Nach dem Krieg ist vor dem Krieg
"Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen."
Carl von Clausewitz
Szenario 1. Bagdad April 2003. Trotz aller Bemühungen des "alten Europa" haben sich die Vereinigten Staaten und Grossbritannien zum Krieg gegen den Irak Saddam Husseins entschlossen. Die Befürchtungen der Kriegsgegner sind nicht eingetroffen. Die irakischen Soldaten desertieren massenhaft, die Be-völkerung empfindet die Ankunft von Amerikanern und Briten zumeist als Befreiung von einem brutalen Diktator. Der Widerstand der regimetreuen Teile des Sicherheitsapparates wird schnell gebrochen, womit der Zusammenbruch des Regimes nur noch eine Frage der Zeit ist.
Auf diesem Kriegsszenario ruhen die Hoffnungen der Kriegsplaner im Pentagon. Man spekuliert auf den moralischen Zusammenbruch des Gegners. Auf jene Konstellation, die Franzosen und Deutsche beide auf ihre Art erlebt haben. Die Franzosen, als im Jahr 1940 die Kapitulation gegenüber der siegreichen Wehrmacht zum moralischen und politischen Untergang der Dritten Republik führte und diese Tatsache allein von einem nahezu unbekannten General namens Charles de Gaulle bestritten wurde. De Gaulle rettete in London die Idee des Freien Frankreich vor den Kapitulanten um den greisen General Petain - und zudem, wie er meinte, später vor Roosevelt und Churchill. Nach vier langen Jahren kehrte er im Triumph nach Paris zurück. Ein ähnlicher Fall, wenn auch mit anderen Folgen, war die Kapitulation Deutschlands im Mai 1945. Der moralische Zusammenbruch Deutschlands war total und - im Gegensatz zu jenem Frankreichs im Jahr 1940 - endgültig. Der wesentliche Unterschied zu Frankreichs Niederlage 1940: Die besiegten Deutschen waren zugleich befreit worden. Auch wenn sie einige Zeit brauchten, um dies zu begreifen.
Szenario 2. Das Dumme am Krieg ist allerdings seine begrenzte Vorhersagbarkeit. Den Grund findet man in der Unkalkulierbarkeit der Handlungen des Gegners. Im kommenden Dritten Golfkrieg ist auch ein anderes Szenario als das optimistische aus dem Pentagon denkbar. Die alliierten Truppen stoßen zwar schnell und ohne große Gegenwehr in den Irak vor, aber nur weil die irakische Armee nach ihren katastrophalen Erfahrungen im Zweiten Golfkrieg die offene Feldschlacht verweigert und sich auf den Widerstand in den politisch wichtigen Zentren, vor allem in Bagdad, beschränkt. Amerikaner und Briten machen zudem die frustrierende Erfahrung, dass die dem Bagdader Tyrannen feindlichen Bevölkerungsgruppen wie die Schiiten die Befreiung vom Diktator nicht mit Wohlverhalten gegenüber den intervenierenden Mächten belohnen.
Was ist, wenn die Iraker de Gaulle nacheifern?
Der gewonnene Krieg der Alliierten gegen den Tyrannen wird schnell zum Krieg der Befreiten gegen die neuen Besatzer. Die Iraker handeln nicht wie die demoralisierten Deutschen des Jahres 1945, sondern nehmen sich eher den Eigensinn de Gaulles zum Vorbild. In Bagdad stehen den Alliierten die Elitetruppen des Regimes gegenüber, und ein Aufstand der Bevölkerung gegen die Armee Husseins ist allein schon wegen des Repressionsdrucks unwahrscheinlich. Die Alliierten säßen in einer Falle, wenn sie in die Verlegenheit kämen, wirklich um Bagdad kämpfen zu müssen und der Irak nicht mehr oder minder kampflos kapituliert, worauf die Kriegsplaner in Washington so offenkundig spekulieren. Diese Falle besteht aus zwei schlechten Alternativen: Sie können mit ihrer überlegenen Feuerkraft den Einmarsch der Infanterie in Bagdad vorbereiten und auf diese Weise den Widerstand des Gegners brechen. Dies wird ganz banal mit artilleristischer Vorbereitung - auch aus der Luft - geschehen müssen.
Wie eine Stadt im 21. Jahrhundert nach einem derartigen Angriff aussieht, weiß man wieder seit dem Einmarsch der russischen Armee in Grosny im Zweiten Tschetschenienkrieg: nicht viel anders als War-schau, Stalingrad oder Berlin im Zweiten Weltkrieg. Die teilweise Zerstörung Bagdads und hohe Verluste unter der Zivilbevölkerung wären unvermeidlich. Die politischen Konsequenzen des alliierten Sieges in der Schlacht um Bagdad werden an der arabischen Öffentlichkeit nicht spurlos vorbeigehen. Der militärische Sieg wäre zugleich eine politische Katastrophe. Im Straßenkampf mit einem zum Widerstand entschlossenen Gegner werden die Erfahrungen aus dem Jahr 1991, jene des chirurgischen Krieges mit begrenzten Kollateralschäden, endgültig zur Illusion. Statt zum Chirurgenbesteck wird man wieder zur Dampfwalze greifen, trotz des ehrlichen Be-mühens, zivile Opfer zu vermeiden.
Politische Logik, militärische Grammatik
Womit die zweite Alternative benannt ist: die Eroberung Bagdads unter Verzicht auf die überlegene Feuerkraft alliierter Luftwaffe und Artillerie. Das wäre zwar politisch sinnvoll, aber ein militärisches Abenteuer, auf das sich kein Feldkommandeur einlassen wird, der seinen taktisch-operativen Verstand nicht völlig verloren hat. Der Ausgang einer solchen Schlacht wäre durchaus offen und jeder Sieg mit hohen eigenen Verlusten verbunden. Übrigens eine Lehre, die das amerikanische Militär aus Vietnam gezogen hat: keinen Krieg zu führen, der wegen der politischen Restriktionen in der Kriegführung nicht mehr zu gewinnen ist. Der Krieg gehorcht seiner politischen Logik und hat seine militärische Grammatik, um es mit Clausewitz zu formulieren. Wenn sich das optimistische Zusammenbruchszenario des Irak als unzutreffend erweist, wird der Kriegsverlauf unbarmherzig von seiner "militärischen Grammatik" dominiert werden. Wobei die Vereinigten Staaten die Politik praktisch schon aus dem Spiel genommen hatten. Ihre Forderung nach einem Regimewechsel - früher hieß das bedingungslose Kapitulation - wird die militärische Entwicklung nach dem Kriegsausbruch bestimmen. Ein Kompromiss ist unmöglich, wenn es für den irakischen Diktator um Sieg oder Untergang geht.
Es ist das historische Verdienst Deutschlands und Frankreichs, die Krise über den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wieder für politische Optionen geöffnet zu haben. Welches Kriegsszenario am Ende Wirklichkeit wird, werden wir erst nach dem Krieg wissen. Aber die politischen Konsequenzen des angekündigten Krieges für die Zukunft der Vereinten Nationen, von Nato und EU oder das zukünftige Verhältnis des Westens zur islamischen Welt sind schon heute spürbar. Jeder ahnt, dass an Euphrat und Tigris ein Tor aufgestoßen wird, von dem spätere Generationen sagen werden, es wäre besser geschlossen geblieben. Die weltweiten Proteste gegen die Präventivkriegsabsichten der Vereinigten Staaten haben hier ihren existentiellen Grund.
In diesen historischen Tagen ist ein Buch erschienen, das auf seine Weise einen Einblick in solche Konstellationen gewährt. Es handelt sich um Jörg Friedrichs Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940 bis 1945. Das Buch beschäftigt sich mit dem, was Carl von Clausewitz "militärische Grammatik" nannte. Es ist von brennender Aktualität, auch wenn der Irak mit keinem Wort erwähnt wird. Sein Nutzen besteht nicht darin, den Verlauf und die Folgen der aktuellen Krise vorhersehbar zu machen, sondern darin, durch den Rückgriff auf historische Erfahrungen und das methodische Rüstzeug des politischen Analytikers die derzeitige Krise in ihren potentiellen Wirkungen besser verstehen zu helfen.
Der Brand hat wegen der Darstellung der mörderischen Folgen alliierter Bombenangriffe auf die deutsche Zivilbevölkerung international ein grosses Echo gefunden. Er beschreibt eindringlich, welche Wirkungen die Bombenangriffe auf die Städte und ihre Bewohner hatten. So werden aus der grossen Zahl der über 600.000 Bombenopfer einzelne Schicksale erkennbar, aus der anonymen Masse der verstümmelte, verbrannte oder im Bombenkeller erstickte Mensch. Deutschland ist von Sir Arthur Harris′ Bomber Command nachts und von der USAAF tagsüber in eine Steinwüste verwandelt worden. Wenn der amerikanische Verteidigungsminister Rumsfeld über das "alte Europa" philosophiert, könnte man ihm in Deutschland mit einer gewissen Berechtigung entgegnen, dass davon seit dem Mai 1945 nicht mehr allzu viel übrig geblieben ist.
Und genau hier wird Friedrichs Darstellung problematisch. Der Berliner Historiker nimmt einen Faden in der Militärgeschichtsschreibung auf, der Kriegsgeschichte nicht mehr aus der Perspektive der Politik und dessen Instruments, des Generalstabs, beschreibt, sondern sich mit den Wirkungen des Krieges auf die Bevölkerung und den einzelnen Soldaten beschäftigt. Die Opfer des Krieges sind das beste Argument gegen jeden Krieg. Krieg ist immer Blut und Dreck, Gestank und Scheiße. Krieg ist tausendfacher Tod und Verstümmelung. Krieg ist die Ver-gewaltigung von Frauen und die Zerstörung von Familien, allein schon durch die riesige Zahl an hinterbliebe- nen Witwen und Waisen.
Es gibt wohl niemanden in Europa, der im letzten Krieg keine Familienangehörigen verloren hat. Meine eigene Mutter saß 1945 als achtjähriges Mädchen in Elbing im Bunker und wartete auf den Einmarsch der Russen. War sie eine Täterin? Wer hat das je behauptet? Hätte man keinen Krieg gegen Deutschland führen dürfen, weil meine Mutter unschuldig davon betroffen war? Oder wurde sie nicht in Kollektivhaftung für die Politik eines Staates genommen, der einen mörderischen Krieg zur Erringung der Weltherrschaft begonnen hatte? Friedrich sieht die Bilder der Opfer, er trauert um die Toten und die Zerstörung einer jahrhundertealten Kulturlandschaft. Beides zu Recht. Die Empfindungslosigkeit über den Verlust des kulturellen Erbes hat sich wohl am besten darin ausgedrückt, dass nach den alliierten Luftwaffen die Stadtplaner deren Zerstörungswerk mit deutscher Gründlichkeit zugunsten der "autogerechten Stadt" vollendeten.
Manches, was uns heute als unersetzlicher Verlust erscheint, wäre auch ohne die Bombenangriffe der Alliierten abgerissen worden. Man betrachtete es als alten Plunder, der der Moderne im Wege stand. Die Sprengung des Berliner Stadtschlosses durch die SED war keineswegs ein singulärer Akt der Kulturlosigkeit ungebildeter kommunistischer Funktionäre. Ähnliches geschah bis in die achtziger Jahre hinein auch im Westen, wobei man solche Symbole deutscher Geschichte wie das Berliner Stadtschloss aus geschichtspolitischen Gründen natürlich nicht abgerissen hätte (während es die SED aus genau diesem Grund sprengen ließ). Dafür vergriff man sich an anderen Beständen deutscher Baukunst. Allein die Bombenangriffe für die Bausünden in den deutschen Städten nach 1945 verantwortlich zu machen, ist sachlich kaum gerechtfertigt. Jörg Friedrich weiß das, spricht es aber nur in einen Nebensatz aus. Es passt nicht in sein Bild vom Krieg der Alliierten.
Wo Friedrichs Buch zur Katastrophe wird
Politisch katastrophal wird Friedrichs Buch allerdings, wenn er die alliierte Bombenstrategie als "Vernichtungs-krieg" definiert, die in den Bombenkellern Erstickten "Vergaste" nennt und durch diese sowie weitere terminologische Verirrungen den Völkermord mit der Kriegsstra-tegie der Alliierten gleichsetzt. Manche Rezensenten haben darin eine Verharmlosung des Völkermordes gesehen. Diese Kritik indes wird der Sache nicht gerecht, und davon abgesehen ist Jörg Friedrichs Argumentation nicht neu, wenn er auch mit dem Gestus des Tabubrechers auftritt. Es gibt schließlich eine fünfzigjährige Tradition, auf "Auschwitz" mit "Dresden" zu antworten. Friedrich hebt in seinem pazifistischen Meisterwerk die Differenz zwischen der politischen Logik des totalen Krieges und der rassenbiologischen Vernichtung "artfremder" Bevölkerungsgruppen auf. Er verharmlost damit aber keineswegs den Völkermord (Wieso verharmlost man einen Mord, wenn man einen anderen als solchen benennt?), sondern verkennt die grausame Grammatik des Krieges, seine Tendenz sich zum Absoluten zu steigern, wie es Clausewitz schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts wusste, obwohl er über den späteren Erfindungsreichtum des Menschen, Instrumente und Techniken zur Vernichtung seiner Artgenossen zu entwickeln, nichts ahnen konnte.
Die Differenz liegt eben nicht im Umgang mit den Opfern. Es gibt keinen Unterschied, ob man elendig im Bombenkeller erstickt oder in einer Gaskammer ermordet wird. Das Ergebnis - der Tod unschuldiger Frauen und Kinder - ist gleich, die Leiden der Opfer sind es ebenso. Genausowenig kann man in der Motivation der Täter einen Unterschied erkennen. Das Bomber Command des Sir Arthur Harris plante systematisch die Vernichtung von Städten wie Hamburg 1943, Pforzheim und Würzburg 1945. Der Erstickungstod in den Kellern war gewollt und wurde mit technischer Raffinesse realisiert. Tod und Zerstörung in den deutschen Städten sollten auch die Moral der Zivilbevölkerung zerstören, deren Widerstandsfähigkeit zersetzen, gar die Deutschen zur Rebellion gegen ihre Regierung anstiften. Wieso man rebelliert, wenn die eigenen Frauen und Kinder ermordet werden, bleibt das Rätsel der damaligen Kriegsplaner.
Die Amerikaner betrachteten diese Strategie von Sir Arthur Harris lange Zeit als barbarisch und griffen bis 1944 in erster Linie die Rüstungszentren der deutschen Wirtschaft an. Erst als die eigenen Verluste riesige Ausmaße annahmen und der Erfolg dieser Angriffe zweifelhaft wurde, schwenkten die Amerikaner de facto auf die Linie der Briten ein. Dass man in Grossbritannien den Widerstand der eigenen Öffentlichkeit fürchtete, ist allein daran zu bemerken, dass Harris und Churchill bis zum Kriegsende in der Öffentlichkeit den militärischen Wert der angegriffenen Ziele herausstellten. Dass die Zivilbevölkerung das Ziel war, verschwieg man wohlweislich. Die Kritik an der Bomberstrategie sollte bis zum Ende des Krieges nicht verstummen. Churchill und Harris spürten den Legitimationsdruck auf ihre Politik. Davon konnte in Deutschland im übrigen nicht die Rede sein.
Die Differenz liegt anderswo. Der strategische Bom-benkrieg war die Folge der militär- und geostrategischen Konstellation im Zweiten Weltkrieg. Er war das letzte Er-eignis in einer langen Entwicklung, die seit dem 18. Jahrhundert die Unterscheidung des klassischen Völkerrechts zwischen Kombattant und Nicht-Kombattant aufhob. Der industrialisierte Staatenkrieg beschränkte sich nicht mehr auf die Armeen und ihre Soldaten. Der Kriegsaus-gang hing wesentlich von der Leistungsfähigkeit der Industriegesellschaften ab. Sieg oder Niederlage wurden eine Funktion der technischen und industriellen Leistungsfähigkeit der gesamten Gesellschaft. Aus dieser Logik heraus entwickelte sich die grausame Bombenstra-tegie von Sir Arthur Harris. Dagegen ergab sich der Völ-kermord der Nazis nicht aus der "Grammatik des Krieges", der alle kriegsteilnehmenden Staaten unterlagen, sondern war das Ergebnis einer spezifisch deutschen Entscheidung: Nur hier hat man anderen Bevölkerungsgruppen ihr Existenzrecht bestritten. Nur hier traf man die freie Entscheidung zum industriellen Völkermord.
Eine Bombenstrategie des Terrors und der Vernich-tung ziviler Strukturen haben dagegen alle teilnehmenden Staaten betrieben. Die Differenz zwischen den Staaten betraf vor allem ihr unterschiedlich entwickeltes Vermögen zur Verwirklichung dieser Strategie. Die deutsche Luftwaffe hatte ursprünglich keine Doktrin für den strategischen Bombenkrieg. Sie war auf die taktische Unterstützung von Bodentruppen ausgelegt. Erst mit der Luftschlacht um England im Jahr 1940 begann der strategische Bombenkrieg in Deutschland eine Rolle zu spielen. Dessen Intensität war aber mit der der Alliierten nicht vergleichbar. Nicht, weil man nicht wollte, sondern weil man spätestens ab 1942 nicht mehr konnte.
Die Angehörigen des Bomber Command und der USAAF hatten im Jahr 1943 statistisch gesehen keine Überlebenschance. Die Verluste durch die deutsche Luft-abwehr waren derart hoch, dass jeder Angehörige der alliierten Bomberverbände fast sicher mit seinem Abschuss oder Absturz im Laufe seiner Dienstzeit rechnen musste. Die Täter des Völkermordes mussten dagegen weder ihre Opfer, noch den Krieg fürchten. Sie hätten freiwillig den Krieg wählen können und zogen stattdessen die Rolle der Massenmörder vor. Sie waren im Vergleich mit den Bomberbesatzungen aller kriegsführenden Nationen charakterlose Feiglinge. Wer da wie Jörg Friedrich alliierte Bomberbesatzungen als "Einsatzgruppe" bezeichnet, hebt ganz bewusst die Grenze zwischen kriegerischen Handlungen und zivilem Mord auf - eine Grenze, die zwar niemals eindeutig zu ziehen ist, aber gleichwohl besteht.
Der Bombenkrieg war ein Mittel zum Zweck
Die spezifische Erfahrung mit dem nationalsozialistischen Deutschland ist gerade die Aufhebung dieser Grenze gewesen. Mit dem Ende des Krieges ist zugleich der Bombenkrieg eingestellt worden. Hätten die Nazis nach dem Endsieg ihre Politik geändert? Der Bombenkrieg war ein Mittel zum Zweck des Sieges. Welchem Zweck diente die Ermordung der europäischen Juden? Man wäre selbst ein Nazi, wenn man die Begründung der Massenmörder akzeptierte. Jörg Friedrich weiß das alles und er ist sicherlich kein Nazi. Wieso dann die Terminologie des Völkermordes? Friedrich fällt einem Pazifismus zum Opfer, der jeden Krieg wegen seiner Folgen ablehnt und darüber den Unterschied zwischen Angreifer und Verteidiger vergisst. Sir Arthur Harris hätte keine deutsche Stadt angegriffen, wenn das Deutsche Reich keinen Angriffskrieg begonnen hätte. (Womit er auch nicht die Verantwortung für den städtebaulichen Kahlschlag gehabt hätte; den hätten wir dann schon alleine besorgen müssen). In der Strategie des Bomber Command ging es auch nicht um die Ermordung von Zivilisten, sondern um die Zerstörung der materiellen Kriegsfähigkeit Deutschlands, wobei die Angriffe auf Wohngebiete eben nur ein Teil des Gesamtkonzeptes gewesen sind (vgl. Richard Overy, Die Wurzeln des Sieges: Warum die Alliierten den Zweiten Weltkrieg gewannen, Reinbek 2002). Es ist kein Zufall, dass Friedrich den Beitrag des Bombenkrieges zum Sieg der Alliierten keiner systematischen Untersuchung unterzieht. Nur so kann er ihn als unerheblich für den Kriegsverlauf beschreiben - dies ganz im Gegensatz zu seinem früheren Buch Das Gesetz des Krieges. Das deutsche Heer in Russland 1941-1945 (München 1995), in dem er sich bereits am Rande mit dem Bombenkrieg beschäftigte: "Das war der Erfolg der anglo-amerikanischen Luftkriegsstrategie (der fehlende Widerstand nach der Besetzung, F.L.). Dem okkupierenden Heer soll der Verschleiß in langwieriger Gegenwehr regulärer und irregulärer Kampfverbände erspart bleiben. Die Bomberflotten bereiten dem Einmarsch den Boden. Weil Briten und Amerikaner die längste Zeit des Krieges nicht über ein Landheer geboten, der Wehrmacht den Kontinent streitig zu machen, griffen sie keineswegs mutwillig, sondern aus militärischer Notwendigkeit zum Bombenterror."
Die pazifistische Kritik an Rumsfeld ist obszön
Entgegen diesen Einsichten identifiziert sich Friedrich als Historiker heute mit den Opfern, setzt sich gewissermassen 60 Jahre später zu ihnen in den Luftschutzkeller. Das ist eine Realität, aber nicht die ganze Wahrheit. Manche seiner Kritiker (so Claus Heinrich in der SZ vom 18.2.2003) drehen entsprechend den Spieß um, bestreiten die systematische Brandstiftung durch das Bomber Command im Zeichen militärischer Effizienz (was nun wirklich Unsinn ist), raten beredt zum Schweigen, weil "vielleicht auch ... Sprache für jegliches von Menschen gemachte Grauen kaum mehr als Klischees bereit hält". Doch solche Kritik überzeugt allein schon deswegen nicht, weil gerade Jörg Friedrich das Grauen wie kaum einer vor ihm glaubwürdig ausdrücken kann. Diese Kritiker bleiben mit Jörg Friedrich in seiner pazifistischen Realität verbunden. Sie sind unfähig, den Krieg als etwas anderes wahrzunehmen als jene Mischung aus Blut und Dreck, Gestank und Scheiße, die er immer auch ist. Dass Krieg Opfer kostet, er den Willen des Gegners auch mit dem Mittel seiner Tötung bricht, ist so banal wie zwangsläufig. Krieg ohne Tod ist, zynisch gesprochen, ein Witz, den man offensichtlich nur in Deutschland ernstnimmt.
An dieser Stelle wird auch die Verbindung zum bevorstehenden Irakkrieg der USA deutlich. Die pazifistische Kritik an Amerika ist nicht nur für Donald Rumsfeld irrelevant. Sie ist geradezu obszön, wenn ausgerechnet Deutsche den Briten und Amerikanern erklären wollen, dass Kriege noch nie etwas genutzt hätten, sondern stets nur Leid und Zerstörung hinterließen. Diese Aussage ist nur für uns Deutsche richtig und betrifft auch allein unsere Angriffskriege. Alle anderen haben mit Krieg durchaus positive Erfahrungen gemacht. Der Sieg über das nationalsozialistische Deutschland war so eine.
Weil Jörg Friedrich Krieg nur aus der pazifistischen Perspektive betrachten kann, ist er unfähig, die eigentliche Gefahr der "militärischen Grammatik" zu begreifen. Der Bombenkrieg hatte eine Eigendynamik entwickelt, die offensichtlich niemand mehr stoppen konnte. In einer Situation, da jeden Tag tausende von Menschen sterben, Gewalt, Zerstörung und Tod seit Jahren die Realität des Lebens bestimmen, wird die Frage nach dem militärischen Sinn der Luftangriffe auf Pforzheim oder Dresden im Februar 1945 zweitrangig. Warum soll man Pforz-heim verschonen? Weil dort nur Goldschmiede leben? Im totalen Krieg ist jeder Kriegsteilnehmer: der Goldschmied in Pforzheim wie das achtjährige Mädchen in Elbing. Man setzt Massenvernichtungsmittel wie Chemiewaffen allein deshalb nicht ein, weil der Schaden den denkbaren Nutzen überwiegt: Der Gegner könnte mit gleichen Mitteln antworten - eine klassische Abschreckungslogik.
Die Grenzen des Krieges bestimmt somit allein die Politik. Verzichtet sie darauf, wird der Krieg ungehemmt eskalieren. Der vernichtende Angriff auf Pforzheim im Februar 1945 war nicht der "völligen militärischen Wertlosigkeit" geschuldet wie Friedrich annimmt, sondern Ausdruck der Tatsache, dass alles beim Gegner solange von Wert ist, wie der Krieg andauert und jeden Tag hunderte alliierter Soldaten fallen oder verwundet werden. Das Bomber Command auf den Fliegerhorsten lassen? Mit welcher Begründung, wenn sich der Gegner immer noch mit allen Mitteln gegen seine Niederlage stemmt? Man hatte im übrigen zu diesem Zeitpunkt schon Auschwitz erobert. Einen Ort, wo Fragen nach der "militärischen Werthaltigkeit" für die Deutschen keine Rolle gespielt hatten.
Militärisch gewinnen, politisch verlieren
Friedrichs Erwartung, die Alliierten hätten auf die Nutzung ihrer militärischen Mittel verzichten sollen, wirkt vor diesem Hintergrund weltfremd. Sechzig Jahre später zu wissen, dass drei Monate nach den Angriffen auf Dresden der Krieg zu Ende gewesen ist, ist auch kein überzeugendes Argument. Er war eben im Februar 1945 noch nicht zu Ende. Zwar haben die Alliierten nach dem Krieg den Angriff auf Dresden glaubwürdig bedauert. Aber hat das etwas genutzt? In Vietnam haben die Amerikaner allein im sogenannten "Weihnachtsbombardement" auf Hanoi und Haiphong zwischen dem 18. und 29. Dezember 1972 3.500 Einsätze geflogen, davon fast 800 mit B-52 Bombern. Dabei starben 2000 Zivilisten und 1500 wurden verletzt. Henry Kissinger betrachtete übrigens Dresden als Beleg dafür, das man in diesem Fall nicht von "Terrorbombardements" reden könne.
Diese Form des Krieges hatte nichts mit Vernichtungskrieg zu tun und führte doch in die Barberei. Oder wie sonst soll man die massenweise Tötung von unschuldigen Zivilisten in einem Krieg nennen? Er erzeugt eine Dynamik, die kein Akteur mehr politisch steuern kann, wenn er sich ihr erst einmal unterworfen hat. Genau in diese Lage treiben die USA im kommenden Krieg. Wenn ihr positives Szenario nicht eintritt, werden sie sehr schnell in eine Situation geraten, in der sich der Krieg verselbständigt, in der sie zwar den politischen Kollateralschaden eines gnadenlosen Bombardements von Bagdad kennen, aber nur die Alternative haben, den Krieg politisch zu verlieren oder den Sieg mit hohen eigenen Opfern zu erkaufen: Sie werden das Bombardement wählen, die politischen Folgen hinnehmen und sehenden Auges in ein nahöstliches Desaster hineingeraten.
Dieses Bombardement dann zu kritisieren, wäre so richtig wie sinnlos. Es wäre die Konsequenz einer falschen politischen Entscheidung für den Krieg. Während der alliierte Bombenkrieg letztlich seine Legitimation im Sieg über Nazi-Deutschland fand, ist das Fehlen einer überzeugenden Begründung der eigentliche Skandal in der Irakpolitik von George Bush. Auch dieser Krieg wird eine unerbittliche Dynamik gewinnen, der sich niemand entziehen kann, wenn er nicht bereit und fähig ist, ihn politisch zu beenden. Die Folgen werden auch die Kriegsgegner in Europa betreffen. Wir werden uns die Frage stellen müssen, wie ein politisches Ende des kommenden Krieges erreicht werden kann, sofern sich die amerikanischen Träume vom schnellen Sieg und der kommenden irakischen Demokratie in Luft auflösen sollten. Wobei eines in Europa Konsens sein wird: Eine Niederlage der USA kann niemand wünschen. Eine Niederlage? Tatsächlich: Man kann militärisch alle Schlachten gewinnen, und doch am Ende den Krieg politisch verlieren. Ein solches Ende wäre historisch gesehen nicht ungewöhnlich. Bundesaußenminister Joseph Fischer kann seinen amerikanischen Amtskollegen Colin Powell ja einmal danach fragen. Der Vietnam-Veteran müsste wissen, worum es geht.
Der Versuch hingegen, den Krieg zu zähmen, indem man seine Grammatik ignoriert, wie es Jörg Friedrich praktiziert, wird - wie immer - wenig nutzen. Das ist die eigentliche Lehre aus den Erfahrungen mit dem alliierten Bombenkrieg im Zweiten Weltkrieg. Hätten Briten und Amerikaner ernsthaft auf dieses Mittel verzichten können wie es Jörg Friedrich vorschlägt? Die historischen Umstände sprechen solange dagegen, wie man die Grundüberzeugung der damaligen Alliierten teilt: dass ein Verständigungsfrieden mit Adolf Hitler indiskutabel war. Die Erfahrungen in Korea und Vietnam zeigen darüber hinaus, dass der Nutzen des strategischen Bombenkrieges auch später unumstritten gewesen ist. Vietnam endete zwar in einem Desaster, aber das erwähnte "Weih-nachtsbombardement" gilt bei amerikanischen Militärs bis heute als ein militärischer und politischer Sieg, weil die Nordvietnamesen erst danach zu Zugeständnissen in den Pariser Friedensverhandlungen bereit waren. Im Zweiten Golfkrieg - dem Vorbild für die heutigen Kriegsplaner im Pentagon - wurden die klassischen Flächenbombarde-ments auf Ziele wie Bagdad von chirurgischen Angriffen mit Präzisionswaffen abgelöst. Dem Geschwätz zum Trotz: Damit konnten die zivilen Verluste tatsächlich auf ein Minimum reduziert werden. Sir Arthur Harris′ Hoffnung auf Präzisionsbombardememts ist 1991 in Erfüllung gegangen. Er wäre zufrieden gewesen. Es wird eine Ausnahme gewesen sein.