Mehr direkte Demokratie? Aber dann richtig!
Ohne den Hinweis auf den tatsächlichen Bedeutungsschwund des Parlaments als Gesetzgebungsorgan und Forum der öffentlichen Debatte bleibt sie jedoch blutleer. Hinzugefügt werden sollte deshalb eine Passage, die den Willen ausdrückt, den mit Sorge beobachteten Tendenzen einer „Entparlamentarisierung“ des politischen Systems entgegenzuwirken und den Bundestag wieder stärker in das Zentrum des Regierungsgeschehens zu rücken.
Auch die sich anschließende Forderung nach einer herausgehobenen Stellung der Parteien im politischen Willensbildungsprozess ist ergänzungsbedürftig. Wenn, wie es dort heißt, der Auftrag der Parteien ernst genommen werden soll, „die stetige politische Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an den Entscheidungen sicherzustellen“, so müssen die Parteien selbst mit gutem Beispiel vorangehen, indem sie die Möglichkeiten der Mitgliederbeteiligung verbreitern und den Bürgern über entsprechende Änderungen beim Wahlrecht mehr Mitwirkungschancen bei der Kandidatenauswahl bieten. Auch hier wäre eine konkrete Absichtsbekundung angezeigt.
Am problematischsten und korrekturbedürftigsten erscheinen mir allerdings die ans Ende des einleitenden Abschnitts gestellten Ausführungen zur direkten Demokratie. Hier fällt auf, dass die Begrenzungen der Direktdemokratie sehr viel stärker betont werden als ihre Potenziale. Aus diesem defensiven Ansatz, mit dem die Autoren offenbar vorsorglich den Gegnern von Plebisziten entgegentreten wollen, spricht ein grundsätzliches Misstrauen in die politische Urteilsfähigkeit des Volkes. Das macht die Forderung letztlich unglaubwürdig und trägt nicht dazu bei, „mehr Begeisterung für die Demokratie zu wecken“, wie es an anderer Stelle heißt.
Missverständliche Formulierungen
Konkret wird im Bremer Entwurf die Ergänzung der parlamentarischen Entscheidung durch „Volksbegehren und Volksentscheid in Gemeinden, Ländern und Bund“ gefordert. Diese Formulierung ist missverständlich, weil Volksbegehren und Volksentscheide in Ländern und Kommunen längst eingeführt sind, und zwar flächendeckend. Allein der Bund übt sich weiterhin in plebiszitärer Enthaltsamkeit.
Bemerkenswert ist aber, dass die Direktdemokratie gerade im Verfassungsleben der Länder, die ja als Vorbilder für den Bund eher taugen als die Kommunen, kaum eine Rolle spielt. Der Grund dafür liegt in den auch von der SPD geforderten „gesetzlich festzulegenden Grenzen“ und „verfassungsrechtlichen Beschränkungen“, die die Verfassungsgeber in den Ländern sehr weit ausgelegt haben. Nicht nur, dass die Trias aus Steuern, Besoldungsregelungen und Haushaltsgesetzen dem direktdemokratischen Zugriff entzogen bleibt. Auch über lediglich finanzwirksame Gesetze dürfen die Bürger in keinem Bundesland (mit Ausnahme von Sachsen) abstimmen. Darüber hinaus sind in den verschiedenen Stadien der jeweiligen Verfahren zumeist sehr hoch angesetzte Quoren zu erfüllen.
Befördert wird die restriktive Praxis durch die Verfassungsrechtsprechung in den Ländern, die den Parlamenten das Recht zubilligt, plebiszitär zustande gekommene Gesetze jederzeit und ohne besonderen Grund zu ändern oder ganz aufzuheben. Dass sich die Volksvertreter nicht scheuen, von diesem Recht Gebrauch zu machen, konnte man unlängst in Hamburg beobachten, wo die CDU-Mehrheit eine im Jahr 2004 von den Bürgern – gegen die Absicht der beiden großen Parteien – beschlossene Wahlrechtsreform noch in der laufenden Legislaturperiode wieder rückgängig machte. Dass ein solches Verhalten weder die Akzeptanz der Direktdemokratie noch das Ansehen der Parteien fördert, liegt auf der Hand. Die „neue Begeisterung für die Demokratie“, die die SPD sich im Bremer Entwurf von den Volksentscheiden erhofft, dürfte hier wohl ins glatte Gegenteil umschlagen.
Das Problem heißt Volksgesetzgebung
Den mangelnden Respekt, den die CDU in der Hansestadt vor dem „Souverän“ gezeigt hat, muss man nicht gleich auch der SPD unterstellen. Doch das eigentliche Problem reicht tiefer: Sämtliche Parlamente und Parteien in der Bundesrepublik orientieren sich an der so genannten Volksgesetzgebung – einem Modell der Direktdemokratie, das Auseinandersetzungen wie die in Hamburg fast zwangsläufig provoziert. In der dreistufigen Folge von Initiative, Begehren und Entscheid haben die Bürger dabei die Möglichkeit, als Gesetzgeber an die Stelle (und nicht nur an die Seite) der gewählten Vertretungskörperschaft zu treten. Darin unterscheidet sich die Volksgesetzgebung von einem Referendum oder einer bloßen Vetoinitiative, denen der parlamentarische Beschluss bereits vorausgeht. Nach einer in Deutschland verbreiteten Auffassung stellt die Volksgesetzgebung deshalb die fortschrittlichste Form der Direktdemokratie dar. Auch die SPD hat ihr gegenüber den vermeintlich minderwertigen Formen des Referendums oder der Volksbefragung stets den Vorzug gegeben.
Die Arbeit an ihrem neuen Grundsatzprogramm böte der Sozialdemokratie die Chance zur dringend notwendigen Korrektur dieser Position, mit der sie sich zugleich von den anderen Parteien abgrenzen könnte. Dazu müsste sich die SPD freilich zu der Erkenntnis durchringen, dass die Volksgesetzgebung als angeblicher Königsweg der Direktdemokratie in Wahrheit ein Irrweg ist, der letztlich verhindert, dass Plebiszite ins Grundgesetz eingeführt werden. Denn die Volksgesetzgebung führt, wie gesehen, zur Festlegung weitreichender Ausschlussgegenstände und hoher Quoren, um den Missbrauch zu erschweren und Konflikte wie in Hamburg gar nicht erst entstehen zu lassen. Für den Bund stellt sich außerdem die Frage, wie der Bundesrat an einem plebiszitären Gesetzgebungsverfahren beteiligt werden könnte. Ein Ländermehr der Bevölkerung (nach Schweizer Vorbild), wie es von der SPD früher einmal erwogen wurde, böte hier gewiss keinen adäquaten Ersatz.
Was der SPD zu denken geben sollte
Die Konsequenz kann nur lauten, die Fixierung auf die Volksgesetzgebung endlich aufzugeben und nach systemverträglicheren Alternativen der Direktdemokratie zu suchen. Auch der SPD sollte zu denken geben, dass das von ihr favorisierte Modell einer direkten Demokratie „von unten“, so sympathisch es auf den ersten Blick erscheint, in anderen Staaten kaum verbreitet ist – selbst die Schweiz kannte die (positive) Volksinitiative bis zum Jahr 2003 nur als Verfassungsinitiative.
Als Alternativen kämen in erster Linie die „Vetoinitiative“ (eine Volksinitiative gegen ein vom Parlament beschlossenes Gesetz) und ein von der Regierung anzusetzendes einfaches Referendum in Betracht. Dies muss im Grundsatzprogramm der SPD nicht unbedingt ausgeführt werden. Aufgenommen werden sollte aber ein Passus, der unter Verweis auf die Probleme der Volksgesetzgebung einen Neuanfang in der Debatte anmahnt. Er könnte anstelle der beiden letzten Sätze des betreffenden Abschnitts eingefügt werden und wie folgt lauten: „Die in den Ländern verbreitete dreistufige Volksgesetzgebung birgt insofern Probleme, als sie den Anwendungsbereich der Plebiszite für die Bürger stark begrenzt. Es ist deshalb keineswegs ausgemacht, ob Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid geeignete Modelle auch für den Bund wären. Dies muss zum Gegenstand einer neuen Reformdebatte gemacht werden.“
Mit einer solchen Neupositionierung würde die SPD Mut beweisen und zeigen, dass sie es mit der direkten Demokratie wirklich ernst meint. Damit könnte sie sich nicht nur von den Plebiszit-Skeptikern in der Union abgrenzen, sondern auch von den Befürwortern bei der FDP, den Grünen und der PDS/Linkspartei, soweit diese unbeeindruckt an der Volksgesetzgebung festhalten. Die bisherigen Formulierungen zu Beginn des Kapitels 4.3 führen über den programmatischen Status quo kaum hinaus. Mit einem neuen Blick auf die Direktdemokratie hätte die SPD die Chance, hier etwas zu bewegen. Dazu müsste sie freilich bereit sein, über ihren Schatten zu springen und sich von bisherigen Selbstgewissheiten zu lösen. In anderen Bereichen – etwa der Sozialpolitik – ist ihr dies im Bremer Entwurf mit vielen guten Ansätzen gelungen. Warum also sollte dies nicht auch beim Thema „Demokratie“ möglich sein?