Prekariat und Arbeitsmarkt



Es ist nicht vorauszusagen, zu welchem Beschäftigungsgrad der demografische Wandel führen wird. Fest steht nur, dass weniger Nachwuchs nicht automatisch wieder zu Vollbeschäftigung führt. Nein, der Arbeitsmarkt wird eine große politische Herausforderung bleiben. Ein Grundsatzprogramm muss daher eine realistische Einschätzung der Entwicklung des Arbeitsmarktes widerspiegeln und bestehende Trends weiterdenken.

Ein großer Trend des deutschen Arbeitsmarktes ist die Ausdifferenzierung in Gewinner und Verlierer. Auf dieser Baustelle hat die SPD auch schon manches getan. In der rot-grünen Bundesregierung hat sie Alternativen zum Normalarbeitsverhältnis gefördert, etwa mit den Hartz-Gesetzen. Doch in den Dokumenten, die das neue Grundsatzprogramm der SPD vorbereiten sollen, kommt das Bewusstsein für die Insider-Outsider-Problematik kaum zum Ausdruck. Stattdessen schimmert an vielen Stellen eine Haltung durch, die nur zwischen Arbeitslosen und Arbeitnehmern unterscheidet.1 In dieser Logik sind für das Wohl der Arbeitnehmer allein die Gewerkschaften zuständig. Nirgendwo findet sich der Hinweis, dass bereits ein Drittel der Erwerbstätigen in so genannten atypischen Beschäftigungsverhältnissen steht, wo oft weder Betriebsrat noch Gewerkschaft für sie zuständig sind.2

Genau genommen ist die Gruppe der Menschen mit Normalarbeitsverhältnis (unbefristet, sozialversicherungspflichtig, Kündigungsschutz) eine unter vielen Interessengruppen der Arbeitsgesellschaft geworden. Nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ging die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zwischen 1991 und 2005 um 13 Prozent zurück, von 30 auf gut 26 Millionen Menschen. Reguläre Stellen werden zunehmend durch Minijobs ersetzt. Das Proletariat ist verschwunden und ein unauffälliges „Prekariat“ an seine Stelle gerückt.3 Gemeint ist die wachsende Zahl der Arbeitenden, die ihr Geld nicht in festen Jobs verdienen und kaum sozial abgesichert sind: Leiharbeiter, Beschäftigte mit befristeten Stellen, Minijobber, Ich-AGs, Honorarkräfte, freie Mitarbeiter, Ein-Euro-Jobber sowie alle, die unfreiwillig in Teilzeit arbeiten.

Klientelpartei der Luxusarbeitnehmer?

Die Politik kann natürlich mithilfe kluger Wirtschaftspolitik versuchen, die Zahl der „Luxus-Beschäftigungsverhältnisse“ (unbefristet, sozialversicherungspflichtig, Kündigungsschutz) zu erhöhen. Zwingen kann sie die Unternehmen aber zu nichts. Deshalb kommt sie nicht umhin, Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen vor dem sozialen Abstieg zu schützen, damit sie nicht immer weiter nach unten abrutschen und schließlich auch ihren Kindern wiederum weniger Zukunftschancen zu bieten haben. Wie kann es beispielsweise sein, dass nur die gesetzlich sozialversicherten Arbeitnehmer die staatlich subventionierte private Altersvorsorge („Riester-Rente“) in Anspruch nehmen können – nicht aber die prekär Beschäftigten, die sie viel nötiger hätten?

Um Wohlstand, Lebensstandard und Kultur der Gesellschaft zu erhalten, muss die Politik in Zukunft die größtmögliche Teilhabe aller an angemessen bezahlter Erwerbstätigkeit organisieren. Bei diesem Thema verharren die Leitsätze der SPD zum neuen Grundsatzprogramm im Ungefähren und Allgemeinen. Sie beschreiben lieber wortgewaltig den Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft. Aber was folgt daraus? Schlussfolgerungen für eine progressive sozialdemokratische Politik hat Frank-Walter Steinmeier bereits im Jahr 2004 formuliert: Investitionen in Bildung, Frühförderung, Familie, Forschung und Zukunftstechnologien.4

Die Leitsätze mit ihren Schlagworten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind zu oberflächlich, die SPD drückt sich um das Wie. Stattdessen formuliert die Partei unrealistische, sogar widersprüchliche Wunschbilder einer Gesellschaft, ohne das Wechselverhältnis von Vollbeschäftigung, Gleichberechtigung, Familienfreundlichkeit, Teilhabe aller am Wohlstand zu diskutieren. Die wachsende neue Armut und die soziale Exklusion bildungsferner Schichten fehlen. Der drohende Wohlstandsverlust aufgrund aufstrebender Wachstumsmärkte in Asien fehlt. Der mögliche Abschied vom reinen Wachstumsdenken fehlt. Das Problem des Brain Drain fehlt.

Geradezu erschreckend ist jedoch, dass diese Partei, deren Gründungsanlass der Arbeitsmarkt war, die neuen Realitäten des Arbeitsmarktes weder benennt noch eine zeitgemäße Haltung dazu entwickelt. In Deutschland lassen sich die Menschen im erwerbstätigen Alter heute in mehrere Klassen unterteilen, die sehr unterschiedlich privilegiert sind. In Berlin beispielsweise arbeiten gerade noch 40 Prozent aller Erwerbstätigen in Normalarbeitsverhältnissen. Die SPD muss aufpassen, dass sie nicht zur Klientelpartei der Luxus-Arbeitnehmer und Gewerkschaftsmitglieder verkommt.

Aus dieser Analyse ergeben sich heikle Fragen, vor denen sich die SPD bisher drückt: Kann die Privilegierung der unbefristet Beschäftigten mit ihrem totalen Kündigungsschutz angesichts der Individualisierung des Arbeitsmarktes und der neuen Erwerbsbiografien aufrecht erhalten werden? Schon heute kommen die Jungen nach der Ausbildung überwiegend in befristeten oder atypischen Arbeitsverhältnissen unter – und stehen dann im Betrieb einer gut geschützten, hermetisch abgeriegelten Gruppe von Unkündbaren gegenüber. In der SPD scheint es jedoch ein absolutes Tabu zu sein, den Kündigungsschutz auch nur einmal zu diskutieren. Dabei würde dessen Lockerung, wenn auch nicht unbedingt zu mehr Arbeitsplätzen, so doch zu mehr Durchlässigkeit zwischen beiden Gruppen führen – und für mehr horizontale Gerechtigkeit unter den Erwerbstätigen sorgen. Außerdem: Hält der Kündigungsschutz Menschen nicht davon ab, Arbeitsplätze zu wechseln? Behindert er somit nicht Dynamik und frischen Wind? Wer tauscht schon einen unbefristeten Arbeitsplatz gegen einen befristeten, selbst wenn er mit seiner Arbeit unzufrieden ist?

Warum „Flexicurity“ gerechter ist

Immerhin schneiden die Leitsätze die Frage an, ob der Staat seine Mittel nicht auf Übergänge zwischen Arbeitsverhältnissen konzentrieren sollte, anstatt Arbeitslose auf lange Sicht zu alimentieren. In Dänemark etwa existiert kein Kündigungsschutz, dafür ist das Arbeitslosengeld zunächst fast so hoch wie das vorige Gehalt, hinzu kommen effektive, individuell maßgeschneiderte Angebote der Vermittlung und Qualifizierung. Im Ergebnis haben die Menschen in Dänemark – ohne Kündigungsschutz! – weniger Angst vor dem Arbeitsplatzverlust oder -wechsel. Das dänische Prinzip der „Flexicurity“, begründet vom sozialdemokratischen Premier Poul Nyrup Rasmussen, ist sozial gerechter als das deutsche, weil es das Insider-Outsider-Problem zu lösen versucht. Um dieses Thema darf sich kein sozialdemokratisches Grundsatzprogramm für das 21. Jahrhundert herumdrücken.

Zudem muss sich die SPD mehr über die Selbständigen Gedanken machen. Wie entsteht eine Kultur der Selbständigkeit? Wie kann man Selbständige besser absichern und fördern (zum Beispiel mit staatlichen Krediten)? Völlig zu Recht fordert der Musikunternehmer Tim Renner von der SPD ein klares Bekenntnis zur neuen Creative Class (Richard Florida), die sich zum Wirtschaftsmotor entwickelt hat und gekennzeichnet ist durch kleinteilige und flexible Arbeitsstrukturen.5
Wer die neue deutsche Arbeitswelt im 21. Jahrhundert nicht zur Kenntnis nimmt, bekommt Schwierigkeiten auch auf etlichen anderen Politikfeldern. So sind etwa die atypischen Beschäftigungsverhältnisse ein Grund für die Kinderlosigkeit in Deutschland. Nur wer sich sicher fühlt, entscheidet sich für Kinder. Wie also entsteht für die Menschen im Alter zwischen 30 und 40 wieder mehr Sicherheit?

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts können im Ernst nicht mehr die ganz großen Begriffe wie „Soziale Marktwirtschaft“, „Kapitalismus“, „Sozialismus“ oder „Gleichberechtigung“ zur Debatte stehen. Wer Menschen tatsächlich helfen will, ihr Leben zu leben, dem muss es um die Details gehen, um das konkrete Wie. Freiheit und Gerechtigkeit müssen permanent neu ausgehandelt werden, und sie erfordern mitunter Antworten, die in den nationalstaatlich regulierbaren, industriell geprägten Arbeitsmärkten des 20. Jahrhunderts vielleicht äußerst ungerecht gewesen wären. Diese Erkenntnis anzunehmen wäre für die SPD ein echter Modernisierungsschub.

Anmerkungen
1 Vgl. Leitantrag des SPD Parteivorstandes vom 24. April 2006: Wir sichern Deutschlands Zukunft, Kapitel 3, „Arbeitnehmerrechte sichern“.
2 Vgl. Berndt Keller und Hartmut Seifert, Atypical Employment and Flexicurity, in: Management Revue 16 (2005) 3, S. 304-323.
3 Vgl. Elisabeth Niejahr, Kollegen zweiter Klasse – Immer weniger Vollzeitjobs, immer mehr Leiharbeiter und Kleinselbstständige: Der Arbeitsmarkt zerfällt in zwei Klassen – und der Sozialstaat unterstützt nur die Privilegierten, in: Die Zeit vom 2. März 2006.
4 Frank-Walter Steinmeier, Aufbruch in Deutschland, in: Matthias Machnig und Frank-Walter Steinmeier (Hrsg.), Made in Germany 21, Hamburg 2004, S. 15-26.
5 Tim Renner, Statement anlässlich des SPD-Programmkongresses am 24. April 2006 in Berlin, http://programmdebatte.spd.de/

zurück zur Person