskämpfen gegen die Älteren zu eigen machen. Die „Generation Revolution“ könnte es damit mindestens so weit bringen wie ihre Vorgänger.
„Heute frage ich mich, warum es mir so vorkommt, als wachse die Bedeutung des Umbruchs von 1989/90 mit jedem Jahr“ – so beschrieb der ostdeutsche Schriftsteller Ingo Schulze kürzlich seine Stimmung. Es wäre gut für die Berliner Republik, wenn er Recht behielte.