Österreich-Modell für die Ukraine - ein falscher Ansatz
Die weltpolitische Lage hat sich nach dem Nato-Gipfel im walisischen Newport zwar nicht wesentlich verändert, dafür ist sie viel klarer geworden: Im ukrainisch-russischen Krieg wird das westliche Bündnis nicht intervenieren, die Ukraine kann allenfalls mit technischer und finanzieller Unterstützung bei der Modernisierung ihrer maroden Armee rechnen, nicht aber mit nennenswerter militärischer Hilfe. Damit ist die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs der Ukrainer im Kampf gegen die russische Aggression weiter gesunken – und im Umkehrschluss ist es noch notwendiger geworden, über Szenarien einer politischen Lösung des Konfliktes nachzudenken. Trotz der Waffenruhe ist die Lage dramatisch, sowohl für die Ukraine, als auch für Europa. Daher gehören grundsätzlich alle Optionen auf den Tisch und müssen ohne Tabus diskutiert werden.
Eine irreführende Analogie
In Deutschland wird immer wieder das „Modell Österreich“ als Wunderlösung angepriesen: eine neutrale Ukraine als Pufferzone zwischen Russland und der EU. Auch der bekannte amerikanische Politikwissenschaftler John Mearsheimer setzt sich in der neuesten Ausgabe der Zeitschrift Foreign Affairs vehement dafür ein. Allerdings beruht die Forderung, Kiew und der Westen sollten sich ein Beispiel an Österreich nehmen und eine zusammen mit Russland ausgehandelte Neutralität der Ukraine (also keine Nato-Mitgliedschaft und keine EU-Integration) anstreben, auf falschen Prämissen. Zum einen ist es irreführend, eine Parallele zwischen Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg und der Ukraine im Jahre 2014 zu ziehen. Zum anderen wäre das vorgeschlagene Modell bloß das Feigenblatt für eine Disengagement-Politik des Westens in der östlichen EU-Nachbarschaft, die sich vor allem die EU nicht leisten kann.
Genau wie Deutschland war Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg besetzt und in vier Besatzungszonen aufgeteilt. In der berühmten Moskauer Erklärung vom 1. November 1943 bezeichneten die Alliierten das Land zwar als Hitlers erstes Opfer, zu Beginn des Kalten Krieges wurde es aber bald zum Spielball der Sowjetunion und der Westmächte. Die Wiener Regierung handelte zwar geschickt, um ihren engen politischen Spielraum zu erweitern, war aber in Wirklichkeit den Besatzungsmächten vollkommen ausgeliefert. Es bedurfte zehn Jahre und einer Klärung der Fronten im Kalten Krieg, bis der so genannte Staatsvertrag (dessen Unterzeichner alle Alliierten waren) geschlossen werden konnte. Österreich erlangte seine Souveränität wieder – um den Preis der Neutralität. „Ein 17 Jahre dauernder grauenvoller Weg der Unfreiheit ist beendet! Mit dem Dank an den Allmächtigen haben wir den Vertrag unterzeichnet und mit Freude künden wir heute: Österreich ist frei“, sprach der bewegte Außenminister Leopold Figl am 15. Mai 1955. Damit wurde nicht nur die Souveränität Österreichs hergestellt, sondern auch der Mythos der Neutralität als ein Pfeiler der neuen österreichischen Identität erfunden.
Russlands Garantien sind Muster ohne Wert
Dass dies im Fall der Ukraine eintreten könnte, ist so gut wie ausgeschlossen. Im Unterschied zum damaligen Österreich ist die Ukraine seit fast 23 Jahren ein freies, souveränes Land. Seit mehreren Monaten kämpft es um die Wahrung seiner Unabhängigkeit und bezahlt dafür mit dem Verlust der Krim sowie mit einem erheblichen Blutzoll. Außerdem war Österreich im Jahr 1955 in erheblichem Maße in die westliche Welt integriert, dank der Beteiligung am Marshall-Plan sowie der durch die Westmächte betriebenen Remilitarisierung in den westlichen Besatzungszonen. Auf die Ukraine trifft das Gegenteil zu. Die Ukrainer haben sich gegen ihren eigenen korrupten Machthaber sowie gegen den russischen Aggressor erhoben, weil sie den Weg nach Europa erst einschlagen wollten, den diese ihnen verwehrten. Ein vom Westen und von Russland aufgedrängtes, politisch beziehungsweise völkerrechtlich festgeschriebenes österreichisches Modell der Neutralität hätte daher genau die gegensätzliche Wirkung: Es käme einem Verzicht auf freie Selbstbestimmung gleich. Und wie bedeutungslos die Garantien der großen Mächte sind, hat die Ukraine am eigenen Leib erfahren: Das von Russland und den Westmächten unterzeichnete Budapester Memorandum von 1994, das die territoriale Integrität des Landes im Austausch für den Verzicht auf Nuklearwaffen garantierte, wurde von Moskau auf eklatante Weise gebrochen.
Gewiss, nach dem Nato-Gipfel kann die Kiewer Regierung zu dem Schluss kommen, dass Bündnisfreiheit die einzig mögliche Lösung ist, zumal die Nato die Ukraine in absehbarer Zeit weder aufnehmen noch militärisch unterstützen will. Dies darf aber nur eine souveräne Entscheidung Kiews sein. Die Nato muss das von Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen beteuerte Prinzip der grundsätzlich offenen Tür aufrechterhalten. Und sie darf sich nicht auf den Irrweg irgendwelcher einschlägiger Absprachen mit Russland begeben. Dass die Ukraine als eine Pufferzone zwischen Russland und der EU langfristig existieren könnte, ist angesichts der russischen Ambitionen, das Land zu kontrollieren sowie der Ansprüche der Ukrainer auf eine Annäherung an Europa mehr als fraglich.
Für Europa bedeutet die Ukraine eine Chance
Noch verhängnisvoller wäre es daher, im Namen einer vermeintlichen „politischen Lösung“ nach österreichischem Modell die Annäherung der Ukraine an die EU auszusetzen. Es würde nicht nur die bisherige Politik der EU bloßstellen – das Assozierungsabkommen mit der Ukraine ist ja bereits unterzeichnet –, sondern wäre vor allem eine Ohrfeige für die ukrainische Gesellschaft, die in ihrer großen Mehrheit die europäischen Werte und Ideale teilt und bereit war, für sie zu kämpfen. Wenn heute zu Recht davon gesprochen wird, dass die EU mit zwei großen geopolitischen Krisen – in der Ukraine und im Nahen Osten (Terrororganisation „Islamischer Staat“) – zu tun hat, wird eines oft vergessen: Im Unterschied zum Nahen Osten oder Nordafrika ist die Ukraine ein Land, das trotz des aktuellen Krieges gegen Russland für die EU nicht nur ein Sicherheitsrisiko darstellt, sondern das angesichts der proeuropäischen Orientierung seiner Bürger langfristig auch eine große Chance für die EU ist, ihre „transformative Macht“ weiter auf die Nachbarschaft zu projizieren. Die amerikanischen „Realisten“ wie Mearsheimer haben die fundamentale Bedeutung dieser Politik für die Prosperität und Friedensordnung auf dem alten Kontinent nie begriffen. Die Europäer sollten aber immer wieder daran erinnert werden.
Man darf sich jedoch keinerlei Illusionen hingeben: Die Fortsetzung dieser Politik ist keineswegs selbstverständlich – die EU-Erweiterungsrunden, die Bemühungen um Stabilität und Demokratie auf dem Balkan, die Förderung der östlichen und südlichen Nachbarschaft Europas, die zeitweilig Erfolge historischen Ausmaßes zeitigte. In den vergangenen Jahren ist die EU-Nachbarschaftspolitik hingegen grandios gescheitert. Sie wurde auf der naiven Prämisse aufgebaut, man könne Transformationsprozesse, die bewährte Strukturen aus den Fugen bringen und kulturelle Hinterlassenschaften überwinden, sozusagen nebenbei und zu einem niedrigen Preis zum Erfolg bringen. Deshalb muss sie heute neu konzipiert werden: Vor allem sollte das „one-size-fits-all“-Prinzip verworfen und einer echten Differenzierung im Umgang mit den Partnerländern Priorität gegeben werden. Vor allem aber muss es eine Politik des langen Atems sein in dem Bewusstsein, dass die EU heute in einem völlig anderen internationalen Umfeld agiert als noch vor einigen Jahren. Die Politik Russlands, die Entwicklungen im Nahen Osten, das Scheitern des Arabischen Frühlings sowie die Emanzipation der aufsteigenden Mächte – dies alles zeigt, dass die liberale internationale Ordnung, in der Europa und der Westen einen Anspruch auf die Führungsrolle erheben konnten, so stark wie noch nie in den vergangenen 70 Jahren unter Druck steht.
Nirgendwo ist der Lackmustest der europäischen Transformationskraft wichtiger – und gleichzeitig schwieriger zu bestehen – als im Fall der Ukraine. Es mag nachvollziehbar, wenngleich für die Ukrainer selbst tragisch sein, dass der Westen „für Donezk“ nicht sterben will. Je weniger die EU-Staaten allerdings bereit sind, der Ukraine militärisch beizustehen, desto mehr Standhaftigkeit und Ausdauer müssen sie zeigen, um Moskau auf eine andere Art und Weise die Stirn zu bieten – durch härtere ökonomische Sanktionen sowie eine eindeutige wirtschaftliche und politische Unterstützung der Ukraine und ihrer europäischen Orientierung.
Berlins Bemühungen verdienen Anerkennung
Bisher hat sich die EU erfolgreich um eine gemeinsame Linie gegenüber dem russisch-ukrainischen Konflikt bemüht, auch wenn die EU-Politik klar unter ihrem Potenzial und hinter den Erwartungen vor allem Polens und der baltischen Länder geblieben ist. Die gemeinsame Front der Europäer beginnt aber dann zu bröckeln, wenn die ökonomischen und politischen Folgen der wachsenden Spannungen mit Russland greifbar werden. Das beste Beispiel dafür sind die Schwierigkeiten, einen Konsens über die dritte Runde der Sanktionen zu finden.
Deutschland übernahm in den letzten Monaten de facto die Schlüsselrolle bei der Formulierung der europäischen Antwort auf die Ukraine-Krise und bei der Suche nach einem Konsens innerhalb der EU. Die Bemühungen Berlins, den Konflikt politisch zu lösen, verdienen Anerkennung, selbst wenn sie bisher zu keinen nennenswerten Erfolgen geführt haben. In Polen sind sie allzu oft auf Misstrauen und Kritik gestoßen und galten als Versuch, einen faulen Kompromiss mit Putins Russland auf Kosten der Ukrainer zu erzielen. Gleichzeitig aber sendeten deutsche Politiker Signale, die diese Wahrnehmung nur nähren konnten: Wenn sie etwa, wie Sigmar Gabriel, unbedacht einer Föderalisierung der Ukraine das Wort redeten (dies ist die wichtigste Forderung Putins, die nicht mit einer – ohne Zweifel notwendigen – Dezentralisierung des Staates zu verwechseln ist). Oder wenn sie die Auffassung vertraten, man müsse alles tun, um Moskau nicht zu „provozieren“ (als ob Putin „Provokationen“ brauchte, um seine Politik der Aggression fortzusetzen). Oder wenn sie Maßnahmen einer militärischen Rückversicherung der europäischen Partner wie die Stationierung von Nato-Truppen in Osteuropa schlankweg ablehnten.
Berlin und Warschau auf gefährlich dünnem Eis
In den vergangenen Wochen mehrten sich in der polnischen Presse Meinungsartikel von namhaften Experten und Politikern, die Berlin Illoyalität vorwarfen oder Deutschland gar zu „Putins bestem Verbündeten“ stilisierten. Dass der Krieg zwischen der Ukraine und Russland zu einer Vertrauenskrise zwischen Berlin und Warschau führt, ist für die europäische Außenpolitik fatal. Gewiss, auf der Regierungsebene funktioniert die Zusammenarbeit wesentlich besser, als es die Medienberichte vermuten lassen. Man darf aber die Bedeutung der öffentlichen Meinung nicht unterschätzen. Das deutsch-polnische Verhältnis, nicht zuletzt im Hinblick auf die Ostpolitik, war in den vergangenen Jahren ein Grund für wachsenden Optimismus. Dies lag zum Teil daran, dass die beiden Regierungschefs Angela Merkel und Donald Tusk besonders gut miteinander harmonierten, aber auch an einer genuinen Annäherung der Ansichten und Interessen.
Wird das gute Verhältnis den Abgang Tusks nach Brüssel und die jüngsten Spannungen überstehen? Es ist traurig, dass die beiden Parlamente – der Deutsche Bundestag und der polnische Sejm – in den letzten Monaten so gut wie nichts zur Klärung der Meinungsunterschiede und Missverständnisse beitragen konnten. Somit fußt die deutsch-polnische Verständigung auf dünnem politischen Eis, das angesichts der jüngsten Spannungen leicht brechen kann.
Eine der Lektionen der aktuellen Krise lautet aber auch, dass Polen und Deutschland die europäische Ostpolitik alleine nicht gestalten können. Wollen sie die von ihnen zu Recht geforderte Führungsrolle übernehmen, müssen sie auch auf andere, vor allem auf die südeuropäischen Länder zugehen, die ebenfalls dramatische Sicherheitsprobleme in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft haben – Stichworte: Migration und Terrorismus. Dies wird nicht zuletzt in Polen sehr oft übersehen.
Es muss das Leitmotiv des europäischen Handelns bleiben, dass diejenigen Länder, die europäische Werte teilen und bereit sind, um jeden Preis Teil der europäischen freiheitlichen Ordnung zu werden, auf eine Unterstützung der EU zählen dürfen. Dies liegt im genuinen europäischen Interesse. Das heißt konkret: Selbstverständlich muss eine politische Lösung des Konfliktes um die Ukraine gesucht werden. Diese Lösung darf aber nicht die Zukunft der Ukraine verbauen und dem Westen ein Alibi fürs Nichtstun verschaffen. Das österreichische Modell, und vor allem der Verzicht auf eine Annäherung an die EU, würden genau dazu führen.