Hier werde ich korrekt behandelt
Integration ist ein Prozess mit dem Ziel, die Vielfalt der Gesellschaft anzuerkennen. Dieser Prozess ist emotional und erfordert Empathie, auch im Parlament. Deshalb müssen wir Sozialdemokraten bei Diskussionen über Integration immer wieder die Gefühle der Menschen ansprechen. In meiner neuen Rolle als Integrationsbeauftragter der SPD-Bundestagsfraktion setze ich mich hierfür besonders ein. Dabei geht es auch um Denkanstöße, die wir der Mehrheitsbevölkerung ebenso wie den Menschen mit Migrationsgeschichte geben können. Denn zum großen Prozess der Integration gehört jeder Einzelne.
Bei Gefühlen geht es vor allem um die eigene Identität. Die Integrationsdebatte ist bei vielen Menschen mit der Angst vor Identitätsverlust verbunden. Unsere Aufgabe muss es sein, die positiven Veränderungen einer vielfältigen Gesellschaft zu vermitteln und den Bürgern ihre Ängste zu nehmen.
Mit Toleranz sollten wir uns nicht zufrieden geben
Dazu passt die Geschichte von der erfolgreichsten deutschen Fußball-WM seit Beginn der „Integrationsdebattenzeitrechnung“. Während bei den vorherigen Turnieren die Migrationsgeschichte einzelner Spieler immer extra betont wurde, war sie 2014 schlicht gegebene Realität. Das stimmt hoffnungsvoll. Dennoch war die lange Diskussion um die ethnische Vielfalt der Nationalmannschaft nützlich. Denn sie hat dazu beigetragen, dass Vielfalt auf dem Spielfeld heute eine anerkannte Wirklichkeit ist, mit der sich (fast) alle identifizieren. Einen solchen Prozess erhoffe ich mir für die gesamte deutsche Gesellschaft.
Klar ist: Für Integration sind beide Seiten wichtig. Nicht jeder Bürger deutscher Herkunft kann sich sofort in die Situation der eingewanderten bulgarischen Krankenschwester hineinversetzen oder die Herausforderungen des chilenischen Informatikers verstehen. Umgekehrt kann nicht jeder Einwanderer auf Anhieb die Bedenken des Arbeitslosen aus der strukturschwachen ländlichen Region oder der hart arbeitenden Frau aus dem Niedriglohnsektor nachvollziehen. Weil das so ist, sind wir aufgefordert, für gegenseitiges Verständnis, Anerkennung und Respekt zu werben. Allein mit Toleranz sollten wir uns nicht zufrieden geben, denn das würde bedeuten, auf halber Strecke stehen zu bleiben. Mein Ziel ist, dass die Menschen unterschiedlicher Herkunft sich vertrauen, ihre Vielfalt gegenseitig anerkennen und diese als Bereicherung für die Gesellschaft verstehen. Dabei dürfen wir nicht der Illusion erliegen, das alles sei einfach. „Offen sein ist anstrengend“, wie Bundespräsident Joachim Gauck es treffend formuliert hat.
Unklare Regeln sind der Feind der Integration
Neben der öffentlichen Diskussion bleibt die Gesetzgebung das wichtigste Werkzeug, um gelebte Vielfalt zu ermöglichen. Manche Juristen sagen, dass sie, um das deutsche Aufenthaltsrecht verstehen zu können, besser Kunst oder Mathematik studiert hätten. Es ist das Produkt politischer Zufallskompromisse; eine verständliche Struktur existiert nicht. Auf den Betroffenen wirkt dies wie eine bewusst aufgebaute Hürde. Vereinfachung muss unser Ziel sein.
Dabei kommt es besonders darauf an, das politische Handwerkszeug präzise zu nutzen. Denn wenn politisch definierte Regeln nicht klar sind, entsteht Raum für Misstrauen. Dann neigen Einwanderer verständlicherweise dazu, negative Entscheidungen als Diskriminierung auszulegen. Staatsbedienstete werden von Ermessensentscheidungen überfordert und können darin eine angebliche Übervorteilung der Migranten sehen. Um beides zu vermeiden, brauchen wir klare Regeln. Ermessensentscheidungen in der Verwaltung sind Gift für die Integration.
In Bezug auf die Gesetze, die sich aktuell in Vorbereitung befinden, sind wir von unseren Ansprüchen weit entfernt. Beispiel Staatsangehörigkeitsrecht: Klare Regeln wurden nicht geschaffen. Wieder gibt es Ausnahmen, Fristen, Nachweise. Auch wenn es der bestmögliche Kompromiss war und die Ausnahmen nur wenige treffen werden – es wird in Deutschland geborene Doppelstaatler geben, die irgendwann mit dem Amt zu kämpfen haben. Und diese wenigen Fälle werden am Ende wieder Meinung machen. Deswegen sollte es unser Ziel sein, Mehrstaatlichkeit zu ermöglichen. Damit würden wir auf die erste Generation der Einwanderer zugehen. In dieser Frage spielen Emotionen ebenfalls eine große Rolle, denn auch die (erwachsenen) Kinder von Einwanderern sind verletzt, wenn ihre Eltern nicht die gleichen Rechte haben, obwohl sie dieses Land unter schwierigen Bedingungen mit aufgebaut haben. Die Anerkennung von Mehrstaatlichkeit würde Misstrauen verringern.
Ein weiteres Beispiel für die unterschiedlichen Sichtweisen der aktuellen Koalitionspartner auf das Thema ist das „Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung“. So gut wie jeder Asylsuchende kann unter den äußerst weitgefassten Begriff der „erheblichen Fluchtgefahr“ fallen. Hier erkennt man das Klienteldenken manch konservativer Kollegen deutlich. Die Realität der Asylsuchenden wird einfach ignoriert – und das öffentliche Meinungsbild gefährlich nach rechts verschoben. In den bevorstehenden Verhandlungen müssen wir Sozialdemokraten deshalb zu weitgehende Maßnahmen gerade bei der Inhaftierung Asylsuchender verhindern und gleichzeitig unsere Kernforderungen wie die Aufhebung der Residenzpflicht durchsetzen!
Geld für Teilhabepolitik wird vor allem dort gebraucht, wo konkrete Unterstützung nötig ist: Sprachkurse nach der Einreise sowie berufsbegleitend, Integrationskurse als eine Form von Gesellschaftskunde, dabei Kinderbetreuung – das alles kostet viel Geld. Aber wenn wir den Glauben an den Wert der Vielfalt verstärken wollen, müssen wir die richtigen Rahmenbedingungen dafür schaffen. Für unsere politische Glaubwürdigkeit betone ich dabei das Wir: Wir als Gesetzgeber sollten aktiv sein – und nicht den Gerichten die Regelsetzung überlassen.
Die Wirklichkeit ist vielfältiger
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) gilt eigentlich nicht als „Empathielehrer“. Aber bei der Auslegung des Rechts über den Ehegattennachzug türkischer Partner nach Deutschland hat das Gericht juristisch das zum Ausdruck gebracht, was ich meine. Wir dürfen Menschen keine Steine in den Weg legen, wenn Sie als Familie zusammenleben wollen. Unsere Anlaufstellen, ob Behörden in Deutschland oder Botschaften im Ausland, müssen ihre Arbeit mit einer Einstellung verrichten, die den Einwanderer spüren lässt: Hier werde ich korrekt behandelt, Anforderungen werden gleich, fair und unabhängig von meiner Person gestellt, und hier bin ich willkommen. Ist der erste Kontakt mit einer (und wenn nur auf Unklarheit basierenden) Ablehnung verbunden, hat Deutschland in seinem Ansehen schon verloren. Die geplante Beibehaltung der Sprachtests, die von Konservativen trotz EuGH-Urteil forciert wird, ist dabei ein Schritt in die falsche Richtung. Wir sollten gut nachdenken, ob wir diese Richtung beibehalten wollen, bis das nächste EuGH-Urteil uns eines Besseren belehrt. Das Vertrauen der Migranten in die deutsche Gesetzgebung wird durch ein solches Vorgehen jedenfalls nicht gestärkt.
Darüber hinaus werden wir der Vielfalt nicht gerecht, wenn wir zu viel über Banden in Neukölln oder Kopftücher in Hamburg-Wilhelmsburg sprechen. Das Leben in Deutschland ist weit komplexer, als die politische Diskussion oft suggeriert. Es gibt nicht nur Problemviertel und vermeintliche Parallelgesellschaften, sondern auch überarbeitete indische Informatiker und einsame Einwanderer aus Sansibar. Wir sollten diese Vielfalt würdigen und dafür arbeiten, dass wir ihre Potenziale nutzen.
Mehr Herz und mehr Einfühlungsvermögen
Deshalb begrüße ich den SPD-Parteitagsbeschluss zur interkulturellen Öffnung der Partei. Nun müssen wir ihn allerdings mit Leben füllen. Dazu gehört erstens ein aktives Werben um Mitglieder mit Migrationsgeschichte. Zweitens brauchen wir einen Mainstreaming-Ansatz, damit bei politischen Entscheidungen künftig abgeschätzt wird, inwieweit sie dem Ziel einer verbesserten Teilhabe und Anerkennung von Migranten dienen. Drittens müssen wir eine offene und vorurteilsfreie Debatte darüber führen, welche Instrumente die Repräsentation von Migranten in den politischen Führungsgremien der SPD verbessern können – zum Beispiel durch eine Quote von 15 Prozent.
Das Grundgesetz bietet trotz seiner 65 Jahre einen wunderbaren Rahmen, um in dieser Gesellschaft Vielfalt zu leben. Denn genau das heißt Integration: Vielfalt in der Gesellschaft zu leben. Wobei mit Vielfalt nicht Beliebigkeit gemeint ist. Jede Form der Vielfalt muss sich innerhalb unserer Werte und unseres Grundgesetzes bewegen. Integration fängt mit dem Zugehörigkeitsgefühl an. Dazu müssen wir mehr Gefühl zeigen! Wir brauchen in der Debatte und vor allem bei politischen Entscheidungen mehr Herz und Einfühlungsvermögen.