Nicht am Ende der Parabel

Simon Vaut trifft sich auf ein paar Pils und Deftiges mit dem sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten Franz Müntefering im Ranke 2, Rankestraße 2, 10789 Berlin

Wir treffen uns im Ranke 2, nahe der Gedächtniskirche. Franz Müntefering hat das Alt-Berliner Restaurant vorgeschlagen, das seit 1903 den Namen des preußischen Geheimrats Leopold von Ranke trägt. Ranke gilt als einer der Gründerväter der modernen Geschichtswissenschaft und war mit seiner Sprachästhetik stilprägend. Das Interesse an Sprache verbindet Ranke und Müntefering. „Sprache ist die Kunst der Verdich-tung“, sagt der Mann der kurzen Sätze, „wer genau sein möchte, benutzt kein überflüssiges Wort.“ Deshalb liest er am liebsten Gedichte und Aphorismen. Lange Romane eher selten. Vor ihm liegt das Buch Kafkas Prag. Kafka ist neben Camus einer der Schriftsteller, den Müntefering immer wieder liest. „Lieber 50 richtig gute Bücher mehrfach lesen, als 1.000 mittelmäßige Bücher anlesen“, sagt Müntefering, der mit 14 Jahren die Volksschule abschloss und sich seitdem autodidaktisch weiterbildet. Er plant gerade, einige Tage in Kafkas Heimatstadt zu verbringen. Generell sei ihm das Reisen aber nicht wichtig, das lenke eher ab, sagt Müntefering. Er müsse eigentlich nirgendwohin, sei eher Tiefwurzler als Breitwurzler. „Ein Buch in der Hand und einen Menschen an der Seite – das reicht aus.“

Das Lokal sieht aus, als hätte sich hier nichts verändert, seit Müntefering 1966 in die SPD eintrat. Wir sitzen unter Schwarz-Weiß-Bildern von Berliner Bürgermeistern. Das Ranke 2 ist gut gefüllt. Touristen und Berliner mischen sich. Eine amerikanische Schülergruppe ist merklich angeheitert: In Europa ist das „legal drinking age“ eben nicht so puritanisch wie in den Vereinigten Staaten.

Vor dem Essen kommt die Moral. Müntefering erinnert sich an eine Diskussion, die er mit Johannes Rau zum Arbeitereinheitsfrontlied führte. Rau meinte, dass Brecht recht hatte und „etwas zu Essen, bitte sehr“ bei den Bedürfnissen an erster Stelle stehe. Müntefering habe erwidert, „keine Stiefel im Gesicht“ seien noch wichtiger. Als Vorspeise essen wir Bouletten. Dazu gibt es Warsteiner Pils, das wie Müntefering aus dem Sauerland stammt. Wir studieren die von Deftigem dominierte Speisekarte: Blutwurst, Leber „Berliner Art“, Linseneintopf mit Knacker. Irgendwo dazwischen haben sich Penne Arrabbiata und Pizza Calzone verirrt. Zumindest diesmal beschließen wir, nicht mit der neuen Zeit zu ziehen. Müntefering bestellt Beelitzer Spargel, ich kann dem „Mächtigen Berliner Eisbein“ mit Erbspüree und Sauerkraut nicht widerstehen. Der „ultimative Ranke Schlager“ ersetze „eine Woche Vollpension“, heißt es in der Karte – zutreffend, wie sich erweist.

Müntefering erzählt beim Essen von einer Rezension, die er gerade über das neue Buch Ehrliche Arbeit von Norbert Blüm geschrieben habe. Nicht alles, was dort steht, teile er, wohl aber Blüms Wertschätzung der Arbeit. „Wir haben in Deutschland eine zu große Diskrepanz zwischen geringgeschätzter und hochgeschätzter Arbeit.“ Und die drücke sich auch in Löhnen aus. „Ackermann verdient so viel wie 600 Krankenschwestern.“ Seine Arbeit sei aber nicht sechshundertmal so wertvoll. „Wenn bei dem ein paar Wochen keiner sauber macht, ihm Essen anrichtet und die Haare schneidet, dann sieht der auch nicht mehr so toll aus. Trotzdem erfahren die Menschen, die all das machen, kaum Wertschätzung.“ Noch einem Gedanken Blüms stimmt Müntefering zu: Menschen hätten ein zentrales Bedürfnis, gebraucht zu werden. Ein Schlüssel dafür sei befriedigende Arbeit.

Genau deshalb sei der Grundgedanke der rot-grünen Arbeitsmarktreformen gewesen, möglichst viele Menschen in Arbeit zu bringen. Die Reformen seien nach wie vor richtig – abgesehen von gewissen „Macken“, von denen einige aber inzwischen behoben seien. „Vielleicht war es ein Fehler, erst den Beschluss in der Bundesregierung zu fällen und es dann der Partei zu erklären“, räsoniert Müntefering. Andererseits: „Parteien können die Himmelsrichtung weisen. Aber sie können keine Gesetze machen. Wenn wir das erst mal ein Jahr diskutiert hätten, wäre am Ende wohl nichts dabei rausgekommen. Und das wäre nicht gut für das Land gewesen.“ Hat die Partei dadurch Schaden genommen? „Das zentrale Problem 2009 war nicht die Reformpolitik. Das Problem war, dass die SPD einfach zu langweilig war. Und das Thema Aufstieg nicht mehr glaubhaft vertreten hat.“ Seit 1998 galt der Sauerländer als der Kampagnenmagier von drei erfolgreichen Bundestagswahlkämpfen. 2009 war der Zauber dahin. Nagt die letzte Bundestagswahl an ihm? Müntefering zögert. Dann lächelt er: „1998 war ich nicht so gut, wie einige geschrieben haben. Und 2009 war ich nicht so schlecht, wie einige geschrieben haben.“

Fehlen ihm die Spitzenämter? Müntefering beschreibt die ideale Biografie als ballistische Kurve. Vor 57 Jahren hat er angefangen zu arbeiten, im Alter von 14 Jahren. Anfangs blieb noch Zeit, viel zu lesen und Fußball zu spielen. Als Johannes Rau ihn 1992 in sein Kabinett berief, begannen die zwei Jahrzehnte, in denen er fast rund um die Uhr schuftete. Ist es schwer, nun nicht mehr in vorderster Reihe zu stehen? „Man muss damit intellektuell und emotional umgehen lernen.“ Aber das sei ihm gelungen. Müntefering bleibt beim Bild der ballistischen Kurve: „Diejenigen, die früh steil aufsteigen, bei denen geht es auch schneller und steiler bergab.“ Darüber müssten sich auch die Jungpolitiker im Klaren sein, die sehr früh in Verantwortung kommen.

Von ballistischen Kurven kommen wir auf Thomas Pynchons Roman Die Enden der Parabel zu sprechen. Müntefering ist noch nicht am Ende seiner Parabel. Eine Stunde vor unserem Treffen hat er seine Jungfernrede in der laufenden Legislaturperiode gehalten. Zum ersten Mal seit 2009 trat er im Bundestag ans Rednerpult und sprach über den demografischen Wandel. Zusammen mit der 36-jährigen Sabine Bätzing wird der 71-Jährige ein Konzept für eine neue Generationenpolitik erarbeiten. Es ist eines der Leitprojekte der SPD-Bundestagsfraktion, die Ideen und Grundlagen für die angestrebte Regierungsverantwortung nach 2013 schaffen sollen. In seiner Bundestagsrede erwähnte er, dass Immanuel Kant an dessen 50. Geburtstag als „verehrungswürdiger Greis“ tituliert worden war. Heute leben in unserer Gesellschaft vier Millionen Menschen über 80 Jahre. „Alt ist man heute nicht mit 50. Und ich sag: selbst nicht mit 70.“ Es sei eine Frage der Einstellung. Am Ende seiner Bundestagsrede zitierte Müntefering Voltaire: „Da es sehr förderlich für die Gesundheit ist, habe ich beschlossen, glücklich zu sein.“ Ist Müntefering glücklich? Er neige nicht zum Höhenflug, sagt er, wichtiger seien ihm Gelassenheit und mit sich im Reinen zu sein.

Wir bestellen noch ein Pils und eine Käseplatte und landen beim Fußball. Ein gutes Jahr für das Ruhrgebiet. Borussia Dortmund ist die Deutsche Meisterschaft 2011 kaum noch zu nehmen. Am Vorabend ist es Schalke gelungen, in der Champions League unter die besten vier Mannschaften Europas zu kommen. Müntefering ist Anhänger von beiden Vereinen, obwohl Schalke und Dortmund eigentlich Erzrivalen sind. Aber er schaffte es schließlich auch, nacheinander für Scharping, Lafontaine und Schröder zu arbeiten.

Rauchen dürfen wir nicht im Ranke 2. Müntefering sagt, er sei erst spät dazu gekommen, und nun werde es überall verboten – was für eine Ungerechtigkeit! Begonnen habe er wegen einer Wette zur Bundestagswahl 1998; er verlor und musste eine rauchen. Damals waren nur Zigarillos zur Hand, bei denen blieb er dann. Wir beschließen den Abend statt mit einem Zigarillo mit einem Klaren. So hochprozentig wie der Korn müsse die SPD auch wieder werden, sagt Müntefering. «

zurück zur Ausgabe