Mittelmacht, Winter 2001/2002

Auch wer nichts tut, kann sich schuldig machen. Und wer handelt, dem wird manchmal mulmig. Am Ende unseres Sonderwegs stehen wir Deutschen mit gemischten Gefühlen da. Marginalien

Es ist eine von diesen seltsamen Mitteilungen, die jetzt häufiger werden. Um 0.16 Uhr Ortszeit schickt W. diese sms: "Bin in dubai. Gleich Flug nach islmbd. Von da mit uno-flug nach kabul. Ab jetzt kein d2-netz mehr. Frohe Weihnacht!" W. ist Journalist und arbeitet eigentlich in Berlin. Aber das deutsche Auswärtige, das ist plötzlich nicht mehr nur der kleine, feine, ferne, exklusive Zirkel von Diplomaten und Auslandskorrespondenten, das sind immer mehr Zeit- und Berufssoldaten aus der Nachbarschaft, die für Monate nach Bosnien, ins Kosovo, nach Mazedonien, in den Indischen Ozean, nach Dschibuti und Afghanistan in Marsch gesetzt werden. Und Journalisten.

Nach dem Rückflug aus Islamabad sitzt A., das Jetlag noch in den Knochen, im Schwarzenraben und berichtet von der Schwierigkeit, sich in wenigen Tagen, ja Stunden ein mediengerechtes Bild von der Lage in den Flüchtlingslagern zu machen. Sie hat für ihre Redaktion die Parteivorsitzende der Grünen nach Pakistan begleitet. (Die hatte gerade gefordert - irgendwas muss aus so einem Be-such ja rauskommen -, wegen Ramadan das US-Bombardement auf Taliban und Al-Kaida zu unterbrechen. Wenn Ramadan ist, darf man nämlich nicht angegriffen werden. Nur angreifen.)

Ein Offizier und Genosse, der schon sechs Monate auf dem Balkan war, soll jetzt mit einem deutschen ABC-Abwehrbataillon zum vorsorglichen Antiterroreinsatz in die arabische Wüste, nach Kuwait wahrscheinlich. Vor Weihnachten Missionsausbildung, Landeskunde, gemischte Gefühle. Verlegung vielleicht erst nach Neujahr? Die Familie kennt diese Art Aufregung schon, aber schön ist das nie.

Im Manuskripttext der Abschiedsvorlesung eines hochverehrten akademischen Lehrers finde ich ein Zitat von Arno Schmidt, aus seinen "Alexander"-Arbeiten. Belagerung. "Die Belagerungsmaschinen wirkten fürchterlich, wie Insektenriesen mit stakigen Gliedern, haushoch, friss die Mauer. Er lachte bitter: "Ja, ja: in tausend Jahren werden sie soweit sein, daß auf der Agora jeder Stadt ein Apparat mit Handgriff und dieser Aufschrift steht: Ziehe und Du zerstäubst den Erdball!" "Und wer wird ziehen", fragte ich ermüdet. (...) , Ja: Wer", sagte er schnell und sachlich, zuckte die Achseln, sann höhnisch und abwesend: ,... vielleicht ein Mädelchen, das eine schlechte Zensur bekommen hat; oder ein trunkener Gefreiter, der sich vor der kichernden Geliebten brüstet; oder ein neunzigjähriger Bauer, der einen Prozeß um ein Wegrainlein verlor.""

Bevor Gerhard Schröder die Frage des Antiterroreinsatzes der Bundeswehr mit der Vertrauensfrage verbindet, spielen einige Dutzend Koalitionsabgeordnete mit der Gewissensfrage. Ein gutes Gewissen besitzt, wer keinen Militäreinsatz verantworten mag, ein schlechtes, wer Gewalttäter auch mit Gewaltmitteln bekämpfen will. Sich die Finger nicht schmutzig machen, seine Hände in Unschuld waschen, sauber bleiben: Politik aus der ersten Person. Erhard Eppler hält dem, wie seinerzeit in der Kosovo-Frage, entgegen, auch wer nichts tut, kann sich schuldig machen. Durch Unterlassen.

Die Gewissenhaften werben für ihre Entscheidung in endlosem Mediengeplauder. Sie erklären den Bauplan ihrer Überzeugungen, ihre Lebensgeschichte, ihre politischen Ziele, wie′s in ihnen persönlich selbst innen drin aussieht, wie sie sich fühlen. So als ob man über eine Hier-stehe ich-und-kann-nicht-anders-Position noch diskutieren könnte. Oder sollte. Am Ende ist das grüne Rest-Gewissen - vier zu vier - teilbar, und die Koalition überlebt ihre Krise um "Vertrauen oder Gewissen".

Luhmann sagt, Vertrauen heißt Reduktion sozialer Komplexität, was hier tatsächlich gut passt.

Als Hans-Christian Ströbele, einen Bundeswehreinsatz weiter, in der Afghanistan-Sondersitzung des Bundestages, zwei Tage vor Heiligabend ans Rednerpult tritt und erklärt, er persönlich habe an diesem Morgen für sich entschieden, dass er nun doch zustimmen könne, leuchtet der rote Schal, den dieser grauhaarige alte Mann im gutbeheizten Plenarsaal zum Zeichen linker Nonkonformität über die Schultern geworfen hat. Vor Eitelkeit.

Oberst a.D. Wolfgang Bernhardt ist heute Leiter eines Pflegeheims im Prenzlauer Berg. Er hatte in vierjährigem Studium an der Frunse-Akademie in Moskau den Abschluss eines Diplom-Militärwissenschaftlers erworben. Von 1980 bis 1984 war er Militärattaché an der DDR-Botschaft in Kabul. Die Russen, sagt Bernhardt, hätten schon 1981 eingesehen, dass der Einmarsch in Afghanistan ein Fehler war. Insofern machten es die Amerikaner jetzt richtig, indem sie, statt einzumarschieren, mit einheimischen Kräften paktierten.

In Afghanistan sei man deutschfreundlich und habe auch nicht besonders zwischen West und Ost unterschieden. Das Botschaftspersonal der DDR habe damals nur darauf achten müssen, nicht so auszusehen wie die Russen. Ob Afghanistan jetzt eine Chance habe? Sicher, aber es werde auch wieder Rivalitäten und Kämpfe im Land geben, wenn die gegenwärtige Ermüdung überwunden sei. Bernhardt ist nie wieder dort gewesen; für ihn ist das Kapitel Afghanistan abgeschlossen.

Jahresempfang im Wehrbereichskommando. Viele sozialdemokratische Amts- und Mandatsträger sind da, wohl auch, weil es eine sozialdemokratische Regierung ist, die jetzt die Bundeswehr überall auf der Welt einsetzt. Der Befehlshaber dämpft, spricht von den Grenzen der Leistungsfähigkeit unserer Streitkräfte; alle loben die Soldaten in den Einsatzkontingenten. Dann spielt ein Musikkorps draußen in winterlicher Kälte Gruß an Kiel, ein paar historische Märsche und zum Abschluß ein Potpourri Morgen kommt der Weihnachtsmann.

Ich habe eine Genossin für 75-jährige Mitgliedschaft in der SPD zu ehren. Das kommt sehr selten vor. Sie ist 93, eingetreten 1926, mit 18 Jahren. Ich versuche am Schreibtisch, die Zeit zu rekonstruieren. Acht Jahre nach der Revolution und dem Beginn der ersten Republik. 1927 findet in Kiel der SPD-Parteitag statt, der - auch eine Vertrauensfrage - der Parteiführung freie Hand gibt zur Koalitionsbildung mit anderen demokratischen, bürgerlichen Parteien und die reine Oppositionsstrategie der Linken fürs erste verwirft. 1928 wird die SPD wieder stärkste Partei, bildet eine Mitte-Links-Regierung, Hermann Müller wird Reichskanzler. Aber die Zeiten sind unsicher, man spürt die drohende Gefahr. 1928 veröffentlicht Erich Kästner seinen ersten Gedichtband, darin das berühmte Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn? Ich lese es meiner zehnjährigen Tochter vor. Die letzte Strophe geht so:

"Dort reift die Freiheit nicht. Dort bleibt sie grün/Was man auch baut - es werden stets Kasernen/Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn?/ Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen!"

Meine Tochter fragt, ob die Jubilarin, bei deren Ehrung ich das Gedicht vorlesen will, den Zweiten Weltkrieg erlebt hat. Den Ersten auch schon, sage ich. Wie alt sie da war? Als er zu Ende ging, zehn.

Die Ehrung findet bei der Weihnachtsfeier des SPD-Ortsvereins im AWO-Servicehaus statt; es gibt Grünkohl, süße Kartoffeln und Schnaps. Ein Genosse mit Gitarre stimmt Adventliches an und, weil das hier Tradition ist, auch Kampflieder. Die meisten können die Texte: Brüder zur Sonne und Dem Morgenrot entgegen. - Zehn war sie damals.

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