Noch einmal zehn Jahre Opposition?
Im Hochgeschwindigkeitszug TGV herrscht gute Stimmung. Draußen fliegt die französische Landschaft vorbei, drinnen wird bei Kaffee und Sandwich lebhaft, aber entspannt diskutiert. Im Vergleich zu Delegierten der britischen Labour-Parteitage sind die der französischen Parti Socialiste viel besser gekleidet. Die Aktivisten haben erkennbar mehr zu verlieren als nur ihre Ketten. Zumal die Damen und Herren in der ersten Klasse.
Die Sommeruniversität in La Rochelle ist das erste große Treffen der Partei nach den Wahlniederlagen im Frühsommer dieses Jahres. Sie steht unter dem Motto „Diagnose für die Erneuerung“. Wird die Partei ihre Wunden lecken oder sich neue schlagen? Seit dem Ende der politisch-publizistischen Sommerpause kommt ein „Abrechnungsbuch“ nach dem anderen in die Pariser Buchläden. Die Hauptzielscheibe ist Ségolène Royal, die Spitzenkandidatin der Partei im verlorenen Präsidentschaftswahlkampf des Sommers. Aber auch François Hollande, der Parteivorsitzende der PS, steht in der Kritik. Viele der alten Parteigranden, der so genannten „Elefanten“, würden gar nicht erst nach La Rochelle kommen, heißt es. Auch einige der jungen Drängler nicht. Es lohne sich nicht, sagen die einen. Man habe Wichtigeres zu tun, meinen die anderen.
Als Ségolène Royal das gefüllte Auditorium betritt, ertönt frenetischer Jubel, und es gibt lang anhaltende standing ovations. Der Geräuschpegel täuscht ein wenig: Mindestens ein Drittel der Anwesenden rührt kaum eine Hand, hinter mir zischt jemand etwas von „Groupies“. Frau Royal ist die Erleichterung anzusehen. Sie spricht nicht mehr als Präsidentschaftskandidatin, sondern in ihrer Eigenschaft als Regionalpräsidentin. Es ist keine große Rede, aber ihre Botschaft kommt an. In den Wochen zuvor, bei Auftritten in den Pariser PS-Milieus, herrschte eine vollkommen andere Stimmung. Verachtung, fast schon Hass schlug dort der Frau entgegen, die im Sommer die vermeintlich unverlierbare Wahl verloren hatte. In La Rochelle hinterlässt sie einen anderen Eindruck. Wer Ségolène Royal abschreibt, macht vermutlich einen Fehler.
Drei verlorene Wahlen - das tut weh
Mit ihren mehr als 4.000 Teilnehmern ist die Sommeruniversität 2007 die am besten besuchte aller Zeiten. Offensichtlich haben die Mitglieder der PS ein starkes Verlangen nach Aussprache und Diagnose. Drei verlorene Präsidentschaftswahlen in Folge – das tut weh. Noch mehr schmerzen die Umstände: Die Wahlniederlage Lionel Jospins im Jahr 2002 sei taktischer Natur gewesen, eine „politische Niederlage“, sagt die ehemalige Justizministerin Marylise Lebranchu; das Ergebnis 2007 hingegen stelle eine strategische, eine „kulturelle und ideologische“ Niederlage da. Entsprechend ist die Stimmung: Die Sozialisten betreiben soul-searching. Sie bemühen sich ernsthaft zu verstehen, was falsch gelaufen ist.
Viel wird in den Diskussionen die Einheit der Partei beschworen, die Überwindung der Strömungen, das Ende der persönlichen Eitelkeiten und Rivalitäten, der Graben- und Clankriege der Kaziken (und Kazikinnen). Zero tolerance für Spalter. Die linke Europaabgeordnete Marie-Noëlle Lienemann, Autorin des neuen Abrechnungsbuches Au revoir Royal, entgeht „nur knapp dem Lynchmord“ durch aufgebrachte Aktivisten, wie das Journal de Dimanche berichtet. Das ist übertrieben, aber die Stimmung ist eindeutig: Die Mitglieder haben von den persönlichen Rivalitäten ihrer Führungsspitze gründlich die Schnauze voll.
Ein Gespenst geht um in La Rochelle: das Gespenst des Sarkozyismus. Im Zentrum fast aller Diskussionen steht die Frage, wie dieser Mann so erfolgreich das kollektive Unterbewusste der Franzosen anzusprechen vermochte. Einige Diskutanten machen es sich leicht: Die Medien seien schuld, sie hätten ein im Kern linkes Land dazu verführt, einen ultrarechten Politiker zu wählen. Die Mehrheit ist nachdenklicher: Gerade weil das Land im Kern links fühle, müsse doch irgendetwas am eigenen Angebot nicht gestimmt haben – kommunikativ, inhaltlich oder personell. Was hat die Partei zwischen den Jahren 2002 und 2007 eigentlich getan? Wo war die Arbeit am Projekt, wo der ernsthafte Versuch, ein konsistentes inhaltliches und personelles Angebot zu machen, so wie es der Rechten gelungen ist? Kann man diesen Vorsprung überhaupt wieder aufholen, oder muss man sich auf weitere zehn Jahre in der Opposition einrichten? Hässliche Fragen.
Man schreibt es nicht gern, aber am doofsten sind die Jungen. Holzschnitzartige Phrasen, eine Welt ohne Grautöne. Einen „entmenschlichten Neoliberalismus“ praktiziere Sarkozy, so die stellvertretende Vorsitzende des Jugendverbandes „Mouvement des Jeunes Socialistes“ in ihrer Eröffnungsansprache. Sarkozys Zustimmungswerte liegen zurzeit bei über 70 Prozent. Ab diesem Schuljahr wird an den Gymnasien die öffentliche Verlesung des Abschiedsbriefs eines 17-jährigen kommunistischen Résistance-Kämpfers, den die deutschen Besatzer 1941 füsilierten, obligatorischer Teil des Schulprogramms. Entmenschlichten Neoliberalismus hat man sich immer irgendwie anders vorgestellt.
An der Basis herrscht Funkstille
Bei allen ernsthaften Bemühungen um eine inhaltliche Neuausrichtung der Partei – es bleiben viele Tabuzonen bestehen. Eine exzellente Studie der Jean-Jaurès-Stiftung über die couches populaires, die „einfachen Leute“, nennt drei Grundelemente des Lebensgefühls des unteren Bevölkerungsdrittels: Ein Gefühl, dass keine Aufstiegschancen mehr bestehen; ein Gefühl latenter Bedrohung und Unsicherheit; sowie ein Gefühl des Heimatverlusts und der Entfremdung in den ethnisch immer stärker durchmischten Wohngebieten. Spielen diese Themen eine Rolle bei den Diskussionen in La Rochelle?
Die blockierten Aufstiegschancen schon. Das Thema passt zur intellektuellen Tradition der Partei, nämlich einer essenziell marxistisch inspirierten Gesellschaftsanalyse. Bei den anderen Punkten herrscht Funkstille, zumindest an der Basis. Als François Hollande in seiner Schlussansprache auf die Öffentliche Sicherheit zu sprechen kommt und erklärt, der Platz der Sozialisten habe an der Seite der Opfer zu sein, nicht an jener der Täter, rührt sich keine Hand zum Beifall. Auch die Frage der Einwanderung wird kaum angesprochen. Sie ist ein Killerthema für die gesamte französische Traditionslinke, für die Kommunistische Partei Frankreichs, aber auch für die PS.
Warum tut man sich solche Rituale an?
Ein Journalist berichtet auf einem Panel zur Frage, ob „Frankreich nach rechts gerückt“ sei, von den Widersprüchen seines eigenen Lebens: Als er seine Kinder im neunzehnten Arrondissement zur Schule schicken will, einem Viertel mit sehr hohem Einwandereranteil im Pariser Norden, erklärt ihn sein gesamter linksintellektueller Freundeskreis für verrückt, darunter Journalisten der Libération: „Sollen deine Kinder den Preis für deine politischen Ideen zahlen?“ Heute schickt der Mann seine Kinder auf eine Schule im bürgerlichen vierten Arrondissement. Der Gedanke, dass die ehemaligen PS-Wähler, denen dieser Ausweg nicht offen steht und deren Kinder tatsächlich den Preis für die politischen Ideen des linksliberalen Bürgertums zahlen, von dieser Art der Heuchelei die Nase voll haben könnten, scheint nicht vielen der Anwesenden zu kommen. Immerhin, etwas Applaus erhält der Mann für seine Ehrlichkeit.
Manche Debatten finden gar nicht erst statt, andere wirken komplett anachronistisch. Über „den Sozialismus und den Markt“ diskutiert Henri Emmanuelli, das alte Schlachtross der Parteilinken, mit ein paar Wirtschaftswissenschaftlern. So macht man sich schlechter, als man ist. Aus den Reihen dieser Partei (darauf weist auch Emmanuelli hin) stammen nicht nur der aktuelle Präsident der Welthandelsorganisation, sondern auch der kommende Direktor des Internationalen Währungsfonds. Die Regierung Lionel Jospin hat zwischen 1997 und 2002 mehr Betriebe privatisiert als die bürgerlichen Regierungen davor oder danach. Die PS ist die Partei des Euro und des europäischen Binnenmarktes. Frankreichs Wachstumsraten unter Jospin lagen immer über denen Deutschlands. Den Wirtschaftspolitikern dieser Partei muss man genauso wenig erklären, was eine moderne Marktwirtschaft ist, wie denen von Labour oder der SPD. Warum tut man sich dann solche Rituale an?
Auffällig ist das Klima der Angstfreiheit. Dissens und Kritik am Establishment der Partei werden nicht versteckt, sondern offen artikuliert. Welch ein Unterschied zu den New-Labour-Parteitagen, bei denen sich die Mitglieder immer genau überlegten, wie weit sie öffentlich off message sein wollten. Auf einem „Fringe Event“ bat eine Diskussionsteilnehmerin einmal darum, weder Namen noch Parteisektion nennen zu müssen, da sie Angst habe, für ihre kritischen Ansichten bestraft zu werden. Der Umbau einer Partei in eine Machtmaschine hat seinen Preis. Der Nichtumbau natürlich auch.
Das Problem waren die Rezepte der PS
Die Schlussansprache François Hollandes ist die klügste Rede der Veranstaltung. Er dankt Ségolène Royal und übernimmt die Verantwortung für die Niederlage. Es habe weder bei der Präsidentschafts- noch bei der Parlamentswahl an Engagement und Enthusiasmus gemangelt, sehr wohl aber an Konzepten und Vorschlägen, die die Mehrheit der Wähler hätten überzeugen können. Nicht die Analysen der gesellschaftlichen Entwicklung seien das Problem gewesen, sondern die Rezepte, die die Partei hierfür angeboten habe. Ein neues Projekt müsse Fragen der Wertschöpfung und Wettbewerbsfähigkeit ebenso berücksichtigen wie Fragen der Umverteilung – angesichts der immer ungleicher werdenden Verteilung von Einkommen und individuellen Entfaltungschancen.
Wahlentscheidend werde künftig sein, was Politik dem einzelnen Menschen zu bieten habe. Auch staatliche Einrichtungen müssten dabei ihre Nützlichkeit und Effizienz beweisen. Die Nation, der Staat und seine Ordnung müssten wieder Kernelemente linker Identität werden; dazu gehöre auch, Unsicherheits- und Bedrohungsgefühle der Menschen ernst zu nehmen und zu bekämpfen. Arbeit, gerecht verteilt und an individuelle Lebensentwürfe anpassbar, müsse wieder in das Zentrum der Politik der Sozialisten rücken. Die Linke dürfe sich vor keiner der neuen gesellschaftlichen Fragen wegducken und sie der Rechten überlassen.
Ein ernsthafter Schritt, dann Meeresfrüchte
Ich frage mich, welche anderen Akzente etwa ein Gordon Brown gesetzt hätte? Weniger Selbstkritik, mehr Insistieren auf das Bildungsthema, mehr Internationalismus, mehr Lobgesang der Globalisierung als Chance. Aber sonst? Vieles hätte sich ähnlich angehört. Der Applaus ist ausreichend. Geringer als bei Ségolène Royal, aber nicht wenig. Auch diesen Mann sollte man nicht komplett abschreiben.
Zum Abschluss der Konferenz erklingt nicht die „Marseillaise“, sondern die „Moldau“. Draußen, im alten Hafen von La Rochelle, liegen die Zwölf-Meter-Yachten der Globalisierungsgewinner in der Mittagssonne. Die Teilnehmer strömen zum Essen. Ein erster ernsthafter Schritt zur Umwandlung der PS in eine sozialdemokratische Partei sei die Sommeruniversität gewesen, sagt ein führender Sozialist. Er sei nicht unzufrieden. Dann macht auch er sich auf zu den Meeresfrüchten in den Restaurants am Hafen.