Gesellschaft der Besessenen
Die gläserne Decke – ein Problem von gestern? Keineswegs! Denn obwohl ungefähr die Hälfte aller Studierenden mittlerweile weiblich ist, kommt nur ein Bruchteil von ihnen in den Chefetagen der Republik an. Betrachtet man die Geschlechterverteilung an den Universitäten, in der Wirtschaft, in der Politik und in den Medien, sind Frauen stark unterrepräsentiert. Wer meint, dass liege daran, dass Frauen sich einfach nicht durchsetzen können, bereits mit Mitte zwanzig heimlich ihren Ausstieg nach der Geburt des ersten Kindes planen, oder es ihnen schlicht an Ehrgeiz mangelt, verkennt allerdings das Problem. Die Zahlen zeigen, dass die gläserne Decke immer noch existiert – wobei der Begriff bereits suggeriert, dass die Mechanismen alles andere als offensichtlich sind.
In einem polemischen Artikel gab die junge Redakteurin der Welt Ronja von Rönne kürzlich zum Besten, sie habe noch nie erlebt, dass Frau-sein in unserem Land von Nachteil sei. Herzlichen Glückwünsch!, möchte man ihr sagen, wenn sie sich nicht gleichzeitig über all jene mokiert hätte, die beruflich auf der Stelle treten, statt – so von Rönne – endlich zu begreifen, dass heute jede um ihr eigenes Glück kämpft. Dieser antifeministische Reflex ist nicht untypisch für junge Frauen und zeigt, dass Geschlechtergerechtigkeit und Gleichberechtigung offenbar kaum Themen sind, die viele Frauen während des Studiums berühren. An die gläserne Decke stoßen viele erst, wenn sie gerade ins Berufsleben starten oder schon ein paar Jahre gearbeitet haben und „plötzlich“ auf mittleren Managementpositionen feststecken oder sich mit der Entscheidung, ein Kind zu bekommen, beruflich ins Abseits manövrieren.
Ein Leben neben dem Beruf? Das wird nicht leicht
Während des Studiums erscheint die gläserne Decke noch wie ein Relikt aus den siebziger Jahren: einfach unzeitgemäß, wo doch gerade im Studium und besonders in den Geisteswissenschaften die Geschlechterverhältnisse ausgeglichen sind. Manch eine erahnt vielleicht schon gegen Ende des Studiums, dass es sie immer noch gibt. Unter Umständen werden Frauen hier bereits vom dominanten Kommunikationsstil und der Ellbogenmentalität mancher Kommilitonen abgeschreckt – ebenso von der permanenten Überlastung und starren Fokussiertheit der Dozenten (!) auf den Beruf. Unsichere Karrierewege und die wenigen Stellen tun ihr übriges. Wer auch ein Leben neben dem Beruf will, ahnt bereits: Das wird nicht leicht – und entscheidet sich dann vielleicht noch für die Promotion, steigt danach aber aus.
»Kampf des Individuums« – und sonst nichts mehr?
Die Zahlen zeigen, dass diese Rechnung vor allem Frauen aufmachen: Mehr als die Hälfte der Studierenden sind heute weiblich, 44 Prozent der Promovierenden sind Frauen. Der Frauenanteil der Habilitationen liegt dann nur noch bei 27 Prozent, und lediglich 21 Prozent der Lehrstühle an deutschen Hochschulen sind von Frauen besetzt. Man mag sich über diese Zahlen wundern, werden doch gerade an Hochschulen Frauen bei der Einstellung bevorzugt behandelt. Manch einer meint deshalb, Frauen seien doch selbst schuld an ihrer Lage: „Den Frauen stehen doch überall die Türen offen; sie könnten doch, wenn sie nur wollten.“ Dabei wird oft übersehen, dass die Ausschlussmechanismen viel subtiler funktionieren und im Berufsleben – ob an der Uni, in der Privatwirtschaft oder im öffentlichen Sektor – ganz bestimmte Lebensentwürfe gefördert werden, die lediglich einer wachstumsorientierten Elite dienen. Flexibilisierung, Verdichtung, Burnout, permanente Erreichbarkeit und zahllose Überstunden – diese Phänomene sind Ausdruck einer Arbeitskultur, die einfach nicht mehr zeitgemäß ist. Darüber sind wir uns alle einig. Doch wo sind diejenigen, die es anders vorleben? Oft genug werden die Probleme von jenen angeprangert, die eigentlich in der Lage wären, einen Unterschied zu machen.
Wenn Ronja von Rönne schreibt, „an die Stelle des Kampfes um Frauenrechte ist schon lange der Kampf des Individuums um sein Glück getreten“, verhöhnt sie nicht nur das Schicksal vieler Frauen, die trotz ihrer Qualifikation beruflich auf der Stelle treten, sondern überschätzt auch die Macht des Einzelnen, gesellschaftliche Strukturen zu durchbrechen. Klar: Wer die Spielregeln beherrscht, wird leicht reüssieren – und wenn frau zu den wenigen Redakteurinnen der Welt-Redaktion gehört, ist solch eine antifeministische Position wahrscheinlich opportun. Denn wer mitmachen will, muss sich anpassen. Wer nicht mitspielt, fliegt raus. Wer die Spielregeln allerdings hinnimmt statt zu hinterfragen, wem sie eigentlich nützen, reproduziert sie zugleich. Eine solche Sichtweise verkennt die bisherigen Erfolge der Frauenbewegung und die Bedeutung von Solidarität. Sich kollektiv für eine bessere Gesellschaft einzusetzen, in der jeder unabhängig vom eigenen Geschlecht die Chance hat, sich beruflich und privat zu entfalten, erscheint dann notwendigerweise als irrige Vorstellung.
Erfolgreich ist nur, wer sich einfügt. heißt es
Zudem ist die gläserne Decke nicht nur ein Problem für Frauen. Auch Männer, deren Lebensentwürfe mit dem hegemonialen Bild von Männlichkeit und beruflichem Erfolg nicht kompatibel sind, stoßen sich an ihr. In Zeiten, in denen sich nicht nur weibliche, sondern auch männliche Rollenbilder wandeln, sind beide Geschlechter betroffen.
Bei dem Begriff der gläsernen Decke geht es nicht nur um die sichtbaren Ungerechtigkeiten wie die Lohnlücke oder Frauenanteile in Führungspositionen. Dabei handelt es sich um Symptome eines tiefer liegenden Problems, die man zu behandeln versucht. Die Frauenquote ist hier wohl kaum mehr als eine Krücke. Die Ursachen für viele Probleme, die Frauen und Männer am Arbeitsplatz haben („Ich fühle mich fremd“, „Hier kann ich nicht so sein, wie ich bin“), sind unsichtbar – mit der Folge, dass Leidenserfahrungen individualisiert werden. Eine wettbewerbsorientierte Kommunikations- und Arbeitskultur und die Unvereinbarkeit von Beruf und Privatleben führen dazu, dass viele sich zurückziehen, weil sie das Gefühl haben, nicht richtig „dazu zu passen“. Erfolgreich hingegen ist, wer sich einfügt. Weder das eine noch das andere hilft jedoch dabei, die Probleme zu bekämpfen, vor denen Frauen wie Männer in der heutigen Arbeitswelt stehen.
Sich diese subtilen Mechanismen bewusst zu machen, ist schon der erste Schritt. Strukturen, Routinen und Rollenmodelle verändern sich allerdings erst dann, wenn Frauen und Männer anders handeln – etwa indem sie ganz bewusst kommunizieren, was gute Arbeit und ein gutes Leben für sie bedeuten. Dabei kann es nicht nur darum gehen, eigene Grenzen zu setzen. Auch die Vorgesetzten sind in der Pflicht: Die Pluralität von Lebensentwürfen anzuerkennen und zu fördern, kann verhindern, dass gerade Frauen „aussteigen“, weil sie, die später Kinder bekommen, immer schon wissen, dass es ein Leben neben dem Beruf gibt. Den Wunsch der Beschäftigten nach einem ausgeglichen Verhältnis zwischen Berufs- und Privatleben zu unterstützen, könnte schon helfen, die Arbeits- und Kommunikationskultur zu verändern. Denn oft sind es die scheinbaren Erwartungen – etwa auch abends und am Wochenende erreichbar sein zu müssen –, die den Arbeitnehmer unter Druck setzen.
Tut euch zusammen und handelt gemeinsam!
Die Medizin-Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Vollhard sagte kürzlich in einem Interview mit der Zeit, dass es Frauen an Besessenheit fehle – und machte klar, dass ein Leben neben dem Beruf schlichtweg Irrsinn sei, wenn man vorankommen will. Aber was ist gut an Besessenheit? Wo bleibt dann Zeit für die Familie, für die Pflege von Beziehungen – und für sich selbst? Wer will ernsthaft in einer Gesellschaft leben, in der Frauen und Männer zusammen 200 Prozent arbeiten, wie Jutta Allmendinger einmal rhetorisch fragte? Es geht also nicht nur darum, Arbeit – zum Vorteil aller – gerechter zu verteilen, sondern in kleinen Schritten eine neue Arbeitskultur zu schaffen, die es Frauen wie Männern ermöglicht, sich beruflich zu engagieren und gleichzeitig ihren privaten Wünschen und Vorstellungen zu folgen. Anstatt das Problem dadurch zu verstärken, dass wir es in den Verantwortungsbereich des Einzelnen verschieben, sollten wir versuchen, gemeinsam einen Unterschied zu bewirken, weil – frei nach Hannah Arendt – Veränderungen immer dann möglich sind, wenn Menschen sich zusammentun und gemeinsam handeln.«