Integration doppelt denken

Warum Deutschland unbedingt eine Integrationspolitik für die abgehängten Kinder im Osten braucht

Jeder Beitrag zur Zukunftsfähigkeit Deutschlands kommt über kurz oder lang auf Einwanderer und Familien „mit Migrationshintergrund“ zu sprechen. Und kein Zweifel: Es ist ein Skandal, wie sehr unsere  Gesellschaft bei der Integration von Einwanderern versagt hat. Durch die schlechte Bildung der „Migrationskinder“ verliert unser Land Kreativität und Leistung. Die verfehlte Integrationspolitik betrifft keine kleine Minderheit. In manchen Regionen reden wir schnell über 20, bisweilen 50 Prozent der Jugendlichen. Doch das ist nur die halbe Wahrheit.

In Ostdeutschland liegt der Ausländeranteil nach wie vor unter fünf Prozent. Dennoch stehen auch hier 25 Prozent der Kinder am Rand. Nur sind dies nicht Einwandererkinder im „westdeutschen“ Sinn. Es handelt sich vielmehr um Kinder aus Haushalten, die von Arbeitslosengeld II leben. Diesen Kindern mangelt es häufig an einer ordentlichen Schulbildung, ihnen fehlen Vorbilder, Aufstiegschancen und zunehmend auch Aufstiegswille. Häufig kämpfen ihre Eltern nicht nur um Jobs, sondern auch mit sich selbst. So können Kita-Erzieherinnen oft schon am Sprachniveau ihrer Schützlinge erkennen, ob in deren Elternhäusern vorgelesen wird.

Mit den hohen Anteilen an Kindern aus „Hartz IV-Familien“ gehen überdurchschnittliche Schulabbrecher-Quoten einher. In den neuen Ländern verlassen teilweise mehr als zehn Prozent der Jugendlichen die Schule ohne Abschluss. Dieser Anteil ist weit höher als in Nordrhein-Westfalen oder Baden-Württemberg. Ohne Schulausbildung keine Ausbildungsstelle, ohne Ausbildung kein vernünftiger Job, und ohne ordentliche Arbeit meist nur begrenzte gesellschaftliche Integration – ein Teufelskreis. Vor diesem Hintergrund ist die soziale Durchlässigkeit in den neuen Ländern noch viel stärker blockiert als in den alten Ländern. Um nicht falsch verstanden zu werden: Hartz IV ist mitnichten „schuld“ an der mangelhaften Zukunft der Kinder, sondern gibt der Armut an Lebenschancen lediglich ein Gesicht. Und wer diese Armut bekämpfen will, muss an den Ursachen ansetzen.

Nun sind wir in der Diskussion über die Integration von Einwanderern und ihrer Nachkommen bereits relativ weit gekommen, seit vier Jahren kümmert sich sogar eigens eine Staatsminsterin im Kanzleramt darum. Aber bei Lichte betrachtet brauchen wir jetzt auch eine Integrationspolitik für die abgehängten Kinder im Osten. Gesellschaftlicher Fortschritt ist in Deutschland nur zu erreichen, wenn wir Integration zweimal denken: für die Einwanderer und für die „Hartz IV-Kinder“.

Denn Deutschland kann es sich überhaupt nicht leisten, auch nur ein einziges Kind zurückzulassen. Und zwar in Ost und West. Der demografische Wandel mag in den neuen Ländern schneller voranschreiten als im Westen. Ziemlich bald werden wir aber in allen Teilen der Republik mehr ältere, zu wenige junge und immer weniger Menschen im erwerbsfähigen Alter haben. Der Fachkräftemangel ist allerorten zu besichtigen. In der brandenburgischen Prignitz konnten im vergangenen Jahr zahlreiche Lehrerstellen nicht besetzt werden, weil es schlicht keine Bewerber gab. Kommunen im Berliner Umland klagen, dass sie auf Stellenausschreibungen für Erzieherinnen nur zwei oder drei Bewerbungen erhalten. Und in der Lausitz suchen sie händeringend Ärzte. Mit anderen Worten: Unser Land braucht jeden Einzelnen, schon aus rein ökonomischen Gründen. Wir können es uns nicht erlauben, Menschen am Rand der Gesellschaft zurückzulassen.

Zweimal Fortschritt, eine Zukunft


Tatsächlich aber haben viele Familien den Eindruck, sozialer Aufstieg sei nicht mehr möglich. Der alte sozialdemokratische Satz „Unseren Kindern soll es einmal besser gehen“ gilt für sie nicht mehr. Genau da lässt sich ansetzen. Sozialen Fortschritt zu schaffen heißt nichts anderes, als gesellschaftliche Durchlässigkeit neu zu organisieren. Die Sozialdemokraten haben dazu das schöne Konzept des vorsorgenden Sozialstaates entwickelt. Das fängt mit besserer und frühestmöglicher Unterstützung für Eltern an und geht weiter mit besseren Kitas und mehr Sprachförderung, mit flexiblen Übergängen zwischen Kitas und Schulen, mit einer Integration von Förderschülern in die regulären Klassen, mit mehr individueller Förderung von Schülern und mit verbesserten Übergängen zwischen Oberschulen und Abiturstufen. Eine solche Politik der Vorsorge würde dazu beitragen, dass sozialer Aufstieg für alle ermöglicht wird. Genau darum sollte es fortschrittlicher Integrationspolitik gehen. Dabei überschneiden sich die Lösungen für die Probleme vieler Einwander und Hartz IV-Familien durchaus – auch wenn sie unterschiedlichen Ursprungs sein mögen. Zukunft in Deutschland wird jedenfalls nur mit dieser doppelten Integrationspolitik möglich sein. «

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