Post von Walter
In der Bild-Zeitung darf der Kolumnist Franz-Josef Wagner täglich seine Sicht auf die Welt zum Besten geben. Die „Post von Wagner“ ist zugespitzt, moralisch, vereinfachend. Das ist kein Problem, denn Wagner ist nur Experte für konservative Bauchgefühle. Und auch Bild-Leser wissen: Wo Bild drauf steht, da ist eben Bild drin.
Professor Franz Walter von der Universität Göttingen ist Experte für Politik. Er darf regelmäßig bei Spiegel-Online und in anderen wichtigen Medien seine Analysen über die Entwicklung des deutschen Parteiensystems einer breiten Öffentlichkeit präsentieren. Es ist gut, dass einige Wissenschaftler in der Lage sind, ihre Erkenntnisse für ein größeres Publikum aufzubereiten. Franz Walter hat die Gabe, pointiert zu formulieren und auch Laien komplexe Sachverhalte im Dschungel von Interessen, Parteien, Fraktionen, Meinungen, Stamm- und Wechselwählern nahe zu bringen. Es macht meistens Spaß, seine Analysen zu lesen.
Nun haben aber andere Wissenschaftler in unserer Mediengesellschaft einen Trend entdeckt, den sie als „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ bezeichnen. Auch Politologen können sich diesem Trend offenkundig nicht entziehen. So wie Kapitalisten Geld akkumulieren, sind öffentliche Akteure ständig unter Druck, Aufmerksamkeit anzuhäufen, um diese wiederum zu investieren. Aufmerksamkeit ist die Währung, mit der in der Mediengesellschaft gezahlt wird. Wer viel Aufmerksamkeit auf sich zieht, wird bekannt, wird herumgereicht – und bekommt noch mehr Aufmerksamkeit. Wer nie irgendwo einer breiteren Öffentlichkeit unter die Augen kommt, bleibt unbekannt. Das gilt für Autoren, Schauspieler, Sportler, Politiker und eben auch Wissenschaftler.
Hier kommt nun freilich ein kritischer Faktor ins Spiel. Schauspieler können sich zur Not monatlich eine neue Affäre andichten lassen, um den Massen im Gedächtnis zu bleiben. Für Wissenschaftler scheidet diese Strategie aus. Sie müssen starke Thesen produzieren. Dummerweise ist das politische Geschäft zwar lebendig, aber wiederum auch so träge, dass nicht jede Woche eine neue starke Behauptung aus den eigenen wissenschaftlichen Analysen abgeleitet werden kann. Also wird übertrieben. „Deutschlands schlauester Ökonom“, wie die Bild Hans-Werner Sinn nennt, denkt sich irgendwas von einer „Basarökonomie“ aus. Und Franz Walter zerlegt alle paar Tage aufs Neue die deutschen Parteien.
Abschied von der Volkspartei?
Ende August war in einem fix geschriebenen Beitrag für Internet-Leser mal wieder die Sozialdemokratie dran („Die Fata Morgana der SPD“, in: Spiegel Online vom 30.8.2006). Walters These: Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck wolle die SPD „fit machen für eine Konzentration auf die Mittelschichten“. Damit setze er fort, was Gerhard Schröder begonnen habe: den Abschied der SPD von ihrem Status als Volkspartei.
Wie kommt Franz Walter zu dieser Behauptung? Kurz zuvor hatte Kurt Beck einen Aufsatz zu diesem Thema veröffentlicht („Leistung muss sich wieder lohnen“, in: Welt am Sonntag vom 20.8.2006). Dort diskutierte der SPD-Vorsitzende das Problem des wachsenden Missverhältnisses von Leistung und Gerechtigkeit. Zugespitzt lautete seine Diagnose: „Demnach droht Deutschland in eine dreigeteilte Gesellschaft, eine ‚Dreidrittelgesellschaft‘, zu zerbrechen, in der das Oben und das Unten immer schärfer auseinander treten und gerade auch die Mitte von dauerhafter Verunsicherung betroffen ist.“ Ausdrücklich schrieb Beck über „die Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern der Entwicklung“ und die „zutiefst beschämende Herkunftsabhängigkeit der Bildungschancen in Deutschland“.
Mitnichten traf Beck die Aussage, die SPD wolle sich auf die Mittelschichten konzentrieren. Vielmehr sprach er zwei Probleme an: die Entkoppelung eines „unteren“ Teils der Gesellschaft sowie die „neuen Unsicherheiten“ in der „Mitte“ der Gesellschaft. In beiden Gruppen gibt es nämlich ein Besorgnis erregendes Empfinden: dass Leistung nicht mehr zu einer angemessenen Teilhabe führt beziehungsweise gar nicht erst die Chancen dafür existieren, Leistung zu erbringen.
Wissenschaft und Häppchen
Nun kann es natürlich sein, dass Franz Walter diesen Text gar nicht gelesen hat, sondern nur Agenturmeldungen, in denen die eine oder andere Aussage als Häppchen gereicht wurde. Nur gehören Häppchen zur Arbeit von Journalisten im Tagesgeschäft und – anders als Originalquellen – nicht zur Arbeit von Wissenschaftlern.
Aber Walter will die vermeintliche Positionierung Kurt Becks ja auch nur als Beleg für eine Entwicklung verstanden wissen, die er schon seit längerem diagnostiziert: den Abschied der SPD von der Arbeiterklasse. Sehen wir uns auch hier mal die Faktenlage an, zum Beispiel bei der jüngsten Landtagswahl in Rheinland-Pfalz, wo Kurt Beck als Ministerpräsident bestätigt wurde. Die SPD holte bei Arbeitern 50 Prozent, bei den einfachen Bildungsgruppen 50 Prozent, bei Arbeitslosen 44 Prozent und bei Gewerkschaftsmitgliedern 62 Prozent der Stimmen. Ja, die SPD hat in manchen (nicht allen) dieser Gruppen verloren. Und natürlich ist es auch in Rheinland-Pfalz der neuen Linkspartei beziehungsweise der WASG gelungen, enttäuschte Wähler auf ihre Seite zu ziehen. Aber auf einen „Abschied von den Arbeitern“ lassen diese Daten nicht schließen.
Auch ist die soziologische Sicht auf die Gesellschaft, die Walters Einschätzungen zugrunde liegt, bestenfalls eine Karikatur. Das Zerrbild einer verarmten und frustrierten Arbeiterklasse ganz unten und einer gut situierten Mittelschicht der sozialen Aufsteiger hat mit der Realität wenig zu tun. Das Bild der Dreidrittelgesellschaft ist besser geeignet, um die soziale Realität im Jahr 2006 zu erfassen.
Das fängt schon beim Begriff der „Arbeiter“ an. Wen meint Franz Walter? Den ungelernten Gelegenheitsarbeiter ohne Schulabschluss? Den Industriefacharbeiter mit Einfamilienhaus und guter Betriebsrente? Die alleinerziehende Supermarktkassiererin? Und wer sind die „Aufsteiger“? Der Arztsohn, der als Investmentbanker nun Papas Einkommen locker verdoppelt? Die Ingenieurin, die als erste in ihrer Familie eine Universität von innen gesehen hat? Die ehemalige Verkäuferin, die sich nun mit einem Fingernagelstudio selbständig gemacht hat? Oder gibt es vielleicht auch aufsteigende Arbeiter? Wer schon einmal die leuchtenden Augen eines Opel-Arbeiters gesehen hat, der Familie und Freunden erzählen kann, im Betrieb befördert und nun für sein Team verantwortlich zu sein, der weiß, warum ganz normale Menschen „Leistungsträger“ sind.
Verunsicherung im Wandel
Eine aktuelle Analyse der Friedrich-Ebert-Stiftung teilt die bundesdeutsche Wahlbevölkerung in neun Grundtypen ein, die sich gleichen in ihrer Sicht auf die Gesellschaft, ihrer Lebenssituation und ihren Erwartungen an Politik. In ihrer Gesamtheit sind die Deutschen verunsichert gegenüber dem gesellschaftlichen Wandel, und sie haben ein starkes Orientierungs- und Sicherheitsbedürfnis: 63 Prozent geben an, dass ihnen die gesellschaftlichen Veränderungen Angst machen, 52 Prozent fühlen sich „orientierungslos“, 46 Prozent empfinden ihr Leben als „ständigen Kampf“.
Anhand der Typologie wird dann deutlich, dass die untere Mitte viel stärker verunsichert ist als die obere Mitte. Doch auch in der unteren Mitte – ob nun religiös oder atheistisch, konservativ-ländlich oder sozialdemokratisch-kleinstädtisch – ist „Leistung gegen Teilhabe“ der gemeinsame Kern. Die untere Mitte will Leistung erbringen und präferiert eine offene Gesellschaft, die dem Leistungsprinzip folgt. Der Staat soll dabei gleiche Chancen ermöglichen und Regeln durchsetzen. Die obere Mitte hingegen ist gespalten: Die „Leistungsindividualisten“ wollen weniger Staat und weniger Solidarität; die eher linksliberalen „kritischen Bildungsbürger“ sind nicht unbedingt für mehr Staat, aber für einen besseren Staat und vor allem für mehr Solidarität.
Was genau meint Walter?
„Exklusion“, wie es die Soziologen nennen, ist keineswegs nur ein Problem der Unterschicht. Größere Teile der Gesellschaft sehen sich davon bedroht, an der Gesellschaft nicht mehr teilhaben zu können. Niedrigeinkommen, gebrochene Erwerbsbiografien, fehlende Aufstiegsmöglichkeiten – diese Themen beschäftigen auch die so genannte Mitte. Neue Unsicherheiten gehören heute zur sozialen Realität vieler Menschen. Natürlich existiert auch eine „neue Unterschicht“, die nicht nur Franz Walter immer wieder anspricht. Es wäre töricht, die Augen zu verschließen vor dem „abgekoppelten Prekariat“, das in vielerlei Hinsicht an dieser Gesellschaft nicht mehr beteiligt ist und sich frustriert von den Volksparteien abwendet. Nach unseren Analysen liegt der Anteil dieser Gruppe an der Wahlbevölkerung bei etwa acht Prozent.
Nun behauptet Franz Walter, die SPD habe diesen Schichten mit ihrer Politik „nicht eine einzige Chance eröffnet“. Was genau meint er damit? Die traditionelle Strategie der Sozialpolitik, diese Gruppe mit – wenn auch sehr knapp bemessenen – Transferzahlungen ruhig zu stellen, ist offenkundig gescheitert. Es kann kein sozialdemokratisches Ziel sein, der zweiten Sozialhilfegenerationen in diesen Familien eine dritte folgen zu lassen.
Auch wahlstrategisch wäre eine ausschließliche Hinwendung auf diese „neuen Unterschichten“ – die zudem schwer bis gar nicht zu erreichen sind – ziemlich unklug. Populistische Strategien von Lafontaine bis NPD zeigen zwar, dass Teile dieser Gruppen für einfache Sprüche zu haben sind. Aber für jeden Wähler, den die SPD so gewinnen würde, verlöre sie zwei andere.
Dennoch muss die SPD die konkreten sozialen Interessen des „neuen Unten“ vertreten, und zwar mit einer Politik, die echte Teilhabe- und Aufstiegschancen schafft. Wir brauchen mehr Wachstum, mehr Arbeitsplätze, bessere Bildung und bessere Förderung. Machbar ist dies nur mit einem gesellschaftlichen Bündnis: Die so genannten Leistungsträger müssen bereit sein, Steuern zu zahlen, damit der Staat den ausgegrenzten Teilen der Bevölkerung die soziale Teilhabe ermöglichen kann. Kurzfristig mit Transfers, vor allem aber langfristig mit besserer Bildung und Arbeitsförderung.
Die SPD muss also weiter die Interessen der sozial Schwachen, der ganz normalen Mitte mit ihren alten und neuen Unsicherheiten sowie der solidarischen Teile der „besseren Schichten“ bündeln. Zugegeben, es ist kompliziert, im 21. Jahrhundert Volkspartei zu sein, und die SPD ist für jeden ernst gemeinten Rat offen. Unbestritten ist auch, dass die SPD derzeit noch einige Hausaufgaben zu erledigen hat, wenn sie ein solches Bündnis schmieden will. Auch die Politikwissenschaft hat hier sicher gute Ratschläge parat.
Im Kulturbereich unterscheidet man zwischen E -Musik und U-Musik. Die eine zielt auf Ernsthaftigkeit und Qualität, die andere auf Unterhaltung. Selbst Top-Musiker müssen einen Kompromiss machen zwischen ihrem Qualitätsanspruch und medientauglicher Vermarktungsfähigkeit, also Quote. Die hoch getaktete politikwissenschaftliche Massenwurfsendung „Post von Walter“ scheint sich mit einem ähnlichen Dilemma herumzuschlagen.