Merkels Angsthasenspiel
In der Spieltheorie gibt es das „Chicken Game“ (oder „Angsthasenspiel“): Zwei Autos rasen mit hoher Geschwindigkeit aufeinander zu. Wer zuerst ausweicht, hat verloren. Wenn beide gewinnen, bezahlen sie jedoch ihren Sieg mit dem Tod. Dieses Spiel betreiben derzeit die deutsche Bundesregierung und die griechischen Parteien: Die Griechen drohen, mit einem ungeordneten Austritt aus der Währungsunion den Euro in den Untergang zu reißen, sollte ihnen nicht geholfen werden. Die Bundesregierung dagegen pocht auf die Einhaltung geschlossener Verträge, um nicht die Glaubwürdigkeit europäischer Vereinbarungen völlig zu desavouieren. Nur wenn bestehende Absprachen erfüllt werden, seien weitere Hilfeleistungen möglich.
Der Trick beim Angsthasenspiel ist ein psychologischer. Gewinnen kann man nur, wenn man den Anderen überzeugt, dass man wirklich bereit ist, dem Tod ins Auge zu schauen. Zum Beispiel, indem man sich vor dem Rennen die Augen verbinden lässt oder sich sinnlos betrinkt. Der Gegner soll denken, man habe den Verstand verloren. Um das eigene Leben nicht zu riskieren, wird der Nüchterne ausweichen. Daher lässt die Bundeskanzlerin jenen Kräften in ihrer Koalition Raum, die offen über ein Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone diskutieren. Wenn die Griechen sich morgen verabschiedeten, würde die deutsche Öffentlichkeit kaum eine Träne vergießen. Die Griechen selbst drohen mit dem Willen des Volkes. Dieser soll ihnen so die Hände binden, dass quasi keine andere Möglichkeit als ein Aufweichen der Konditionen für ein Überleben Europas möglich ist.
In einer Welt nervöser privater Investoren ist es durchaus gefährlich, über die Gestaltung der zukünftigen Architektur Europas per Angsthasenspiel zu entscheiden. Auf den Finanzmärkten sinkt das Vertrauen in das Überleben des Euro. Immer mehr warnende Kommentare in der internationalen Finanzpresse stimmen die Investoren auf eine Flucht aus dem Euro ein. Geht das Vertrauen in die Fähigkeit Europas, seine Probleme zu lösen, auf den Finanzmärkten ganz verloren, wird niemand mehr in Staatsanleihen der Schuldnerländer investieren.
Zumal die Mutprobe nicht die erste dieser Art ist. Immer wieder haben Regierungen in Schuldnerländern versucht, die Anforderungen an ihre Reformpolitik gering zu halten, während Gläubiger in wohlverstandenem Eigeninteresse weitere Garantien übernehmen sollten. Umgekehrt haben Gläubiger die Schuldnerländer gezwungen, für die Verbindlichkeiten ihrer Banken geradezustehen, um so die Risiken der eigenen Banken zu minimieren. Und immer wieder hat sich die Bundesregierung unter dem Druck der Finanzmärkte mehr bewegt als die Regierungen der Schuldnerländer: Wie schon dem Stabilitäts- und Wachstumspakt fehlt es der derzeitigen Finanzarchitektur Europas an Glaubwürdigkeit. Solange sie nicht weiterentwickelt wird und Banken europäisch und nicht mehr national reguliert werden, wird dieses Dilemma nicht gelöst.
Die Bundesregierung weiß das und wird daher auch das nächste anstehende Angsthasenspiel verlieren. Die Politiker Europas trauen Angela Merkel einen irrationalen Kamikazekurs, der den Austritt Griechenlands aus der Eurozone riskiert, letztlich doch nicht zu. Den Griechen jedoch schon. Eine neue griechische Regierung darf daher auf weitere Hilfeleistungen hoffen. Die Bundesregierung hingegen will den Schuldnerländern diesen Schritt so sehr erschweren wie möglich. Sie will sich auch nicht erpressbar zeigen und muss auf weitere Konditionen pochen. Auch deshalb war eine große Lösung, in der die Gläubiger rasch und ohne Gegenleistung umfassend die Schulden der Eurozone vergemeinschaften, politisch nie realistisch, wenn sie auch ökonomisch vernünftiger gewesen wäre.
Wird das reichen, um die Krise des Euros zu lösen? Das hängt davon ab, ob Investoren Alternativen zur Eurozone haben. Und von der Bereitschaft, nicht nur neue europäische Institutionen zu entwickeln, sondern auch Reformen ernsthaft anzupacken. Der Weg bleibt steinig und schwer.