Konsensdeutschland, ein Wintermärchen
Danke für das Jahr 2002" - die großen Lettern in der Schaufensterauslage des Juweliers künden von vorweihnachtlicher Freude über geschäftlichen Erfolg. In Kampen auf Sylt ist die Republik noch in Ordnung. Der Immobilienmakler am Strön-Wai offeriert seine Objekte wie gehabt: "7,5 Millionen Euro" liest man in seinem Schaufenster, zu zahlen für ein größeres Haus im Ort, reetgedeckt. Fuhr nicht eben gar leise ein Maybach vorbei? Friedlich liegen ein paar Kilometer weiter in Keitum die Tannenzweige auf Rudolf Augsteins Grab. Keine Barrikaden, nirgends.
Deutschland im Krisenwinter? Ein Rückblick auf die publizistische Hinterlassenschaft dieses "Jahr des Jammerns" (taz) verursacht verwundertes Kopfschütteln. "Selten wirkte Deutschland so düster wie heute", hob verblüffend ahistorisch Ulrich Raulff in der Süddeutschen Zeitung an und wähnte die Republik "am Rande des Nervenzusammenbruchs". Es "herrscht Panik", diagnostizierte Jens Reich. Vor einem Jahr Argentinien, dann Venezuela - jetzt Berlin-Dahlem? "Ich habe Angst", schrieb ein dreißigjähriger Redakteur der Zeit, der sein frisch gekauftes Berliner Dachgeschoss und Frau und Tochter durch die Krise gefährdet sah.
Doch der Höhepunkt des feuilletonistischen Herbststurms der vergangenen Monate war zweifellos die "Revolutions"-Debatte, ausgelöst durch Arnulf Barings Aufruf zum Protest. Gegen die Regierung? Gegen das System? Jedenfalls auf den Barrikaden. Dazu scheint alles geschrieben und gesagt, ob ironisch kommentierend oder alarmistisch attackierend. Und doch lohnt ein Rückblick auf diese Diskussionen: Hier kann man einiges über unterschwellige Kontinuitäten in der deutschen politischen Kultur lernen.
Revolutionen wohin man schaut
Das Eruptive der Revolutionsrhetorik täuschte über die gängige Themenkonstellation hinweg. Arnulf Baring ist in seinem "Bürger auf die Barrikaden"-Aufsatz in der FAZ mitnichten von plötzlicher Altersradikalität befallen gewesen. Der 70-jährige Emeritus für Zeitgeschichte der Freien Universität Berlin stellt sich und seine zahlreichen Leser mental schon seit Jahren mit Bestsellern wie Unser neuer Größenwahn, Deutschland, was nun? oder Scheitert Deutschland? auf den Untergang der Bundesrepublik ein. Darüber ist Baring offenbar die theoretische Expertise in Sachen Aufstand abhanden gekommen, die er in jungen Jahren mit seiner maßstabsetzenden Dissertation über den 17. Juni 1953 besaß. Auch derjenige, der Baring das Forum für den Artikel bot, FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, verfügt über Revolutionskompetenz: In den vergangenen Jahren interpretierte er jedes neue Buch eines Jeremy Rifkin und jede neu entschlüsselte Klonsequenz als menschheitsgeschichtlichen Umbruch. Schirrmachers "zweites 1989" hat somit ebenfalls seine persönliche Vorgeschichte. Es war bei genauerem Hinsehen vielleicht nicht so überraschend, dass sich Schirrmacher und Baring angesichts einer konfusen Regierungspolitik dergestalt zu Wort melden würden.
Der Adressat ihrer Aufrufe, das bürgerliche Deutschland, war richtig gewählt: Revolutionen sind hierzulande, entgegen landläufigen Vorurteilen, zumeist bürgerliche Angelegenheiten. Man denke nur an das Paulskirchenparlament 1848, an die konservativen Revolutionäre in den zwanziger Jahren und an 1968 ff., als Bürgerskinder den Aufstand probten, sowie an den "deutschen Herbst" von 1977. Die Kämpferinnen und Kämpfer der beiden zuletzt genannten Jahre richteten sich übrigens vor allem auch gegen Sozialdemokraten in der Regierung. Der verstorbene französische Historiker François Furet hat in seinem letzten großen Werk Das Ende der Illusion: Der Kommunismus im 20. Jahrhundert auf die Ursache für die bürgerliche Revolutionsneigung verwiesen: Es gebe einen "Selbsthass" des Bürgertums, weil dieses nach 1789 nur die in der Französischen Revolution von ihm selbst postulierten Ideale der Liberté und Fraternité, nicht aber jenes der Egalité zu verwirklichen imstande gewesen sei. Dies wurde zum Movens des Unternehmersohnes Engels, des Rechtsanwaltsohnes Marx und des Schulinspektorensohnes und Juristen Lenin.
Die deutsche Sozialdemokratie dagegen ist - Eduard Bernstein sei Dank - seit nunmehr fast einhundert Jahren aufs Ganze gesehen revolutionsfeindlich. "Ich aber will sie nicht, ja ich hasse sie wie die Sünde", sagte Friedrich Ebert 1918 über sein Verhältnis zur Revolution. Eberts Diktum fügt sich in dieser Perspektive übrigens nahtlos in die (westdeutsche) sozialdemokratische Revolutionsfurcht von 1989, als beispielsweise Egon Bahr oder, auf seine Weise, Oskar Lafontaine aus ihrer Skepsis kein Hehl machten.
Die kulturkritischen Denkfiguren, die Barings Revolutionsrhetorik vorprägten, sind ebenfalls keine plötzlichen Erscheinungen des vergangenen Herbstes. Im abgelaufenen Jahr, in dem die Nation mehr über Möllemann, TV-Duelle und Jahrhundertfluten diskutierte als über das Ergebnis der Bundestagswahl, den Solidarpakt II oder dringende Renten- und Gesundheitsreformen, beklagte beispielsweise schon im Juni Jan Ross im Merkur die "verlorene Zeit": Damit meinte er die neunziger Jahre, in denen weltweit die notwendigen Aufgaben nicht angepackt worden seien, mittelmäßige Politiker herrschten und die Ideen des Jahrzehnts allenfalls eine "Reaktion auf die Gedanken der Achtziger" blieben. Dieses Unbehagen an der jüngsten Vergangenheit, das in ein Unbehagen an der Gegenwart mündete, ist ein klassischer Topos der Kulturkritik - hier pikanterweise auf eine Apologie der achtziger Jahre hinauslaufend. Der Herausgeber des Merkur, Karl-Heinz Bohrer, attackierte im gleichen Heft zum wiederholten Mal den deutschen "Konsens-Staat"; ähnliches las man ein paar Seiten weiter in Richard Herzingers Klage wider das hiesige "Beharren auf konsensualistischen Strukturen und das Festklammern am Harmonieideal der ‚Mitte′".
Der Intellektuelle liebt den Konsens nicht
Aber die Unzufriedenheit nicht nur mit der konkreten Politik, sondern auch mit der grundgesetzlichen "Innenausstattung der Macht" (Peter Glotz) ist ein ständiger Begleiter der bundesrepublikanischen Geschichte. Für diese Kritik an den Verhältnissen brauchte man kein Achtundsechziger zu sein: Der Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis beispielsweise ist seit den sechziger Jahren ein unermüdlicher Streiter für ein Mehrheitswahlrecht nach britischem Vorbild, das den angeblichen Gefahren der Konsensfalle entgegenwirken werde.
Nun ist für Intellektuelle der Konsens nicht sonderlich attraktiv; das Plädoyer für die kraftvolle Entscheidung fällt ihnen, die zumeist einsam am Schreibtisch vor sich hin produzieren, leicht und kostet nichts. Die Attraktivität von Tatmenschen für Wortmenschen ist ebenfalls ein bekanntes Phänomen der politischen Psychologie. Sie läßt sich besonders eindrucksvoll an neuen Affinitäten für Margaret Thatcher oder Ronald Reagan beobachten: Beide erleben gegenwärtig eine erstaunliche lagerübergreifende Renaissance, die ihnen Zeitgenossen kaum vorhergesagt hätten.
Dabei ist der modische Verweis auf die britische Entscheidungsmaschinerie als positives Gegenbild zur deutschen Verhandlungsapparatur im Grunde naiv. Selbst ein anglophiler Konservativer wie Alexander Gauland hat darauf verwiesen, dass die britische Gesellschaft keineswegs im Kern moderner sei als die deutsche, obwohl dort scharfe Schnitte und harte Kurswechsel verfassungsmäßig möglich und politisch gewollt seien. "Die Schlüsselworte der westdeutschen Gesellschaft sind Stabilität und Konsens", so Gauland in der Welt am Sonntag - und dies, historisch betrachtet, vollkommen zu Recht: Keine europäische Gesellschaft hat derartig starke Systemumbrüche und gesellschaftliche Verwerfungen erlebt und erlitten wie die deutsche im 20. Jahrhundert. Krieg und Diktatur, Instabilität und Inflation, Terror und Vernichtung, Vertreibung und Spaltung kennzeichneten den deutschen Weg. Die Lehren daraus waren Konsens und Stabilität. Mit dem viel gescholtenen Konsens hat die Bundesrepublik im ganzen weitaus glücklichere Erfahrungen gemacht. Noch einmal Gauland: "Denn es ist ja gerade die neuerdings wieder beklagte verfassungsmäßige Verriegelung und Verschränkung, die den Konsens erzwingt, der Reformen zwar langwierig und schwierig, aber auch dauerhaft macht."
Den Deutschen fehlt die letzte Reserve
Man wird nicht zum Apologeten des Stillstands, wenn man darauf verweist, dass Frankreichs Wirtschaftsdaten in den letzten Jahren trotz Kohabitation von sozialistischem Premier und gaullistischem Präsidenten, also trotz vergleichbarer institutioneller Hemmnisse des Regierens, weitaus besser waren als die Zahlen hierzulande. Es gibt in Deutschland keine vergleichbaren symbolischen Ressourcen als "letzte Reserve" wie die Queen, das Grande-Nation-Gefühl oder 1789, auf die in Krisenzeiten zurückgegriffen werden könnte. In der negativen historischen Erfahrung liegt der rationale Kern deutscher Konsensfixiertheit. Die Entdeckung und Durchsetzung des Konsensprinzips war die entscheidende Revolution im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Und wenn man sich die Zuckungen des europäischen Rechtspopulismus im vergangenen Jahr anschaut, von Fortuyn, Haider, Le Pen bis hin zu Berlusconi, kann man über das ach so erstarrte deutsche politische System mit seinem angeblich mittelmäßigen politischen Personal geradezu glücklich sein.
Entgegen vielfachen Behauptungen hat übrigens das hiesige politische System seine eigentliche Bewährungsprobe in einer Krise schon bestanden: Es bleibt, gerade im Vergleich mit anderen Ländern, im Grunde ein (mit vielen Milliarden erkauftes) politisches Wunder, dass die Integration Ostdeutschlands nach 1990 gelungen ist, ohne dass der dortige gesellschaftliche Totalumbruch zu Massenstreiks, massiver Gewalt oder auch nur anhaltender Systemopposition geführt hat. Die Wahlbeteiligung in Ostdeutschland bleibt trotz geringerer Verankerung westlicher Werte erstaunlich hoch. Nur die beiden großen bundesrepublikanischen Volksparteien haben bislang Ministerpräsidenten gestellt; die Protestpartei PDS ist, bis zu ihrem Niedergang, im 20-Prozent-Turm geblieben, egal, wie fluide die Wählermilieus auch waren.
Wollen wir wirklich den Zentralstaat?
Dies bedeutet kein Plädoyer für ein Weiter-so. Auch historische Erfahrungen können sich wandeln, und auch wenn das Streben nach Konsens bislang die richtige Antwort auf die deutschen Krisenerfahrungen des 20. Jahrhunderts gewesen ist, muss das nicht ewig weiter gelten. Nur kann man eben ohne Klärung der Frage, warum die deutsche Entwicklung so und nicht anders ihren Weg genommen hat, nicht zu einer einigermaßen plausiblen und sicher nötigen Neudefinition des Verhältnisses von Konsens und Entscheidung kommen. Allerdings stimmen manche Vorschläge skeptisch. Plausibel sind Verlängerungen von Legislaturperioden und die Verkleinerung von Parlamenten. Wer allerdings davon schwadroniert, die Landtagswahlen immer parallel am gleichen Tag abzuhalten, wird rasch im Zentralstaat landen. Landtagswahlen darf man aus prinzipiellen Erwägungen nicht instrumentell und als Hindernis für die Bundesebene begreifen. Dies widerspräche Geist und Logik des Föderalismus und wäre zudem eine Missachtung von Wahlen als Kernelement der Demokratie.
"Die Briten sollten den Ball flach halten"
Auch in einer weiteren Hinsicht zieht der Vergleich mit Großbritannien nicht: Oft ist zu hören, den Deutschen stünden ähnliche Umwälzungen bevor wie den Briten unter der Eisernen Lady. Dabei war die wirtschaftliche Lage in England Ende der siebziger Jahre durch einen bereits Jahrzehnte währenden Niedergang mit massenhafter Verelendung geprägt. Das machte Thatchers Revolution nötig - und zugleich erst möglich. Von dergleichen kann im Weihnachtsgeld-Deutschland auf absehbare Zeit nicht die Rede sein - zumindest solange es bei einem "Formtief" bleibt, wie Peter Scholl-Latour den aktuellen deutschen Zustand in der Bild-Zeitung bewertete. "Deshalb könnten die Engländer ruhig mal den Ball flach halten", kommentiert der frankophile Weltkenner die kritische Deutschland-Berichterstattung des Economist.
Tatsächlich spricht die mittlerweile jahrzehntelange gewohnheitsmäßige Akzeptanz von drei bis vier Millionen Arbeitslosen gegen akute Untergangsszenarien. Die plötzliche Krisendiskussion war ja nicht zuletzt deswegen so heuchlerisch, weil jeder die Kernprobleme der deutschen Gesellschaft seit Jahren täglich ausführlich in den Zeitungen analysiert bekam. Überalterung, Massenarbeitslosigkeit, zu geringe Beschäftigungsquote, ein zu unübersichtliches Steuersystem - all das hatten angesichts ihrer rasanten Börsengewinne dieselben Leute geflissentlich überlesen, die nun auf einmal die Revolution herbeiriefen.
Es bleibt die Frage, warum die Aufwallungen eines 70-Jährigen so viel Resonanz bei der Generation Golf erfuhr. Allein mit dem Anstieg der Krankenkassenbeiträge lässt sich dies gewiss nicht erklären. Zunächst einmal war es ein mediales Phänomen: "Kann es sein, ... dass die unsichtbaren Klammern von Demokratie und Publizistik, die ein halbes Jahrhundert hielten, sich allmählich lösen?" sorgte sich Ulrich Raulff. Seit Leo Trotzki und Ulrike Meinhof ist die Anfälligkeit von Journalisten für Radikalismus jedweder Couleur gut bekannt. Der Eigengesetzlichkeit des medialen Subsystems entspricht es zudem, Resonanzkörper für maximale Zuspitzungen zu sein, damit man im allgemeinen Grundrauschen überhaupt noch gehört wird. Die eigentliche Ursache für die Affinität zum Radikalismus liegt jedoch im Kompensationscharakter der Revolutionsrhetorik für eine (westdeutsche) Generation, die mehrheitlich weder Straßenkämpfe noch soziale Bewegungen erlebt hat.
Die unbestimmte Sehnsucht nach der "Tat" haben die Durchnäßten von Brokdorf oder die Blockierer von Mutlangen noch ausleben können - von Hausbesetzern und Putztruppenangehörigen wie Joschka Fischer ganz zu schweigen. Dagegen leben die Nachkommenden von einer unterschwelligen Romantik des Handelns, die sie allenfalls beim massenhaften Besuch von RAF-Filmen ausagieren. Dieser Erfahrungsmangel gebiert denn auch eine Protestform, die als Farce erscheint: Wer sein "letztes Hemd" dem Kanzler schickt, offenbart die eigene Unfähigkeit zum Widerstand. Um in gesellschaftlichen Kämpfen zu bestehen, bedürfte es eben doch anderer Fähigkeiten als Powerpoint-Kompetenz oder HTML-Kenntnisse. Das gilt übrigens auch für die Linke: Von Attac ist trotz allgemeinem Krisenempfinden bemerkenswerterweise kaum etwas zu vernehmen.
"Mir nach. Ich weiß, wo wir sind."
Diese Diagnosen sind für die Zukunft der deutschen Gesellschaft alles in allem beruhigend. Für Rot-Grün allerdings heißt das aber keineswegs Entwarnung. Denn Konsens darf keineswegs mit Richtungslosigkeit verwechselt werden, Konsenssuche nicht mit Moderation. Politik bedeutet immer noch vor allem Führung. Konsens und Führung bedingen einander. Die Sozialdemokraten sollten das Menetekel der französischen Sozialisten vor Augen haben, die trotz erfolgreicher Politik nicht zuletzt deshalb abgewählt wurden, weil es ihnen an der Verkörperung von Führungsfähigkeit mangelte. Tony Blairs bei aller Sprunghaftigkeit kaum bezweifelbare Führungskraft sowie mehr noch Göran Perssons schwedisches Beispiel eines konsensualen Führungswillens sind erfolgreiche Vorbilder für deutsche Sozialdemokraten. Auch die bundesrepublikanische Geschichte zeigt, dass führungsschwache oder sich allein auf Moderation beschränkende Kanzler wie Ludwig Erhardt und Kurt-Georg Kiesinger nicht lange im Amt blieben.
Ein paar Tage vor der jüngsten Bundestagswahl landete Gerhard Schröder mit seinem Hubschrauber bei Talle, dem Ort seiner Kindheit. Ein Wahlkampfauftritt sollte hier stattfinden, aber niemand im Tross wusste genau, wo. Doch Schröder kannte sich aus und führte den Pulk: "Mir nach. Ich weiß, wo wir sind." In diesen Worten ist beides enthalten: sowohl Ortsbestimmung als auch Kenntnis des Ziels. Wenn der Kanzler davon wieder etwas auf die Berliner Politik zu übertragen vermag, dann sagt vielleicht in einem Jahr nicht nur der Juwelier in Kampen: "Danke für das Jahr 2003."