Die Kreativität der Besiegten
Hannover, 11. Dezember 1987: Man dürfe "das Dokument nicht den Epplers allein überlassen", sagt Gerhard Schröder. Aufmerksam registriert der Leiter der für die Bundesrepublik zuständigen ZK-Abteilung der SED bei seinem Besuch diese Worte und informiert schon am nächsten Tag das Politbüro: Schröder, Oppositionsführer im niedersächsischen Landtag, habe um ein Symposium in der DDR gebeten, an dem er gern teilnehmen wolle. Thema solle das gemeinsame Dokument Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit sein - so der offizielle Titel des bis heute als SPD-SED-Papier bezeichneten Textes. Zwei Monate zuvor hatte sich der Sozialdemokrat gegenüber SED-Vertretern sogar eine Konferenz im heimatlichen Hannover zum Papier gewünscht. Was war das für ein Text, der den bekanntlich nicht unbedingt theoriefreudigen Gerhard Schröder derart faszinierte?
Das SPD-SED-Papier von 1987 ist bis heute der umstrittenste programmatische Text der - an theoretischer Hinterlassenschaft gewiss nicht armen - deutschen Sozialdemokratie. Seit 1984 hatten sich Vertreter der SPD-Grundwertekommission mit Abgesandten der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED mehrfach zu Wochenendseminaren getroffen, um miteinander über "Grundfragen der Epoche" zu sprechen. Mal tagte man am brandenburgischen Scharmützelsee, mal in Freudenberg im Schwarzwald. Man sprach über die Probleme der Dritten Welt, über die Zukunft der menschlichen Arbeit, über friedliche Koexistenz und Sicherheitspartnerschaft, versuchte sich in Antworten auf die Frage: "Was ist Fortschritt?" und diskutierte auf der letzten Zusammenkunft im März 1989 über die Menschenrechte. Erhard Eppler hatte beim Treffen im Februar 1986 spontan die Idee, zu den besprochenen Themen ein gemeinsames Papier zu verfassen - die SED-Seite willigte ein. Dieses Papier, maßgeblich formuliert von den Gesprächsteilnehmern Thomas Meyer, Mitglied der SPD-Grundwertekommission, und Rolf Reißig, Professor an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften, wurde am 27. August 1987 parallel in Bonn und Ost-Berlin vorgestellt.
Obgleich immer wieder heftig debattiert, sind die genauen Inhalte des Papiers heute ziemlich vergessen. Worin bestanden sie? Der erste Abschnitt des Papiers, "Friedenssicherung durch das Prinzip der gemeinsamen Sicherheit" überschrieben, konstatierte die zentrale Bedeutung der Friedenssicherung im Zeitalter der atomaren Bedrohung und betonte, diese sei nicht mehr gegeneinander zu errüsten, sondern miteinander zu vereinbaren. Ost und West müssten lernen, "miteinander zu leben und gut miteinander auszukommen."
Unter der Überschrift "Friedlicher Wettbewerb der Gesellschaftssysteme" gingen die Autoren von den entgegengesetzten Interessen der beiden Systeme aus, um aber als Prinzip den friedlichen Wettbewerb festzuhalten, in dem jedes System durch Beispiel die Menschen von seinen Vorzügen überzeugen will. Der Wettbewerb solle darum geführt werden, welches System den "wirksamsten Beitrag zur Lösung der übergreifenden Menschheitsfragen leistet und welches die günstigsten Bedingungen für die Entfaltung von Humanität bietet. Wettstreit und Zusammenarbeit bilden eine Einheit."
Im dritten Abschnitt, "Notwendigkeit einer Kultur des politischen Streits und des Dialogs" genannt, stellten beide Seiten ihre unterschiedlichen Grundwerte dar. Nach dem programmatischen Anfang "Wir, deutsche Kommunisten und Sozialdemokraten" und dem Verweis auf den sieben Jahrzehnte währenden bitteren Streit beider Seiten, werden die Positionen zu Demokratie, Menschenrechten und Pluralismus einander gegenübergestellt. Im Wettbewerb der Systeme über diese Positionen seien Regeln der Fairness zu beachten: Diffamierung, Feindbilder, Verzerrungen solle es nicht geben.
Der vierte Abschnitt formuliert "Ansätze für eine Kultur des politischen Streits". Da hieß es: "Beide Seiten müssen sich auf einen langen Zeitraum einrichten, während dessen sie nebeneinander bestehen und miteinander auskommen müssen. Keine Seite darf der anderen die Existenzberechtigung absprechen. Unsere Hoffnung kann sich nicht darauf richten, dass ein System das andere abschafft. Sie richtet sich darauf, dass beide Systeme reformfähig sind. Beide Systeme müssen sich gegenseitig für friedensfähig halten." Vor allem an diesen als Legitimation für die SED interpretierbaren Formulierungen entzündete sich später der Streit über das Papier in der öffentlichen Diskussion der Bundesrepublik. Das Nebeneinander von Streit und Zusammenarbeit bei der Sicherung der grundlegenden Menschheitsinteressen (neben dem Frieden die Erhaltung der Biosphäre und die Überwindung von Hunger und Elend in der Dritten Welt) müsse, so die folgenden Sätze im Papier, zum Normalfall werden.
Im fünften Abschnitt wurden dann konkrete "Grundregeln einer Kultur des politischen Streits" aufgelistet: Kritik dürfe nicht als Einmischung verstanden werden. Man solle sich bei Kritik zuerst in die Logik der anderen Seite hineindenken, um aggressive Polemik zu vermeiden. Eine offene Diskussion müsse auch innerhalb jedes Systems möglich sein, und es müsse um der Informiertheit der Bürger des jeweiligen Systems willen der Zugang zu Publikationen und Zeitungen der anderen Seite gewährleistet werden. Der Dialog zwischen allen Personen und gesellschaftlichen Kräften sei über die Systemgrenzen hinweg zu sichern - etwa durch Teilnahme an Seminaren und Veranstaltungen.
Über den alten Schützengräben liegt noch Pulverdampf
Auch wenn der Text aus heutiger Sicht oftmals einen nicht mehr ohne weiteres verständlichen ideologischen Sound der achtziger Jahre besitzt: Das Papier und die Gesprächsrunden waren in mehrfacher Hinsicht eine Sensation. Zum ersten Mal debattierten Sozialdemokraten und Kommunisten in gleichberechtigter Form, offiziell und zumindest halböffentlich über Werte und Ideologien. Es handelte sich nicht um eine einmalige Veranstaltung - die Runden trafen sich regelmäßig, mehrere Jahre lang. Im Gegensatz zur deutschlandpolitischen "Normalität", die alle Beteiligten in Ost und West während der achtziger Jahre zum obersten Prinzip erhoben, gab es hier den Streit über Normen und Grundsätze, den man im Business as usual der Fototermine Bonner Politiker bei Erich Honecker vermisste. Hinzu kam etwas anderes: Wann hatte es das jemals gegeben, dass die Grundwertekommission der SPD, eine innerparteilich oft belächelte Theoretikerversammlung, auf einem zentralen Politikfeld der Sozialdemokratie, nämlich der Ost- und Deutschlandpolitik, ganz praktisch aktiv werden konnte? Auf einem Feld zudem, dass, trotz der Bonner Oppositionsrolle, von Egon Bahr und vielen anderen während der achtziger Jahre fleißig beackert wurde - was die unionsgeführte Regierung nicht gerade freundlich als "Nebenaußenpolitik" apostrophierte?
Das Papier war eine Provokation. Formulierungen wie "Existenzberechtigung", "Friedensfähigkeit" und "Reformfähigkeit", die beide Seiten einander attestierten, forderten die Kritiker des Papiers innerhalb und außerhalb der Partei heraus. Bedeutete die Verwendung dieser Begriffe die geistige Anerkennung der östlichen Diktatur? Der Streit darüber, ausgebrochen schon kurz nach der Veröffentlichung, dauert bis heute an, und er wird nach der Epochenscheide 1989 scheinbar noch heftiger geführt. Nicht einmal das "Schröder-Blair-Papier" von 1999 hat vergleichbar unversöhnliche Debatten ausgelöst. Vorzugsweise im Vorfeld möglicher politischer Koalitionen mit der PDS treten Kritiker auf den Plan und führen das Papier von 1987 als geistigen Sündenfall der Sozialdemokraten gegenüber dem Kommunismus an.
Zum 10. Jahrestag des Papiers beispielsweise verfasste 1997 der damalige CDU-Generalsekretär Peter Hintze in der Zeit eine Polemik gegen das "rot leuchtende Beispiel für die offene Flanke der westdeutschen Sozialdemokraten nach linksaußen", der an gleicher Stelle Gräfin Dönhoff, Erhard Eppler und Johano Strasser scharf entgegentraten. Die Verteidiger des Papiers sind verbal und personell gerüstet: Das verfemte Dokument nannte die Friedrich-Ebert-Stiftung 1997 eine Broschüre zum Papier. Und Zeit-Korrespondent Gunter Hofmann verwahrt sich in seiner soeben unter dem Titel Abschiede, Anfänge erschienenen Anatomie der Bundesrepublik gegen alle Versuche, die Gespräche und das Papier nachträglich als Verrat am Vaterland zu denunzieren.
Doch die Kritik verstummt nicht: Noch am Anfang dieses Jahres stellte die Neue Zürcher Zeitung anlässlich der Berliner Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und PDS auf der ersten Seite fest, "dass sich auch die Bundespartei in den achtziger Jahren zur Kumpanei bereit fand. Die Anbiederung fand ihren Höhepunkt in einem gemeinsamen Papier von SED und SPD, in dem ohne Vorbehalt die sozialdemokratischen und kommunistischen Vorstellungen von Demokratie als gleichwertig hingestellt wurden." Auch die Frankfurter Allgemeine erinnerte in ihrem Leitartikel aus gleichem Anlass an das Papier "unseligen Angedenkens", in dem die Sozialdemokraten "um eines faulen Friedens willen jene Unterschiede einebneten, die sie einst zu Todfeinden der kommunistischen Ideologie gemacht hatten."
Der Pulverdampf über den ideologischen Schützengräben einer vergangenen Epoche verzieht sich offenbar nur langsam. Wenn man eine nüchterne Analyse des SPD/SED-Papiers sucht, um sich jenseits der Kampfbegriffe und Schlagworte ein Bild zu machen, wird man nur schwer fündig. So findet sich beispielsweise in Franz Walters im Frühjahr publizierter Geschichte der Sozialdemokratie (Die SPD. Vom Proletariat zur Neuen Mitte) nicht ein einziger Hinweis auf diesen heiß umstrittenen Aspekt der Parteigeschichte - ebenso wenig wie auf Erhard Eppler übrigens, ohne den die SPD der achtziger Jahre schlechterdings nicht verstehbar ist. Es ist zu hoffen, dass der östliche Mitautor des SPD/SED-Papiers, Rolf Reißig, in seiner im August erscheinenden ersten umfassenden Darstellung der Geschichte und der Wirkung des Papiers die Wissenslücken schließen wird.
Eine Historisierung des Papiers erscheint nach allen zyklischen Aufregungen nunmehr überfällig. Für die Bundesrepublik und die sozialdemokratische Seite lautet die Frage: In welchem gesellschaftlich-kulturellen Umfeld gedieh dieser kontroverse Text? Wo sind seine geistigen Voraussetzungen zu suchen?
Scheitern als Chance?
Sucht man nach dem historischen Kontext des SPD-SED-Papiers, muss man sich die Sozialdemokratie nach ihrem Machtverlust 1982 vergegenwärtigen. Diese Niederlage hatte für den sozialdemokratischen Ideenhaushalt weitreichende Konsequenzen.
"Im Besiegtsein liegt offenbar ein unausschöpfbares Potential des Erkenntnisgewinns" - mit dieser scheinbar banalen Feststellung beschreibt der Historiker Reinhart Koselleck ein Phänomen, das auch in der politischen Geschichte der Bundesrepublik in vielfältigen Ausprägungen zu entdecken ist. Das Godesberger Programm der SPD von 1959 und die außenpolitische Wende der Partei 1960 hatten ihre Wurzel nicht zuletzt in der desaströsen Niederlage der Sozialdemokraten bei der Bundestagswahl 1957 und der Auszehrung durch die erzwungene Machtabstinenz während der fünfziger Jahre. Auch die neue, amerikanisierte Wahlkampagne Brandts 1961, noch erfolglos, entsprang diesem Erkenntnisgewinn. Und der sich in der Tutzinger Formel "Wandel durch Annäherung" von 1963 verdichtende ost- und deutschlandpolitische Strategiewechsel der Berliner Bahr und Brandt war eine Reaktion auf "Niederlage" des Mauerbaus zwei Jahre zuvor.
Aber auch bei der Union finden sich Beispiele für "Niederlagendenken" (Wolfgang Schivelbusch). Jüngst hat noch einmal Frank Bösch in seinem Buch Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU Helmut Kohl als einen der "größten Reformgeister der Parteigeschichte" charakterisiert: Die historische Niederlage bei der "Willy"-Wahl 1972, bei der die Union erstmals im Stimmenanteil hinter die SPD zurückfiel, trieb den seit 1973 amtierenden CDU-Vorsitzenden zur grundlegenden programmatischen und organisatorischen Umwandlung der CDU in eine modern strukturierte Volkspartei. Zumindest einige Jahre dirigierte der Quereinsteiger und Professor Kurt Biedenkopf als Generalsekretär den Apparat, die Partei regenerierte sich in der Opposition. Scheitern als Chance?
Der Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch hat mit seinem im vergangenen Jahr erschienenen Buch Die Kultur der Niederlage Furore gemacht. Am Beispiel der amerikanischen Südstaaten 1865, Frankreichs 1871 und des Deutschen Reiches von 1918 entwickelte er in dieser mentalitätsgeschichtlichen Untersuchung eine Phänomenologie der Niederlage. Assoziativ lassen sich Schivelbuschs Beobachtungen auf den Bonner Machtverlust der SPD 1982 übertragen, immerhin die schwerste Niederlage der deutschen Sozialdemokratie nach 1945.
Von der moralischen Macht der Verlierer
"Zu schwach, dem Ansturm der Barbaren militärisch Widerstand zu leisten, beweisen die Hochkulturen genügend zivilisatorische Verführungs- und Integrationskraft, die Eroberer zu absorbieren": Entgegen vielerlei Erwartungen und Befürchtungen setzte die Union nach 1982 die Ost- und Deutschlandpolitik der sozialliberalen Ära ohne Kursänderungen fort. Auch sonst änderte sich am gesellschaftlichen Klima erstaunlich wenig: Die "geistig-moralische Wende", von der Kohl am Anfang sprach, blieb aus. Die liberalen Errungenschaften, die nach 1968/69 die Bundesrepublik weiter verwestlicht hatten, wurden nicht angetastet. Die deutsche Gesellschaft wurde nicht einmal konservativ angestrichen. Norbert Blüm betrieb mit Erfolg die Sozialdemokratisierung der Union. Die Verführungskraft sozialliberaler Werte und der Ideen von 1968 wirkte unterschwellig weiter. (Ein umgekehrter Prozess der Integration spielte sich dann nach 1998 ab, als Rot-Grün an die Macht kam.)
"Der große und einzige Trost aller Verlierer ist ihre Überzeugung, den Neumächtigen kulturell und moralisch überlegen zu sein": Schon der Vergleich der Kanzlerpersönlichkeiten Helmut Schmidt und Helmut Kohl bestärkte die sozialdemokratischen Verlierer in ihrem Überlegenheitsgefühl. Der unselige Ausflug Kohls mit Ronald Reagan an die SS-Gräber in Bitburg, der berüchtigte Gorbatschow-Goebbels-Vergleich des Pfälzers, der Strafbefehl gegen Otto Graf Lambsdorff im Gefolge der Flick-Affäre, die Machenschaften Uwe Barschels in Kiel - es gab genügend Stoff für kulturell-moralischen Trost.
"Die Rolle, die ihnen allen vorschwebte, war die der moralischen Macht, deren die Welt, einschließlich der Sieger, bedurfte, über die jedoch nur sie, die Verlierer, verfügten, weil sie allein durch die Passion gegangen und damit jenseits allen gewöhnlichen Machtgetriebes standen": Brandt hatte die Position der moralischen Macht schon seit seiner persönlichen Niederlage 1974 inne. Nunmehr, nach dem Machtverlust 1982, färbte dieses Klima auf die gesamte Partei ab. Schon in Johannes Raus Motto "Versöhnen statt spalten" während seiner Kanzlerkandidatur 1987 schwang Scheu vor dem "gewöhnlichen Machtgetriebe" mit. Und auch ein im Übrigen so gerne herrschender Enkel wie Oskar Lafontaine schreckte nach Brandts Rücktritt als Parteivorsitzender 1987 vor der gewöhnlichen Macht zurück, die diesem Amt innewohnt. Er lehnte es tatsächlich ab, Brandts Nachfolger zu werden. Und sowohl Rau als auch Hans-Jochen Vogel fehlte spürbar der Wille zur Kanzlerschaft, der Wille zur Macht.
"Die eigenen Machthaber - oder Väter - von Mächtigeren überwältigt zu sehen erfüllt die intellektuellen Söhne mit einer tiefen Befriedigung": Tatsächlich war Helmut Schmidt in den letzten Jahren seiner Kanzlerschaft nicht nur der Partei entfremdet - Herrschaftsstil und Charakter hatten ihn der jüngeren Genossen-Generation zu einer geradezu verhassten Figur werden lassen. Seine Kanzlerschaft war für sie zuletzt nur noch die "Vergewaltigung sozialdemokratischer Positionen" (Franz Walter). Lafontaines böses Wort, mit den Schmidtschen Sekundärtugenden könne man auch ein KZ leiten, war da nur ein Symptom. Für viele war es eine tiefe Genugtuung, dem Ex-Kanzler auf dem Kölner Parteitag 1983 in der Frage der Raketenstationierung seine größte Schlappe zu bereiten. Nicht zuletzt Erhard Eppler, der geistige Dauerantipode Helmut Schmidts, dem Kanzler seit seinem Rücktritt als Entwicklungshilfeminister 1974 in herzlicher gegenseitiger Abneigung verbunden, konnte im Verschwinden Schmidts eine neue Chance sehen.
"Den zu Krieg und Niederlage führenden Weg als Irrweg ausweisend, erklärt sie die vor der verhängnisvollen Abzweigung liegende Wegstrecke als dem Geiste, der Bestimmung und der Wahrheit der Nation gemäßer": Die Schmidt-Welt war für die Sozialdemokraten der achtziger Jahre genau dieser Irrweg: Ein scheinbar prinzipienloser Pragmatismus mit einem Krisenverwalter an der Spitze, für den Visionen ein Fall für den Arzt waren und der "unter dem Druck schlichter Pflichtbegriffe" handelte - Max Weber zufolge ein wesentliches Kennzeichen bürokratischer Herrschaft. Wie anders dagegen erschien da die zunehmend verklärte Ära Brandt! Subjektiv fiel sie in der Erinnerung mit den ersten politischen Erfolgen zusammen, mit Machtgewinn und Regierungsverantwortung. Dass jene ersten fünf Jahre von Krisen erschüttert, die Regierung durch Ministerrücktritte und Misstrauensvotum mehr als einmal an den Rand des Sturzes gebracht wurde und das Ende Brandts vor allem auch ein persönliches Scheitern war - all das wurde nicht mehr gesehen. Der Visionär Brandt war die Lichtgestalt, die neben dem grauen Macher Schmidt umso heller erstrahlte.
Identität durch Selbstverständigung
Vieles von dem, was die SPD aus der Perspektive des Jahres 2002 so unbegreiflich macht, wird auf diese Weise verständlicher. Tatsächlich waren die geschilderten Verunsicherungen und Illusionen, Ressentiments, und Orientierungslosigkeiten Ausgangspunkt für die Neuausrichtung der SPD in der Ära Kohl. Als ein Hauptgrund für den Machtverlust 1982 wurde das Aufkommen der Grünen und die Entfremdung von der jüngeren, postmateriell gestimmten Generation gesehen. In dieser Sicht war es nur logisch, die erzwungene Oppositionszeit zu einer Annäherung an diese verlorenen Gruppen zu nutzen - auf dass sich dieses einmal in Wählerstimmen und erneuter Regierungsmacht niederschlüge. Dafür war die programmatische Neuorientierung zwingend notwendig - abgesehen davon, dass die Industriegesellschaft der fünfziger Jahre, wie sie die Vorstellungswelt der Schöpfer des Godesberger Programms noch prägte, inzwischen nicht mehr existierte.
Dabei ist erst einmal nicht entscheidend, ob der Weg, der dieser geistigen Gemengelage nach 1982 entsprang, richtig war oder falsch. Wichtig ist vielmehr, dass es sich um einen Prozess der Selbstverständigung handelte, der einer desorientierten Sozialdemokratie neue Identität zu verschaffen versprach - eine Voraussetzung für den Machtgewinn. Godesberg war auch hier Vorbild.
Jedenfalls beschäftigte sich die SPD damals intensiv mit sich selbst: In Programmklausuren zwischen 1984 und 1986 wurde der Irseer Programmentwurf erarbeitet, der dann nach intensiven Diskussionen in das Berliner Programm von 1989 mündete. Fast wäre die sinnstiftende Neuorientierung sogar erfolgreich gewesen: Noch im Sommer 1989 rechneten die meisten Beobachter für die kommende Bundestagswahl mit einem Sieg des Kandidaten Oskar Lafontaine. Auch wenn die Lage in Deutschland heute anders aussieht: Man kann die postmaterielle Ausrichtung der SPD in den achtziger Jahren nicht vorschnell als Irrweg abtun. In einer von Tschernobyl geprägten Republik, in der beispielsweise die Auseinandersetzung um die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf die Medien beherrschte, verkörperte die neue SPD durchaus ein Stückchen Modernität und schien auch machtpolitisch auf erfolgversprechendem Weg. Dass mit diesem Kurs auch gefährliche Illusionen verbunden waren, die echter Regierungsfähigkeit entgegenstanden, ist zu Recht oft beschrieben und analysiert worden. Es bedurfte einer neuen Niederlage, der von 1989/1990, um hier allmählich umzudenken.
Erhard Eppler, als Vorsitzender der Grundwertekommission maßgeblich am postmateriellen Programmdiskurs der achtziger Jahre beteiligt, wurde damit zum Therapeuten der an Machtlosigkeit erkrankten SPD. Ihn prädestinierte vieles für diese Rolle - vielleicht nicht zuletzt die eigenen politischen Erfahrungen. "In ihm sammelten sich alle Arten von Niederlagen" - Carl Schmitts Wort über Alexis de Tocqueville passt, diesseits des geistesgeschichtlichen Höhenkamms, durchaus auf Eppler. Dessen politische Heimat in den fünfziger Jahren, die Gesamtdeutsche Volkspartei Gustav Heinemanns, blieb erfolglos - bis schließlich der Großteil ihrer Führungsfiguren zur SPD wechselte. Epplers Karriere als Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit von 1968 bis 1974 endete abrupt - nach neun Wochen unter Kanzler Schmidt. Zwei anschließende Versuche Epplers, Ministerpräsident seiner Heimat Baden-Württemberg zu werden, scheiterten.
"Niederlagendenken" bedeutet eine gedankliche Revision. Bislang brachliegende Ressourcen werden reaktiviert und die erzwungene Machtlosigkeit genutzt, freier als bisher mit neuen Ideen zu experimentieren. Durch die Niederlage zum Lernen gezwungen, vollzieht sich in diesem Prozess allmählich auch die Befreiung von posttraumatischen Zuständen - Irrwege nicht ausgeschlossen.
Theorie in den Zeiten der Machtlosigkeit
Neben der programmatischen Neuausrichtung der SPD bot sich dem "Niederlagendenker" Eppler bald ein neues Feld, um die durch den Machtverlust gewonnenen Spielräume auszuloten: die Gesprächsrunden der SPD-Grundwertekommission mit der Akademie für Gesellschaftswissenschaften. Diese Art geistiger Auseinandersetzung mit der kommunistischen Ideologie, diese theoretische Aufladung der ohnehin komplizierten Deutschlandpolitik, wäre für eine sozialdemokratische Regierung zu riskant gewesen. Frei von dieser Verantwortung, bot sich nun jedoch die Möglichkeit des praktischen Experiments in der Form des Seminargesprächs. Es sollte ausgelotet werden, was jenseits des deutschlandpolitischen Alltags von Mindestumtauschsätzen, Mülltransporten, Grenzübergängen, Ausreisezahlen und Häftlingsfreikäufen möglich war. Damit wurde das Papier - ungeachtet seiner begrifflichen Fragwürdigkeiten - zum offensivsten Dokument sozialdemokratischer Ostpolitik, weil es Werte in den Vordergrund stellte und damit an die Grundlagen der staatssozialistischen Ordnung rührte.
Die Semantik des Papiers entsprach der geistigen Situation der Zeit. Die Wirkungen, die diese Sprache in der DDR entfalten konnte, sind schwer messbar. Man wird sie nicht überschätzen dürfen, trotz verständlicher gegenteiliger Deutungen der Beteiligten. Für die Sozialdemokratie war es, wie eine Kritikerin des Papiers, Gesine Schwan, damals schrieb, ein "Januskopf", zu dem Chancen und Risiken gehörten: Dem Risiko, auf geistige Abwege zu geraten, entsprach die Chance, kreatives Neuland zu betreten und neue Wirkungen zu entfalten. Die Annahme, mit diesem Papier eine Reform in der erstarrten DDR (mit)bewirken zu können, offenbarte sich rasch als Illusion.
Das SPD-SED-Papier ist sowohl ein Kind des Ost-West-Konflikts als auch ein Kind der Sozialdemokratie der achtziger Jahre. Beides existiert heute nicht mehr. Die Frage nach der Aktualität erübrigt sich somit. Doch das Papier bleibt ein Beleg für die eigenartige Faszination des Glaubens an die weltschaffende Kraft des Wortes. Bei der rückblickenden Abwägung darf man eines nicht aus den Augen verlieren: Das Papier war trotz aller Illusionen ein kreatives Experiment aus dem Geist des Niederlagendenkens. Die theoretischen Debatten der Sozialdemokratie fanden hier ihren Widerhall. Ohne diesen diskursiven Prozess, ohne programmatische Anstrengung ist in Zeiten der Machtlosigkeit Identitätsbildung für eine politische Formation nicht denkbar - als Voraussetzung erneuten Machtgewinns. Die oft spielerische Lust am Streit um theoretische Positionen und Werte, auch an der Provokation eines Papiers, gehört zum Politischen. Womöglich war es ja diese instinktive Erkenntnis, die selbst einen Pragmatiker wie Gerhard Schröder 1987 dazu veranlasste, das Papier nicht den Epplers überlassen zu wollen.
Einmischer, Ratgeber, Niederlagendenker
Berlin, Willy-Brandt-Haus, 24. Mai 2002: "Er hat sich im Auftrag der SPD-Grundwertekommission lange um einen kritischen Dialog mit der damaligen SED-Führung bemüht. Aber er hatte deutlich wie wenige erkannt, dass ein solcher Dialog über die Köpfe des Volkes hinweg zum Scheitern verurteilt ist." Aus dem niedersächsischen Oppositionsführer von 1987 ist der Bundeskanzler und SPD-Vorsitzende geworden. In seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Gustav-Heinemann-Bürgerpreises an Erhard Eppler dankt Gerhard Schröder dem "unschätzbar wertvollen Gesprächspartner" aus der Zeit des Kosovo-Krieges und nach dem 11. September. Am Ende äußert Schröder den Wunsch, dass "du uns allen und auch mir selbst als wertvoller Einmischer und Ratgeber erhalten bleibst." Wer weiß, wofür Gerhard Schröder den Niederlagendenker eines Tages noch brauchen wird.
Literatur: Alexander Cammann, Innovation und Illusion. Das SPD/SED-Papier von 1987 als Form intellektueller Politik, in: Vorgänge 156, Dezember 2001, S. 28-40 *** Erhard Eppler, Komplettes Stückwerk. Erfahrungen aus fünfzig Jahren Politik, Frankfurt/Main und Leipzig 1996 *** Friedrich-Ebert-Stiftung, Büro Berlin (Hrsg.), Das verfemte Dokument. Zum 10. Jahrestag des SPD/SED-Papiers "Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit", Berlin 1997 *** Heinrich Potthoff, Im Schatten der Mauer. Deutschlandpolitik 1961 bis 1990, Berlin 1999 *** Rolf Reißig: Dialog durch die Mauer: Die umstrittene Annäherung von SED und SPD vor der Wende. Mit einem Nachwort von Erhard Eppler, Frankfurt/Main 2002