Willys schwarze Witwe tratscht
Eine „grauenhafte junge Frau“: Was der Feuilletonist im Oktober 1987 nach einem gemeinsamen Abend in sein Tagebuch schrieb, ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. „Am Tisch Willy Brandt, heiter-resigniert, voller Anekdoten und Sottisen“, neben diesem jedoch besagte Dame, „besserwisserisch, oberlehrerhaft, ihm (und anderen) über den Mund fahrend. Deutsche Hausfrau, promoviert.“ Fritz J. Raddatz’ Entsetzen kann man in seiner im vergangenen Jahr erschienenen Autobiografie nachlesen.
Mit seinem drastischen Urteil steht er jedoch nicht allein: Schon zu Lebzeiten ihres Mannes unter ihren Genossen kaum gelitten, wurde die Witwe Willy Brandts nach dessen Tod 1992 rasch zur bevorzugten Hassfigur vieler aufrechter Sozialdemokraten. Hatte sie nicht dafür gesorgt, dass in seinen Erinnerungen von 1989 ihre Vorgängerin Rut Brandt kein einziges Mal erwähnt und diese nicht einmal zur Beerdigung geladen wurde? Waren nicht Willys patriotische Töne 1989/90 Produkt ihrer Einflüsterungen? Via Frankfurter Allgemeine attackierte damals die Frau des SPD-Ehrenvorsitzenden ein ums andere Mal die Sozialdemokratie, deren postnationale Enkelgeneration lieber nach Italien fuhr, als mit den Leipziger Demonstranten „Wir sind ein Volk!“ zu rufen.
Neue objektive Erkenntnisse fehlen
Nun hat die Historikerin, mittlerweile mit Hilmar Kopper, dem Ex-Vorstandschef der Deutschen Bank, verheiratet, ihr drittes Buch über einen sozialdemokratischen Parteivorsitzenden vorgelegt. Nach Erich Ollenhauer (1984) und August Bebel (1988) widmet sie sich Willy Brandt, mit dem sie seit 1979 zusammenlebte. Dass das eine heikle Angelegenheit werden würde, war vorherzusehen; allzu große Nähe zum Gegenstand trübt bekanntlich den Blick. Es ist ein 450-Seiten-Zwitter entstanden, einerseits eine herkömmliche Biografie, andererseits ein von persönlichen Erinnerungen geprägter Porträtversuch. „Die subjektive Erfahrung unterlegt mit objektiver Erkenntnis“, nennt die Autorin das im Vorwort.
Neue objektive Erkenntnisse vermag Brigitte Seebacher allerdings nicht mitzuteilen, zumal Brandts Lebensweg in den beiden auf umfangreichen Archivstudien gründenden Biografien von Peter Merseburger und Gregor Schöllgen zuletzt ausführlich präsentiert wurde. Im Literaturverzeichnis fehlen beide, was nicht gerade edlen Motiven der Autorin geschuldet sein dürfte.
Brigitte Seebacher referiert Altbekanntes über Brandts Emigrationsjahre in Norwegen und Schweden; auch der Aufstieg nach der Rückkehr in norwegischer Uniform zum Regierenden Bürgermeister in Berlin, SPD-Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten wird vergleichsweise blutleer geschildert. Die Zeit als Außenminister und Kanzler zwischen 1966 und 1974 wird im Schnelldurchgang erzählt; nur bei Schlüsselszenen wie dem Besuch in Erfurt 1970 oder dem überstandenen Misstrauensvotum im April 1972 verweilt die Autorin ausführlicher.
Der Mann mit der Mundharmonika wird entlarvt
Zwei Dinge liegen Brigitte Seebacher besonders am Herzen: Mit verwirrender Lust am Detail klärt sie noch einmal die Frage nach Brandts Vater. Und schließlich will sie in einem fast fünfzigseitigen „Exkurs“ den Mann mit der Mundharmonika endgültig entlarven: Herbert Wehner, den ewigen Verräter. Vom dämonischen Wehner ist Brandts Witwe immer noch besessen. Sie zieht eine Linie von dem Mann, der seine kommunistischen Genossen in der Moskauer Emigration an Stalins Geheimpolizei auslieferte, zum sozialdemokratischen Fraktionsvorsitzenden, der seinen Kanzler 1974 angeblich durch ein Komplott mit Honecker zu Fall brachte.
Mit dem Kommunismus habe Wehner nie gebrochen, so ihre Überzeugung. Zwar wird der Historiker Reinhard Müller in seiner im Herbst erscheinenden dickleibigen Monographie neue, erdrückende Fakten über den Schergen Wehner im Moskau der dreißiger Jahre ans Licht bringen; zwar hat Brandt selbst nach seinem Rücktritt immer mal wieder über die Rolle Wehners sinniert, vor allem in seinen legendären „Notizen zum Fall Guillaume.“ Doch auch eine noch so vehement präsentierte Indizienkette anhand vielerlei Akten vermag den kritischen Leser nicht restlos zu überzeugen; der Fall Wehner bleibt diffus und kompliziert, auch wenn die Autorin das anders sieht. Er entzieht sich dem detektivischen Furor Brigitte Seebachers.
Mit Lafontaine währte die Freude nicht lange
Biografische Arbeiten können nicht diskret sein; sie leben vom voyeuristischen Interesse. Das bedient die Witwe in überreichem Ausmaß. Ihre Tritte unter die Gürtellinie nach allen Seiten lassen den Leser befremdet den Kopf schütteln; eigentümlich faszinierend ist diese schonungslose Offenheit dennoch. Hans-Jochen Vogel ist ein Mann mit besonderen Kontakten zu den „Diensten“, also zu BND und Verfassungsschutz; Helmut Schmidts „Komplex“ gegenüber dem französischen Präsidenten Giscard d’Estaing habe Brandt auf Schmidts „kleinbürgerliche Züge“ zurückgeführt. Johannes Rau habe sich der Aufgabe der Kanzlerkandidatur 1987 „so gar nicht gewachsen“ gezeigt und ständig Zahnweh gehabt, Hans Koschnick, eigentlich mal als Nachfolger gedacht, war nie da, wenn es galt. Mit dem Ehepaar Lafontaine im französischen Ferienhaus Brandts „währte die Freude nicht lange. Wir fühlten uns wie Gäste im eigenen Haus. Den privaten Verkehr ließen wir auslaufen.“
Überhaupt, der Saarländer: Er, der Willy von allen Enkeln am meisten enttäuschte – ausführlich wird die tiefe Abneigung 1989/90 geschildert –, blieb im Madrider Hotelbett liegen, als er eigentlich mit Brandt Felipe Gonzáles treffen sollte, den spanischen Sozialistenführer und von Brandt selbst erkorenen „Enkel“. Gonzáles sollte Jahre später beim Staatsakt im Reichstag dem Verstorbenen ein bewegendes „Adiós amigo“ nachrufen. Das sozialdemokratische Panoptikum wird durch Gerhard Schröder komplettiert. Enttäuscht und verwirrt sei der alte Brandt gewesen, als er 1992 den Niedersachsen zufällig im Bonner Bundeshaus getroffen habe und ihm ein Treffen anbot, was Schröder ablehnte: „‚Ich bin jetzt Ministerpräsident von Niedersachsen und habe keine Zeit mehr.‘ Es sollten die letzten Worte sein, die Gerhard Schröder an W.B. richtete.“
Unter einem Baume bei Mitterands
So in einem fort, das ganze Buch über. Viele der Urteile Brandts, die aus dem Moment heraus entstanden, werden von der Autorin ins Generelle überzeichnet. Dabei gelingen ihr durchaus kluge, einfühlsame Bilder, vor allem in der Parallelisierung mit anderen Politikern. Klaus von Dohnanyi und Brandt als die beiden einzigen Genossen, die die Einheit 1989/90 wirklich verstanden – Emigrant der eine, Sohn eines hingerichteten 20.-Juli-Mannes der andere. Helmut Schmidt als ehemaliger Soldat ein aufs Militärische konzentrierter Ordnungsmensch, nicht in sich ruhend; Brandt dagegen der libertäre Gefühlsmensch, einzelgängerisch und das Politische immer stärker gewichtend. Und schließlich Mitterand, „Jongleur und Machiavellist, Fatalist und Zyniker“, Brandt dagegen der „Mystiker und Melancholiker, der geliebt sein wollte“ – beide zusammen unter einem Baum im Garten von Mitterands Schwiegereltern sitzend und die Nachrüstung beredend.
Natürlich quillt aus jeder Zeile der Wille zur Stilisierung hervor. Doch wer fände keinen Gefallen an der Geschichte, dass de Gaulle dem Außenminister und Anti-Nazi Brandt die Anrede der Résistance erlaubte („Mon Général“) oder am Blick des jungen Willy, der in die Türme der Marienkirche geklettert war und von dort hinab auf seine Heimatstadt Lübeck schaute?
Bodenlose Niedertracht, mädchenhafter Trotz
Doch am Ende überwiegt das Kopfschütteln: Symptomatisch ist die bodenlose Niedertracht, wie sie in Seebachers Beurteilung von Rut Brandt steckt. Bei der Scheidung habe diese zu viel Geld gefordert; ihren todkranken Mann verließ sie 1948 für Willy (lies: ich habe den meinen bis zum Schluss gepflegt!); Rut habe im Gegensatz zu allen vorherigen und nachfolgenden Frauen Brandts keinen Beruf gehabt, ihre Ansprüche hätten trotzdem die finanziellen Möglichkeiten überschritten; und an Brandts Depressionen („Ausdruck extremer Einsamkeit“) sei sie auch schuld, da er vor und nach Rut diese Schübe nicht gekannt habe. „Mit Dir wäre mir das nicht passiert“, soll Brandt über seinen Rücktritt 1974 später zu Brigitte gesagt haben. Kein Wort von ihr darüber, dass Rut drei Kinder aufzog, während der ständig abwesende Mann seine Karriere verfolgte und sie zudem notorisch betrog.
Gerechtigkeit ist Brigitte Seebachers Sache nicht. Mädchenhafter Trotz und ein emanzipiert-anarchischer Zug sind der finanziellen Förderin des Regierebellen Christoph Schlingensief eigen. Sie holzt sich durchs sozialdemokratische Gestrüpp und grätscht auch von hinten rein, wenn es ihre Wahrheit denn verlangt. So erfährt der Leser von den Themen der einstündigen wöchentlichen Vieraugengespräche zwischen dem Parteivorsitzenden Brandt und Kanzler Schmidt: Ärzte und Frauen. „Wie er damit durchkomme...“, habe Brandt respektvoll gestaunt, gemünzt auf die Eroberungen des seit 1942 mit Loki verheirateten Herzschrittmacherträgers.
Sie hat ihn kaum wirklich verstanden
Brigitte Seebacher hat ein doppeltes Verteidigungsbuch geschrieben, mehr als ein Jahrzehnt nach Willy Brandts Tod: gegen seine – aus ihrer Sicht – falschen Freunde und Verehrer und gegen die Kritiker ihres Brandt-Bildes, das sehr viel nationaler, deutschlandfixierter als üblich ausfällt. Obwohl er ihr kurz vor dem Tod sagte, sie solle ein Buch über ihn schreiben – eine Flaschenpost der „sozialdemokratischen Jahrhundertgestalt“ (Hans-Peter Schwarz) ist es ganz gewiss nicht geworden. Unwillkürlich fragt man sich nach der Lektüre: Wie nah war sie Willy Brandt wirklich, dieser „Doppelexistenz von Akteur und Beobachter“? Brigitte Seebacher inszeniert ihren verstorbenen Mann als großen Verkannten, ja Unverstandenen, der, umgeben von subalternen Figuren und Gegnern, im Grunde immer in Feindesland gewesen ist. Sie, die mit ihm lebte, hat ihn kaum wirklich verstanden.
Brigitte Seebacher, Willy Brandt, München: Piper Verlag, 2004, 455 Seiten, 22,90 Euro