Rolltreppen in Berlin
Zum Ankommen am „Lehrter“ gehört der Abtransport. Dieser kann sich auf mancherlei Art und Weise vollziehen. Achtung, hier lauern erste Abgründe! Ich zitiere: „Fahrstuhl, Aufzug oder Lift? – schon allein diese Frage lässt bei Aufzugstechnikern und Branchenexperten Emotionen hochkommen. Der Fahrstuhl – in der Fachwelt ein verpönter Begriff – ist sowohl in der Alltagssprache als auch im Wirtschaftsteil der Tageszeitungen eine geläufige und unverdächtige Bezeichnung für das vertikale Fortbewegungsmittel.“ In einer einschlägigen Branchenstudie (bei Interesse: IMU Institut 2007) wird durchweg der Fachbegriff Aufzug verwendet, dasselbe gilt für die Fahrtreppe (anstelle des umgangssprachlichen Begriffs Rolltreppe).
Also Fahrtreppen. Es gibt auch konventionelle Treppen, die aber werden nur von Einheimischen genutzt. Und auch nur von solchen, die Ihnen bei der Frage nach dem Sinn von „Lehrter“ in die Augen schauen, als sei einer von Ihnen ein Taxifahrer.
Ob Sie es glauben oder nicht: 78 Prozent aller Deutschen, aller Einwohner Deutschlands, aller hier Ansässigen, aller Bewohner (Gruß an den Gabriel schon mal vorab), 78 Prozent all dieser Typen wohnen in Gegenden ohne Rolltreppen. Und so benehmen sie sich auch: Vor der Fahrtreppe bleibt der Mensch ausführlich stehen, um sich in Ruhe einen Überblick zu verschaffen, wo das Ding hinführt und was an dessen Ende für Gefahren lauern könnten. Beim Entern derselben werden ein gutes Dutzend Stufen als des Betretens unwürdig verworfen. Die Gründe dafür sind vielgestaltig: Geschwindigkeit, Verschmutzung, Unregelmäßigkeiten im Gesamtambiente und an vorderster Stelle: der überraschende Verlauf. Rund 56 Prozent aller Zögernden haben unmittelbar vor dem Betreten der Stufen das überstarke Gefühl, doch eher gegen die Fahrtrichtung nach unten beziehungsweise oben zu wollen beziehungsweise zu sollen. Ganz abgesehen von den Gepäcktragenden. Die Majorität unter ihnen scheint sich im Trainingslager für den Berliner Taxischein zu befinden.
Ist die Treppe schlussendlich errungen, droht die Weiterfahrt. Hier handelt der Berlin-Besucher zu 62 Prozent gegen den Grundsatz „Rechts stehen, links gehen.“ Morgens sind es 95 Prozent, abends 99 Prozent. Der statistisch ausgleichende Rest muss sich dazwischen oder bei nächtlichem Stillstand abspielen. In der Hausordnung der Bahn wird darauf explizit hingewiesen: „Gehen Sie auf Treppen immer möglichst weit rechts; auf Fahrtreppen rechts stehen.“ Wie lange lässt sich der Grube das noch gefallen?
Am Ende der Rollerei kommt der Ebenenwechsel zu seinem vorläufigen Ende. Die Bewegung der Ebenenwechsler auch. Dort angekommen, wird sich gestaut, umgeschaut, wird verweilt und gezögert. Der 78-Prozent-Besucher muss sich just in diesem Augenblick über das soeben Erlebte, Durchlittene austauschen – sei es mit sich selbst oder mit anderen. Muss stehen bleiben. Nicht mehr die große Geschichte des Ankommens spielt an diesem Punkt eine Rolle, nicht die damit verbundenen Pläne und Vorhaben, das Perspektivische oder Ganze oder die offene Zukunft stehen hier auf dem Absatz, nein, es ist das plötzliche und unverhoffte Erreichthaben eines unendlich bedeutenden Zwischenzieles, dessen Eindrücklichkeit für den Moment alles andere in den Hintergrund zu drängen scheint. Und damit beginnt ein Gedrängel ganz anderer Art, siehe unten.
Wie schön aber könnte die Welt sein – mit der Europäischen Norm 115:
„Folgende Gebots- und Verbotszeichen für den Benutzer müssen in der Nähe der Zugänge angebracht sein: a) Kleinkinder festhalten; b) Hunde müssen getragen werden;
c) Handlauf benutzen; d) Kinderwagen verboten. Zusätzliche Hinweise können aufgrund örtlicher Bedingungen erforderlich werden, z. B. ‚Benutzung nur mit Schuhwerk gestattet‘; e) Keine sperrigen und schweren Lasten transportieren.“
Stellen Sie sich vor: Blagen und Hunde auf dem Arm, Kinderwagen gar nicht dabei, rechts stehen, richtige Schuhe an den Füßen, alle Hände am Lauf, Gepäckstücke in der dafür vorgesehenen Aufbewahrung: das rollende Paradies! Wenn dann noch die Idioten unten wie oben die Stauerei lassen, kann ich die Taxifahrer glatt noch ertragen.