Knapp vorbei ist auch daneben

In Deutschland fehlen Kinder, so viel ist klar. Doch nicht jede gut gemeinte Idee für mehr Familienfreundlichkeit hilft wirklich weiter. Das stellvertretende Wahlrecht für Eltern wäre verfassungswidrig und kein Beitrag zur Demokratie

Erstaunlich schnell erreichten die Initiatoren eines Antrags mit dem Titel "Mehr Demokratie wagen durch ein Wahlrecht von Geburt an" das erforderliche Quorum an Unterschriften von Bundestagsabgeordneten quer durch die Fraktionen. In Anlehnung an Willy Brandts Losung "Mehr Demokratie wagen" wird dort die Lösung der familienpolitischen Probleme und der demografischen Entwicklung in einem Instrument gesucht, das in Wahrheit wenig tauglich ist: Das "Wahlrecht von Geburt an" soll jedem Kind, sobald es das Licht der Welt erblickt hat, ein - treuhänderisch von den Eltern ausgeübtes - Wahlrecht verleihen. Bundestag und Bundesrat müssten dafür die Verfassung ändern, denn nach Artikel 38 Absatz 2 des Grundgesetzes ist man erst mit 18 Jahren wahlberechtigt.


Klar ist: Diskussionen über eine familienfreundlichere Politik, die Akzeptanz von Kindern und höhere Geburtenraten allein reichen nicht aus. Notwendig sind auch ganz konkrete Maßnahmen, um die Situation junger Familien zu verbessern und Eltern endlich die Chance zu geben, Familie und Karriere besser zu vereinbaren. Nebenbei: Die rot-grüne Bundesregierung tut dafür mehr, als jede andere Regierung vor ihr. Außerdem arbeiten wir leidenschaftlich daran, Kinder und Jugendliche verstärkt und besser an gesellschaftlichen und poli- tischen Entscheidungsprozessen teilhaben zu lassen. Sehr fraglich ist allerdings, ob dabei ausgerechnet ein von den Eltern alle vier Jahre ausgeübtes Wahlrecht weiterhilft.


Auch Juristen hegen Bedenken, ob elterliche "Bonusstimmen" haltbar sind. Mit dem Hinweis auf Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetzes, wonach die im Staat vorhandene Herrschaftsgewalt vom deutschen Volk ausgeht, argumentieren die Verfechter des Familienwahlrechts, dass alle Menschen, die das Staatsvolk bilden, als "prinzipiell gleich" angesehen und also in das Wahlrecht einbezogen werden müssen. Unsere Wahlrechtsgrundsätze schreiben vor, dass Wahlen allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim sein müssen. Zudem ist die Höchstpersönlichkeit der Wahl ein zwar nicht in unserer Verfassung verankerter, aber allgemein anerkannter Grundsatz.


Gleich ist eine Wahl, wenn jede Wählerin und jeder Wähler über die selbe Anzahl an Stimmen verfügt: One man, one vote. Eltern erhalten jedoch keine zusätzliche eigene Stimme, sondern nehmen die ihrer Kinder wahr, könnte man juristisch argumentieren, um zu belegen, dass der Gleichheitsgrundsatz nicht verletzt wird. Politisch ist diese Argumentation dagegen schwerlich nachvollziehbar.

Und was ist, wenn Väter Wählen doof finden?

Wo bleibt die Freiheit der Wahl, wenn ein engagierter Jugendlicher sich gut informiert hat und genau weiß, wen er wählen möchte, der politikverdrossene Vater aber Wählen doof findet? Was geschieht, wenn die Eltern im Interesse ihres Kindes unterschiedlich abstimmen möchten oder keine Lust haben, über die Angelegenheit miteinander zu sprechen?


Eine Wahl muss unmittelbar sein, was bedeutet, dass keine Zwischeninstanz eingeschaltet werden darf. Wäre also der Vater, der das Stimmrecht seines Kindes wahrnimmt, ein (verfassungswidriger) Wahlmann? Eine Wahl ist geheim, wenn keiner weiß, was ich wähle, solange ich es nicht sage. Beim Familienwahlrecht sollen die Eltern die Wahlentscheidung mit dem Kind besprechen. Doch wessen Wahlentscheidung? Juristisch geht es hier um die Wahlentscheidung des Kindes, praktisch aber um die der Eltern.


Höchstpersönlich bedeutet, dass der Wähler eigenhändig sein Kreuz machen muss - so wie man auch bei einer Eheschließung keinen Stellvertreter das Jawort sprechen lassen darf. In der Begründung des Bundestagsantrages wird zugegeben, dass der Grundsatz der Höchstpersönlichkeit verletzt werde; hier sei aber eine Ausnahme zu machen.


Da selbst einige hochrangige Verfassungsrechtler Befürworter des Familienwahlrechts sind, tun wir jetzt aber einfach mal so, als gäbe es an den Wahlrechtsgrundsätzen juristisch nichts auszusetzen. Vielleicht sehen wir die Sache ein bisschen zu eng? Womöglich heiligt der Zweck die Mittel?

Selbst mitmischen statt vertreten werden

Die Unterstützer des "Familienwahlrechts" schreiben in ihrer Begründung: "Unsere Gesellschaft verschiebt finanzielle, soziale und viele andere Lasten in die Zukunft und raubt so den künftigen Generationen ihre Zukunftschancen." Und weiter: "Der solidarische Zusammenhalt zwischen Alt und Jung lässt sich nur sichern, wenn man der Zukunft eine Stimme gibt." Das ist richtig, klingt fast nach einem modernen Ver-ständnis von Generationengerechtigkeit. Zweifelhaft bleibt trotzdem, ob der Einfluss junger Familien und der jungen Generation insgesamt auf die Politik durch ein Familienwahlrecht zu steigern wäre.


Denn im Mittelpunkt sollte das Selbstbestimmungsrecht der Kinder und Jugendlichen stehen. Politik muss Kinder und Jugendliche intensiv motivieren, sich zu beteiligen, mitzumischen, Einfluss zu nehmen, selbst organisiert und selbst bestimmt aktiv zu werden. Ziel sozialdemokratischer Politik muss sein, von der kommunalen Ebene an aufwärts die Beteiligungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche auszubauen. Dazu gehören keine Alibiinstrumente sondern echte Mitentscheidungsmöglichkeiten, wie es einige Jugendparlamente oder andere Modelle jugendpolitischer Vertretungen vormachen. Auch die Senkung des Wahlalters auf sechzehn Jahre, wie in einigen Bundesländern praktiziert, unterstützen wir.


Die Selbstorganisation Jugendlicher ist von jeher das grundlegende Prinzip von emanzipatorischer Jugendarbeit - das Stimmrecht für Erziehungsbe-rechtigte wäre das genaue Gegenteil davon. Also: Mehr Demokratie wagen, das ja. Aber von Kindern und Jugendlichen direkt ausgehende, nicht stellvertretend wahrgenommene Demokratie sollte es sein.


Wir können mit dem Familienwahlrecht der De-mografie kein Schnippchen schlagen - etwa nach dem Motto: "Wir altern zwar insgesamt, aber die indirekt wählenden Kinder unterstützen vermehrt diejenigen Parteien, die Politik für Jüngere und deren Zukunfts-chancen machen." Nein, die Diskussion über das Wahlrecht lenkt nur ab. Wir brauchen bereits heute eine Politik, die im Interesse künftiger Generationen und für mehr Kinderfreundlichkeit arbeitet.

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