Kurz vor dem Kollaps

Die Welt wandelt sich, Deutschlands Sicherheitspolitik nicht. Dennoch ist es heute kaum möglich, sicherheitspolitische Fragen auch nur auf der Höhe der Zeit zu diskutieren. Ohne Reformen fährt unsere Sicherheitspolitik gegen die Wand

Die Rahmenbedingungen für die deutsche Sicherheitspolitik haben sich grundlegend verändert. Angesichts der Bedrohungen durch den internationalen Terrorismus verschwimmen die traditionellen Grenzen zwischen Außen- und Sicherheitspolitik auf der einen und Innenpolitik auf der anderen Seite. Doch nach wie vor ist die sicherheitspolitische Diskussion in Deutschland von Ressortdenken geprägt. In der Folge erweckt die Bundesregierung als Ganze nicht den Eindruck, als würde sie strategisch, koordiniert und abgestimmt vorgehen.

Ebenso wenig findet man auf der parlamentarischen Ebene Initiativen, die Antworten auf die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen suchen. Mehr noch: Es ist kaum möglich, das heiße Eisen Sicherheitspolitik jenseits der eingespielten Sprachregelungen überhaupt anzufassen, ohne dass der Vorwurf der „Militarisierung“ des Politischen erhoben würde. Die Diskussion um den „Tornado“-Einsatz der Bundeswehr hat den sicherheitspolitischen Kleinmut der Politik in allen Facetten einmal mehr aufgezeigt.

Die Bundeswehr nimmt an der Nato-Mission in Afghanistan teil, die von der Bundesregierung mitgetragen und von der afghanischen Regierung ausdrücklich unterstützt wird. Im Süden Afghanistans sind Truppen der Nato bereits an schweren Gefechten beteiligt. Ob ein Kampfeinsatz unter unmittelbarer Beteiligung der Bundeswehr in der deutschen Öffentlichkeit vermittelbar wäre oder nicht – die Politik scheut schon vor einer Diskussion darüber zurück. Stattdessen wird ein Spagat zwischen zugesagten Verpflichtungen und innenpolitischer Zurückhaltung versucht, noch dazu kaschiert durch politische und semantische Ausweichmanöver. Verstärkt wird nun nicht das Heer im Einsatz, sondern es werden Luftstreitkräfte entsendet. Und diese nehmen an keinem „Kampfeinsatz“, sondern an einem „Aufklärungseinsatz“ zur Unterstützung eines Kampfeinsatzes teil. Garniert wird dieses Vorgehen mit der Forderung, die Entwicklungshilfe vor Ort zu stärken, obwohl Entwicklungspolitiker und Hilfsorganisationen vor zu intensiver zivil-militärischer Zusammenarbeit warnen. Damit ist die heikle Frage eines Kampfeinsatzes der Bundeswehr erst einmal vom Tisch – ohne dass die grundsätzlichen Fragen geklärt worden wären.

Für eine neue Nationale Sicherheitskonzeption

Dabei besteht gerade in der Großen Koalition die Chance, konzeptionelle und institutionelle Fragen einer vernetzten Sicherheitspolitik jenseits von politischem Lagerdenken und Wahlkampfpolemik zu diskutieren: Entspricht unsere nationale Sicherheitsarchitektur der Bedrohungslage? Und was bedeutet dies konkret für die Instrumente der inneren und äußeren Sicherheit? Für welche Themenfelder der Sicherheitspolitik bedarf es ressortübergreifender Konzeptionen? Gibt es Defizite bei der politischen Steuerung der Sicherheitspolitik? Und was ist dabei die Rolle des Parlaments? Wir brauchen nicht weniger als eine neue „Nationale Sicherheitskonzeption“, in der wir unsere Interessen, Ziele und Strategien klar benennen.

Der richtige Ort, um diese Debatte zu führen, wäre eine Enquetekommission des Deutschen Bundestages. Solche interfraktionellen Arbeitsgruppen haben die Aufgabe, grundsätzliche gesellschaftliche oder politische Themen zu beleuchten. In einer Enquetekommission sollten die sicherheitspolitischen Strukturen von Exekutive und Legislative kritisch überprüft und gegebenenfalls Empfehlungen erarbeitet werden. Experten der Fachausschüsse sollten der Kommission ebenso angehören wie Sachverständige aus Wissenschaft, Bundeswehr und Wirtschaft. Ergebnisse könnten noch in dieser Legislaturperiode vorgelegt werden.

Die Aufgaben deutscher Sicherheitspolitik reichen heute von der nationalen Sicherheitsvorsorge über weltweite Krisenprävention und -bewältigung bis zur Konfliktnachsorge. Zu den sicherheitspolitischen Instrumenten zählen die Terrorismusabwehr im Inneren ebenso wie der Auslandseinsatz von Justiz und Polizei, der Katastrophenschutz, humanitäre Hilfe und Sanktionen, die Entwicklungspolitik, die Außenwirtschaftspolitik, die internationale Finanzpolitik, Rüstungsexporte, Diplomatie, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitungspolitik sowie Mittel des zivilen und militärischen Krisenmanagements. Hinzu kommen die traditionellen Mittel der Innenpolitik und die Maßnahmen im Kampf gegen die organisierte Kriminalität. Alle diese Instrumente müssen enger miteinander verzahnt werden.

Eine tragende Rolle einer vernetzten Sicherheitspolitik muss das Parlament spielen, das auf jeder Ebene in die Abstimmungsprozesse einzubinden ist. Dafür müssen noch einige Koordinations- und Informationsblockaden überwunden werden. Das ist doppelt schwer, da die nationale Sicherheitspolitik eng an die europäische Außen- und Sicherheitspolitik gekoppelt ist und die Vernetzung auch innerhalb der EU und der Nato verbesserungsbedürftig ist.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Sicherheitspolitik soll nicht „militarisiert“ werden. Es geht vielmehr darum, die zentralen sicherheitspolitischen Herausforderungen zu definieren, die Instrumente deutscher Sicherheitspolitik weiterzuentwickeln – und das konzeptionslose Lavieren zu beenden.

Die SPD hat die Aufgabe, eigene sicherheitspolitische Leitlinien zu definieren und in zukunftsweisende Debatten einzubringen. Wir dürfen das Feld nicht dem Bundesinnenminister überlassen. Gerade in der Großen Koalition besteht die Möglichkeit, aus alten sicherheitspolitischen Denkmustern auszubrechen. Wir sollten die Chance nutzen.

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