Mehrheit ohne Mehrheitsfähigkeit
Die Bundestagswahl gebar bizarre mögliche politische Konstellationen: „Jamaica-Schwampel“, Ampel, israelisches Modell – jede Addition war erlaubt. Nur die Linkspartei.PDS wurde auf Null gesetzt. Auch der vorhergegangene Lagerwahlkampf interessierte niemanden mehr, obwohl doch große Themen dominiert hatten: Die Kopfpauschale stand der Bürgerversicherung gegenüber, Kirchhoff pries die Flat Tax und eine neue Familienpolitik, die Mitbestimmung stand ebenso zur Debatte wie die ALG-II-Sätze für Ostdeutschland, der Irak-Krieg und der EU-Beitritt der Türkei. Unter der Oberfläche dieser Sachfragen stand eine Grundsatzfrage zur Wahl: Sollte künftig „Solidarität“, oder sollte „Leistung“ mehr zählen? In Umfragen plädierten 55 Prozent der Wählerinnen und Wähler für Solidarität, hingegen nur gut ein Drittel (34 Prozent) für Leistung.
Am Ende entspricht der gesellschaftlichen Mehrheit für mehr Solidarität eine parlamentarische Mehrheit von 51,1 Prozent für jene Parteien, die im Wahlkampf dafür auch Position bezogen hatten: SPD, Grüne und Linkspartei. Eine entsprechende Regierungskoalition jedoch wünschen sich prozentual gerade einmal so viele Befragte, wie die Linkspartei Stimmen bekam. Hier zeigt sich der Zustand der linken Mitte in Deutschland: Sie ist eine nicht mehrheitsfähige Mehrheit. Warum eigentlich?
Der Verleger Klaus Wagenbach sah die „ordentliche linke Mehrheit in Deutschland“ am Tag nach der Wahl lediglich blockiert durch „die Erzfeinde Schröder und Oskar Lafontaine“. Ganz so einfach liegen die Dinge nicht, aber eines darf nicht unterschätzt werden: Lafontaine war einer der herausragenden SPD-Vorsitzenden, eine Identifikationsfigur für viele, die linke Ideale und Regierungsfähigkeit verbinden wollten. Eine Identifikationsfigur, die sich dann gegen seine Partei wandte, sie nach 1999 über das Medium Bild beschimpfte und sie schließlich als Führer einer SPD-Abspaltung politisch bekämpfte. Schröder hingegen war der anderthalb Jahrzehnte von der Partei herbeigesehnte SPD-Kanzler, der mit seiner praktischen Politik jedoch Hunderttausende verprellte und aus der eigenen Partei trieb.
Die Regression des Oskar Lafontaine
Hinter der Konfrontation zwischen Lafontaine und Schröder standen große Fragen: Wie sehr akzeptiert und wie bewältigt man Herausforderungen wie die Globalisierung und die deutsche Einheit, den technologischen und demografischen Wandel, die Haushalts- und Wirtschaftskrise, massenhaften sozialen Absturz und Chancenverlust, den neuen Terrorismus und die wankende internationale Sicherheitsarchitektur? Diese Fragen trieben die SPD-Mehrheit und ihren früheren Vorsitzenden auseinander. Für Lafontaine trat die Bewältigung der Herausforderungen immer stärker zurück hinter die Skandalisierung der sozialen Konsequenzen von Regierungsentscheidungen. Gestaltungsansätze, mit denen er selbst 1998 angetreten war, verloren zudem ihre Basis: Die europäische Sozialdemokratie hatte die politische und soziale Gestaltung der Globalisierung nicht angepackt, als sie um die Jahrtausendwende in den meisten EU-Ländern regierte. Später scheiterte der EU-Verfassungsentwurf auch an diesen Defiziten.
Lafontaines These aus den neunziger Jahren, dass eine solche Gestaltung möglich sei, weil der wirtschaftliche Austausch vorrangig innerhalb der Triade aus EU, USA und Japan erfolgte, erledigte sich mit dem massiven Vordringen vor allem Chinas auf die Weltmärkte. Die klassische Regulierung durch Protektionismus einerseits und westliche Dominanz andererseits ist heute überholt; die „Ablehnung“ der Globalisierung ist Donquichotterie. Heute kommt es vielmehr darauf an, dort politisch einzugreifen, wo die Globalisierung selbst „kritische Massen“ erreicht: bei der Überhitzung der Börsen, beim Auslaugen der Volkswirtschaften und Binnenmärkte des Westens durch den Export von Arbeitsplätzen und den Import von Billigprodukten und -leistungen, bei der Überforderung des Flug- und Containerverkehrs, bei den Rohstoffengpässen.
Lafontaines Verwandlung zu einem Gegner der europäischen Integration, seine Grenzgängereien (Auffanglager in Nordafrika, „Fremdarbeiter“-Polemik, Befürwortung von Folter, Teile seines 10-Punkte-Planes „So rette ich Deutschland“) und auch sein Bild von einer Partei, die nur Arbeitnehmer (also nicht die Arbeitslosen) und die Rentner (also nicht die Jungen) vertreten will, sind ein Symptom für die Ratlosigkeit der deutschen Linken. Erst nachdem Lafontaine ausgeschieden war, setzte in der SPD eine vorsichtige öffentliche Kritik in der Sache ein, erst nach seinem Eintritt in den Linkspartei-Wahlkampf mit der Chemnitzer Rede über „Fremdarbeiter“ und den „deutschen Familienvater“ begann bei PDS und WASG die eindeutige Zurückweisung nicht akzeptabler Positionen. Erst daraufhin korrigierte Lafontaine seine Früchte des Zorns. Auch insofern steht die „ordentliche linke Mehrheit in Deutschland“ erst am Anfang.
Aber immerhin steht sie am Anfang. Die Wahl im September hat die Parteienlandschaft verändert. Die Linkspartei.PDS ist nicht mehr die alte Ostpartei PDS. In West und Ost hat sie mittlerweile annähernd gleich viele Wähler, ihre Bundestagsfraktion ist entsprechend zusammengesetzt. Schon 2006 könnte sie auch in westdeutschen Landtagen sitzen und als Koalitionspartner gebraucht werden. Die Linkspartei wird mehr sein als eine postkommunistische Nachfolgepartei, sondern auch geprägt werden von sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Positionen. In der Wählerschaft schneidet sie nicht mehr bei der früheren DDR-Dienstklasse überdurchschnittlich gut ab, sondern bei Arbeitern und Arbeitslosen in Ost und West; im Osten erreichte sie bei den Arbeitslosen sogar einen Stimmenanteil von 42 Prozent. Ihre stärksten Zuwächse nach Alter und Geschlecht verzeichnet die Linkspartei bei ostdeutschen Männern zwischen 45 und 59 Jahren – ähnlich war die Trägergruppe der großen Hartz-IV-Proteste zusammengesetzt.
Bloß protestieren oder Probleme lösen?
Das Moment des Protestes trennt die SPD und die Linkspartei. Die Linkspartei gilt als politikunfähig, weil 70 Prozent ihrer Wählerinnen und Wähler „Protest“ als Wahlmotiv angeben. Dabei sind laut Forschungsgruppe Wahlen 50 Prozent ihrer Anhänger davon überzeugt, dass die politischen Vorschläge der Partei eine Lösung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme brächten, 47 Prozent zweifeln daran. Protest und Lösungsorientierung gehen also für viele Hand in Hand. Andererseits sind die Selbstzweifel kein alleiniger Makel von Anhängern der Linkspartei. Eine Befragung von TNS Emnid zum SPD-Wahlmanifest etwa erbrachte folgendes: Nur 60 Prozent der SPD-Anhänger hielten das Manifest für glaubwürdig, nur 50 Prozent für finanzierbar; 40 Prozent verneinten die Frage, ob damit die Zukunftsprobleme des Landes zu lösen wären. Auch 50 Prozent der Unionsanhänger glaubten, die eigenen Vorschläge seien nicht finanzierbar, immerhin 25 Prozent konnten im Unionskonzept keine Lösung der Zukunftsprobleme erkennen.
Die Bruchlinie innerhalb der Linkspartei
Tobias Dürr hat vor den Wahlen in einem Aufsatz über „Deutschlands künftiges Parteiensystem“ (Aus Politik und Zeitgeschichte 32/33-2005) eine „zentrale neue Konfliktlinie“ zwischen der „Partei der Bewegung“ und der „Partei der Beharrung“ beschrieben: „Kreativität und Dynamik sowie Offenheit für Veränderung einerseits – Bewahrung und Konservatismus sowie Festklammern am Bestehenden andererseits: [...] Der Bruch verläuft mitten durch die beiden großen Volksparteien, mitten durch die Anhängerschaft der Grünen, auch mitten durch den Anhang der [...] FDP.“ Als „entscheidende Neuerung dieser Wahl“ prognostizierte er, „dass die verbreitete Mentalität der reinen Beharrung mit der ‚Linkspartei’ eine eindeutige elektorale Heimat bekommt.“ Als alleiniges konstituierendes Moment für ein neues Parteiensystem hat sich diese Linie am 18. September nicht erwiesen, als wichtige Bruchlinie innerhalb von Parteien und Parteiensystem schon, allerdings auch innerhalb der Linkspartei und nicht nur jenseits von ihr. Das werden wir erleben, wenn die neue Bundestagsfraktion ihre Arbeit aufnimmt, wenn die umbenannte PDS und die WASG ihre Fusion vollenden und programmatisch unterlegen.
In dieser Phase muss sich die politische Substanz der PDS – also ihre strategische Orientierung und deren konzeptionelle Untersetzung – behaupten und durchsetzen. Eine strategische Orientierung, die eben nicht einseitig auf „Protest“ setzt, sondern die Kritik aktueller Politik und gegenwärtiger Verhältnisse an einen Gestaltungs- und Regierungsanspruch bindet und beides mit der Suche nach einer demokratisch-sozialistisch bestimmten Zukunft verkoppelt. Die Partei sollte also über bodenständige politische Projekte und Referenzen definiert werden, nicht über ein schrilles Nein, nicht über inhaltsleere Debatten zu parteipolitischen Konstellationen, über Opposition an sich oder über Regieren als solches.
Parteiinternes Gerangel wird nicht reichen
Die Linkspartei wird Debatten neu auflegen, die die PDS in den neunziger Jahren abgeschlossen hatte, und sie wird mit einem im Zuge der Fusion erstarkten sozialkonservativen und etatistischen Flügel konfrontiert sein. Es geht dabei um ernste Fragen nach dem Verständnis und der Rolle von Staat und Wirtschaft, von Zweck und Grenzen der sozialen Sicherungssysteme, von Politik und Parteien in einer pluralistischen Gesellschaft, von Nationalstaat und Globalisierung. Bei allen Risiken darf man diese Debatten nicht scheuen. Denn bei weitem nicht bei allen Themen hatte die PDS bislang schlüssige Ergebnisse vorzuweisen, etwa zur Globalisierung, zum demografischen Wandel, zur postindustriellen Wissensgesellschaft, zu modernen Technologien. Und die PDS wird durch die Fusion auch in Bezug auf manche ideologische Gewissheit herausgefordert. Bei weitem nicht jeder Sozialdemokrat und Gewerkschafter, der sich wegen der „Agenda 2010“ von der SPD abgewandt hat, ist deswegen zum Sozialisten geworden. Und der aus der Wendezeit stammende Charme der Unbeholfenheit sowie die sensiblen politischen und ideologischen innerparteilichen Balancen werden sich der Kraft sozialdemokratischer und gewerkschaftlicher Organisationserfahrung stellen müssen.
Die Maßstäbe für Erfolg oder Misserfolg liegen allerdings nicht im parteiinternen Gerangel. „Für eine neue soziale Idee“ lautete im Wahlkampf die Parole der Linkspartei.PDS. Wie finden Gesellschaft, Politik und Wirtschaft aus dem „Rette sich, wer kann“ zurück zur handlungsleitenden Überzeugung, dass es in modernen, arbeitsteiligen Gesellschaften eine Verantwortung aller für alle gibt? Wie entsteht ein Konsens darüber, dass die Menschen auch angesichts der neuen Risiken von heute nicht unter ein bestimmtes Lebensniveau abstürzen dürfen? Wie muss dieses Lebensniveau aussehen? Und wie kann es gewährleistet werden? Wie lässt sich angesichts der unabwendbaren Risiken erreichen, dass dem „Auf“ und „Ab“ in Wirtschaft und individuellem Leben immer wieder auch ein „Auf“ folgt – und dass dieses „Auf“ nicht allein persönlichen Anstrengungen und Glücksumständen überlassen wird?
Die Kreativität der Gesellschaft freisetzen
Dies sind die Fragen, an denen sich die Parteien – die Linkspartei wie die anderen – bewähren, um die sie den Wettbewerb untereinander und den Dialog mit der Gesellschaft führen müssen. Auch vor 120 Jahren wurde der europäische Sozialstaat nur dem Anschein nach „von oben“ eingeführt – in Wahrheit hat er seither stets Formen der Selbstorganisation und Solidarität von „unten“ institutionalisiert. Er verallgemeinerte unternehmensinterne Wohlfahrtsregeln für Alte und Sicherungssysteme gegen Krankheit, klassische Mildtätigkeit und Ergebnisse von Klassenkämpfen ebenso wie die Aushandlungsprozesse von „Kapital und Arbeit“. Er stellte Verbindlichkeit her, gewährte Garantien und Zuschüsse.
Das Elend der heutigen Reformpolitik erklärt sich zum Teil auch aus dem fehlenden innovativen Unterbau in der Gesellschaft, aus der alleinigen Verantwortungszuweisung an den Staat. Politik, die dies erkannt hat, wird sich nicht zuerst auf die Verwaltung der Missstände und die Durchsetzung entsprechender Maßnahmen konzentrieren, sondern alles dafür tun, die kreativen, innovativen Kräfte in der Gesellschaft frei zu setzen. Letztlich ist dies der Weg zu mehrheitsfähigen Mehrheiten.